# taz.de -- 80 Jahre Wiederaufbau von Warschau: Zwei Gegenspieler für die Idealstadt
       
       > Vor 80 Jahren wurde das zerstörte Zentrum Warschaus wiederaufgebaut – als
       > sozialistische Musterstadt und rekonstruierte Altstadt, ohne jüdisches
       > Leben.
       
 (IMG) Bild: Sieht historisch aus, ist aber Neubau: Warschaus Altstadt mit Sigismundsäule
       
       Mit flottem Schritt geht der Architekt Jan Zachwatowicz zwischen dem grünen
       Stadtgraben und der roten Ziegelstein-Stadtmauer aus dem Mittelalter auf
       das Warschauer Königsschloss zu. Er trägt einen Anzug und einen Kurzmantel.
       Doch ansprechen kann man den schon zu Lebzeiten berühmten „Vater des
       Wiederaufbaus der Warschauer Altstadt“ nicht, denn die 1,90 Meter hohe
       Figur ist aus Bonze. Sie stammt aus der Werkstatt des Krakauer Bildhauers
       Karol Badyna.
       
       Ohne Zachwatowicz gäbe es heute weder die Warschauer Altstadt und das
       Königsschloss aus dem Mittelalter noch viele andere Gebäude, die die
       Deutschen im Zweiten Weltkrieg zerstörten, um die Identität der polnischen
       Nation auszulöschen. Der Naziideologie zufolge sollten die Polen den
       Deutschen als kulturloses Helotenvolk dienen – ohne eigenen Staat und
       eigene Kultur. In diesem Jahr – 2025 – feiern die Polen 80 Jahre Beginn des
       Wiederaufbaus ihrer Hauptstadt.
       
       Keine fünf Kilometer von der Warschauer Altstadt entfernt erstreckt sich
       das MDM, wie die Polen die „Marschall (Pilsudski)-Wohnsiedlung“ meist
       abkürzen. Zwischen dieser völlig neu gebauten sozialistischen Musterstadt
       und der wiederaufgebauten Altstadt ragt noch der überdimensional
       erscheinende Palast der Kultur und Wissenschaft in den Himmel, [1][das
       verhasste „Geschenk“ Josef Stalins an das „Brudervolk der Polen]“. Für den
       Bau musste nicht nur ein Bahnhof weichen. Vielmehr wurden Hunderte
       Mietshäuser gesprengt, die den Krieg überstanden hatten und mit geringem
       Aufwand wieder hätten hergerichtet werden können. Mit dem Kulturpalast
       verlor Warschau sein einstiges Stadtzentrum.
       
       Dennoch wird auf dem Verfassungsplatz, zwei Straßenbahnstationen weiter und
       mitten im Herzen des MDM, irgendwann ein Gegenstück zur
       Zachwatowicz-Bronzefigur stehen. Denn Józef Sigalin war als Vertreter der
       „Wir bauen alles neu“-Architektenschule der Gegenspieler des konservativen
       Zachwatowicz. Nach seiner Rückkehr aus der Sowjetunion, wohin er als
       polnischer Jude vor den Nazis geflohen war, hatte Sigalin 1946 bei
       Zachwatowicz promoviert. Später stieg er zum Chefarchitekten der Stadt auf
       und nutzte seine vielfältigen Kontakte im Parteiapparat der Kommunisten, um
       auch die Altstadtprojekte von Zachwatowicz voranzutreiben.
       
       ## Sigalins Name war verpönt
       
       Aufgrund der schwierigen Stalinzeit in Polen war es lange verpönt, auch nur
       den Namen Sigalins zu erwähnen. Doch das ändert sich seit einigen Jahren.
       Die Wohnungen im MDM-Viertel sind heute begehrt. Sie sind anders als die
       Plattenbauten der späteren Jahre solide gebaut, und auch die Ästhetik des
       am Klassizismus orientierten Sozrealismus wird heute milder beurteilt und
       zum Teil sogar geschätzt.
       
