# taz.de -- ADHS und Barrieren: Ein Tunnel durch den Bullshit
> ADHSler haben kein fehlerhaftes Gehirn, im Gegenteil: Ihre Besonderheiten
> können nützlich für die Gesellschaft sein – wenn wir endlich die
> Barrieren abbauen.
(IMG) Bild: „Aufräumen ist für Weicheier!“
ADHS zu haben, hat Vorteile: Uns ist nie langweilig, denn in unserem Kopf
laufen immer mehrere Filme gleichzeitig. Mindestens einer davon ist eine
Komödie. Wir checken die Menschen um uns herum schneller, als die ihren
Namen sagen können. Und wir finden aus jeder Sackgasse einen Weg, notfalls
durch einen Tunnel.
Das alles hat aber auch eine dunkle Seite: Nie Ruhe im Kopf zu haben, ist
ultraanstrengend. Denn es laufen eben auch Melodramen und Horrorfilme
darin. Der Tunnel wird eh nie fertiggestellt, weil graben langweilig ist –
und dann können wir das nicht. Und auch wenn wir jede Menge Empathie für
andere aufbringen: Für unsere eigenen Defizite haben wir trotzdem oft kein
Verständnis.
Anders als das D für Defizit in ADHS vermuten lässt, ist die Funktionsweise
unseres Gehirns laut Forscher:innen aber keine Fehlentwicklung. Sondern
hat sich evolutionär an Bedürfnisse bestimmter Gesellschaften angepasst,
[1][etwa an die nomadischer Völker.] Die hohe Ablenkbarkeit – in der Schule
ein Problem – ist in anderem Kontext lebensrettend. Denn auf jedes kleine
Geräusch zu reagieren, könnte in einer Jäger-und-Sammler-Kultur einen
fetten Hasenbraten mehr zum Abendessen oder einen entscheidenden Vorsprung
vor dem Säbelzahntiger bedeutet haben.
Aber nicht nur die biochemischen Gegebenheiten in unserem Gehirn sind
verantwortlich für unsere Stärken und Schwächen. Wenn man in einem System
aufwächst, das nicht für einen gemacht ist, kennt man mehrere Perspektiven.
So wie Menschen nichtdeutscher Herkunft. Oder Linkshänder:innen. Oder
Frauen. Die eigene Wahrnehmung wird nur von einer bestimmten Gruppe
verstanden. Um sich auch außerhalb dieser Gruppe zu orientieren, muss man
die Codes der Mehrheitsgesellschaft kennen.
Das allein reicht aber oft nicht. ADHSler sollen nicht nur wissen, wie die
neurotypische Norm tickt, wir sollen uns daran anpassen, am liebsten so
werden wie sie. „Mach dir eine To-do-Liste und arbeite deine Aufgaben
nacheinander ab.“ „Sitz still und regungslos da, solange der Lehrer etwas
erklärt.“ „Lass die Leute ausreden. Wenn du mitten im Gespräch eine Idee
hast – schreib sie auf. Aber am besten: Hab einfach keine Ideen!“ So was
hören wir von Kindheit an die ganze Zeit. Es ist so, wie Linkshänder dazu
zu zwingen, mit rechts zu schreiben. Oder Migranten, die eigene
Muttersprache zu vergessen.
## Immer noch unterdiagnostiziert
Von neurotypischen Leuten wird keine Anpassung verlangt. Sie müssen noch
nicht einmal eine andere Perspektive kennen, um klarzukommen. Und weil wir
das alle in schmerzhaften Ausgrenzungserfahrungen gelernt haben, würde ein
ADHSler kaum jemals einem NT, einem neurotypischen Gegenüber, ins Gesicht
sagen: Kannst du bitte schneller sprechen? Und auch mal interessantere
Sachen sagen? Ich schalte hier gleich ab.
Oder: Nerv mich nicht mit deiner Strukturbesessenheit. Vertrau doch einfach
mal dem Zufall! Spontaneität ist besser als Planung. Oder: Wieso soll ich
die Wohnung aufräumen? Ordnung ist was für Weicheier, die im Chaos
untergehen. Und komm mir nicht immer mit deinen Vorschriften: Regeln sind
nur Vorschläge. Oh, ich lass’ dich gar nicht zu Wort kommen? Dann
unterbrich mich halt und rede lauter, wenn du was zu sagen hast!
Die meisten NTs würden wohl sagen: Das kann ich nicht, denn so bin ich
nicht. Und genau das ist ihr Privileg, das wir ADHSler nicht haben: So sein
dürfen, wie wir sind.
Vor wenigen Tagen hat das [2][Deutsche Ärzteblatt Daten von Krankenkassen
ausgewertet, die einen enormen Anstieg von ADHS-Neudiagnosen aufweisen].
Allein in Deutschland hat sich die Zahl zwischen 2015 und 2024
verdreifacht. In den USA ist man mittlerweile sogar schon so weit, dass die
Zahl der Diagnosen annähernd so hoch ist wie die der tatsächlich
Betroffenen, geschätzte 2,5 Prozent aller Erwachsenen. Das heißt:
Expert:innen gehen davon aus, dass ADHS noch immer deutlich
unterdiagnostiziert ist.
Das sind richtig gute Nachrichten: Je mehr es gibt, desto mehr Betroffene
können sich mit ihrer Sicht am Diskurs beteiligen. Auch wenn diese Kolumne
und anderer Content der Beweis sind, dass ADHSler gelesen und gehört
werden: Es braucht viel Arbeit, um die Büroetagen, Klassenzimmer und
Kommentarspalten der Republik von all den Vorurteilen, dem Anpassungsdruck
und dem belehrenden Bullshit freizuräumen und sie damit ein bisschen
barrierefreier für Neurodiverse zu machen.
Denn keiner will vermittelt bekommen: Anders wärst du besser. Also, liebe
Neuronormies: Helft ihr uns beim Tunnelgraben?
14 Dec 2025
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## AUTOREN
(DIR) Sunny Riedel
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