       Mit der Entscheidung der kommunistischen Partei, Warschau als Hauptstadt
       wiederaufzubauen, setzten schließlich beide Architektenschulen ihre Vision
       durch, einerseits, um Stalin zufriedenzustellen, andererseits um die
       Nationalität Polens nach Hitlers Vernichtung wieder sichtbar zu machen.
       
       Ende 1944 glich das Warschauer Stadtzentrum links der Weichsel einer
       gigantischen Trümmerwüste. Es war zu 70 Prozent zerstört. Nach den beiden
       blutig niedergeschlagenen Aufständen – dem Warschauer Ghettoaufstand 1943
       [2][und dem Warschauer Aufstand 1944] – gab Hitler den Befehl, die
       Hauptstadt Polens dem Erdboden gleichzumachen. Daraufhin sprengten
       Spezialtruppen drei Monate lang Straße für Straße, Haus für Haus, setzten
       Flammenwerfer ein und fackelten die verbliebenen Bibliotheken, Archive und
       Kunstsammlungen ab.
       
       Als die Rote Armee im Januar 1945 über die Weichsel übersetzte, war das
       Warschauer Zentrum wie tot. Die kommunistischen Politiker, die sich als
       neue Macht in Polen etablierten, erwogen daher zunächst, die Hauptstadt
       Polens in die alte Königsstadt Krakau oder in die Industriemetropole Lodz
       zu verlegen. Beide hatten die deutsche Besatzung unzerstört überstanden.
       
       ## Enteignungen für die „neue Stadt“
       
       Doch dann kamen immer mehr Warschauer zurück in die Stadt und begannen,
       ihre Häuser oder Geschäfte aus eigener Kraft wiederzuerrichten. Das gab den
       Ausschlag. Schon im Februar 1945 nahm das Büro für den Wiederaufbau (BOS)
       seine Arbeit im Stadtteil Mokotów auf. Mit dem „Bierut-Dekret“ vom 25.
       Oktober 1945 wurden alle Immobilienbesitzer in Warschau enteignet. Die
       „neue Stadt“ brauchte Platz für breite und repräsentative Straßen, oft
       wurden ganze Straßenzüge neu gebaut – da störten stehengebliebene Häuser
       nur.
       
       Abgetragen wurden aus ideologischen Gründen auch fast alle Häuser aus dem
       19. Jahrhundert. Insbesondere der Jugendstil galt den Kommunisten als
       dekadent und zu „bourgeois“ für den zu errichtenden Arbeiter- und
       Bauernstaat. Zachwatowicz konnte nur wenige dieser Gebäude retten.
       
       Für das [3][Gebiet des ehemaligen Warschauer Ghettos], das die Nazis im
       November 1940 errichtet hatten, um dort bis zu 500.000 Juden einzupferchen,
       sah der erste Sechs-Jahres-Plan der Volksrepublik keinen Wiederaufbau vor.
       Dass rund 95 Prozent aller polnischen Juden im Holocaust ermordet worden
       waren, wurde von vielen verdrängt. Anders als in anderen Stadtteilen wurden
       hier auch die Trümmer nicht abtransportiert, sondern nur eingeebnet, mit
       breiten Verkehrsschneisen durchschnitten, und mit gigantischen, kühl
       modernistischen „Schränken“ überbaut, wie der Volksmund die Wohnsilos bis
       heute nennt.
       
       In den letzten 30 Jahren wiederum, mit der Einführung der freien
       Marktwirtschaft, entstand hier Warschaus neue City, ein Finanz- und
       Geschäftsviertel mit glitzernden Glas- und Stahltürmen. Die neue Skyline
       Warschaus steht zum größten Teil auf dem Gebiet des ehemaligen Ghettos.
       
       Die von den Nazis in Schutt und Asche gelegte Warschauer Altstadt aus dem
       13. und 14. Jahrhundert hingegen wurde von Zachwatowicz und seinen Leuten
       mit großem Aufwand rekonstruiert, wie auch die beiden Flaniermeilen mit den
       imposanten Bürgerhäusern, Krakauer Vorstadt und Neue Welt bis zum
       Drei-Kreuz-Platz. Allerdings nicht originalgetreu. Wann immer möglich
       wählte Zachwatowicz für die nunmehr modern ausgestatteten Bauten den
       früheren Baustil des Barock oder Klassizismus, für ursprünglich höhere
       Gebäude eine niedrige und einheitliche Traufhöhe.
       
       ## Ideologie an der Fassade
       
       Ganz ohne Ideologie ging das nicht: Die Kommunisten forderten, dass die
       christlichen Heiligenfiguren an den einstigen Fassaden durch Götter der
       Antike zu ersetzen waren. Statt der heiligen Maria schützt nun
       beispielsweise Diana, die römische Göttin der Jagd, ein Haus. Den
       Baumaterialien des Mittelalters – Ziegel und Holz – blieb man allerdings
       treu.
       
       Da es nur wenige Schwarz-Weiß-Fotos aus der Vorkriegszeit gab, griff
       Zachwatowicz auf die Veduten des königlichen Malers und Venezianers
       Canaletto aus dem 18. Jahrhundert zurück, ließ die Farben auf den
       Ölgemälden erneut anrühren und damit die Fassaden der neuen Altstadthäuser
       streichen. 1980 wurde Warschaus Altstadt auf die Unesco-Weltkulturliste
       aufgenommen. Bis heute trägt sie als einzige den Titel „wiederaufgebaute
       Altstadt“.
       
       Heute streitet man in Warschau darüber, ob weitere Prunkgebäude und
       Adelspaläste rekonstruiert werden sollen, oder weniger repräsentative,
       dafür historische bedeutsame Gebäude aus dem früheren jüdischen Viertel im
       Stadtteil Wola. Im August 2021 bekam das Sächsische Palais am
       Pilsudski-Platz den offiziellen Zuschlag, ebenso das Palais Brühl und drei
       elegante Mietshäuser an der ul. Królewska, der Königlichen Straße.
       
       Hauptbefürworter und Initiator des Wiederaufbaus dieses „deutschen
       Komplexes“, der an die Zeit der sächsischen Könige August des Starken und
       dessen Sohn August III. auf dem polnischen Thron erinnern soll, war die
       rechtspopulistische PiS-Partei. Sie wollte dem Wunsch vieler Warschauer
       nach historisch bedeutsamen Gebäuden im einst zerstörten Stadtzentrum
       entgegenkommen, kündigte aber auch bereits an, den Deutschen dann eine
       Rechnung in Millionenhöhe schicken zu wollen. Das Wiederaufbauprojekt läuft
       nach wie vor, die neue Mitte-links-Koalition in Polen hat es nicht
       gestoppt.
       
       ## Neue Sichtbarkeit des jüdischen Lebens
       
       Auch im ehemaligen Ghetto sollen dank Stadtaktivisten und engagierter
       Warschauer Bürger drei fast zerstörte Mietshäuser wiederaufgebaut werden.
       In der ul. Waliców 10, 12 und 14 wohnten namhafte jüdische Intellektuelle,
       etwa der Satiriker und Schauspieler Maurycy Szlengel oder der
       Schriftsteller Bruno Szulberg. Einziehen soll hier in Zukunft die Stiftung
       Auschwitz-Birkenau. Die Bauarbeiten begannen bereits im Sommer 2025.
       
       Der Wiederaufbau Warschaus dauert bis heute an. Mit dem Erhalt und der
       Rekonstruktion erster Gebäude im einstigen jüdischen Viertel wird nun auch
       sein multiethnisches Erbe wieder sichtbar. Immerhin war vor 1939 jeder
       dritte Warschauer eine Jüdin oder ein Jude.
       
       24 Dec 2025
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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