# taz.de -- Historikerin über Corona-Pandemie: „Alle Stimmen sind wichtig“
> Menschen haben die Pandemie sehr unterschiedlich erlebt. Ein Gespräch mit
> Historikerin Ute Frevert darüber, wie gemeinsames Erinnern gelingen kann.
(IMG) Bild: März 2020, Teststelle in einem Berliner Hinterhof: Schutzausrüstung war während der Pandemie ein alltäglicher Begleiter
taz: Frau Frevert, wir wollen mit Ihnen über ein Thema sprechen, das viele
Menschen gerne vergessen würden: die [1][Corona-Pandemie]. Denken Sie sich
jetzt auch: „Ach nee, bitte nicht“?
Ute Frevert: Die Pandemie war eine sehr unangenehme Zeit, an die sich
Menschen nicht gerne zurückerinnern. In meinem privaten Umfeld spricht
niemand mehr darüber, auch gesamtgesellschaftlich ist sie kaum Thema. Dabei
bedeutete sie für alle einen massiven Einschnitt, der sich in der
biografischen Einordnung des vergangenen Jahrzehnts spiegelt. Auch ich
teile Erlebnisse der letzten Jahre in die Zeit vor und nach Corona ein.
taz: Als wäre dazwischen ein Loch.
Frevert: Etwas einschneidend Unangenehmes und Belastendes eben. Viele
Familien haben sich damals an den Streitfragen gespalten: Erscheint man
beim Weihnachtsfest mit oder ohne Maske? Hält man sich an die Regeln oder
setzt man sich über manche hinweg, weil sie einen nicht zu betreffen
scheinen? Das hat für viel Ärger, Frust und Leid gesorgt.
taz: Wo sind die Erinnerungen, wenn heute niemand über die Zeit sprechen
will? In irgendeiner Schublade, die sich niemand zu öffnen traut?
Frevert: Um sich gemeinsam an eine solche Ausnahmezeit zu erinnern und ein
kollektives Gedenken zu formen, braucht es Jahre und Jahrzehnte. Das kriegt
man nicht sofort hin. Menschen, die Schlimmes erlebt haben, neigen zunächst
dazu, ihre Erfahrungen für sich zu behalten, zu schmerzhaft sind die
Erinnerungen. Als erstes wollen sie in sowas wie eine Normalität
zurückkommen. Oft entwickeln erst Kinder und Enkel eine Neugier, fragen
nach und fangen mit der Gedächtnisarbeit an.
taz: Also beschäftigen wir uns erst 2045 wieder mit Corona?
Frevert: Das würde mich nicht wundern. Da bin ich allerdings nicht mehr
dabei. Aber wer weiß, vielleicht werden die Texte, die ich darüber
veröffentlicht habe, dann als Quelle benutzt.
taz: Sie forschen zur Geschichte der Gefühle. Warum sollte man sich als
Historikerin und auch wir als Gesellschaft überhaupt damit beschäftigen?
Frevert: Emotionen, ob Angst, Dankbarkeit oder Wut, sind handlungsleitend.
Gefühle motivieren oder demotivieren, durch sie agieren Menschen auf eine
bestimmte Art und Weise. Ihrerseits versuchen politische, wirtschaftliche
oder zivilgesellschaftliche Akteure, auf diese Gefühle Einfluss zu nehmen.
Das ließ sich auch während der Pandemie beobachten. Rückblickend kann man
klarer erkennen, wie das funktioniert hat und wodurch Angst, Vertrauen oder
Misstrauen entstanden sind.
taz: Welche Gefühle haben die Pandemie geprägt?
Frevert: Anfangs gab es ein überbordendes Vertrauen für die Regierung, die
unter Abwägung dessen, was sie wusste, die richtigen Entscheidungen zu
treffen versuchte. Aber wo Vertrauen ist, stellt sich schnell auch
Misstrauen ein. Mit der Zeit wuchsen die Zweifel: Sind derart rabiate
Eingriffe in die Grundrechte und unsere individuelle Lebensführung
tatsächlich gerechtfertigt?
taz: Müssen wir die [2][Maßnahmen aus heutiger Perspektive neu bewerten]?
Frevert: Sicher, denn wir müssen aus den Fehlern lernen, um für die nächste
Katastrophe gerüstet zu sein. Trotzdem finde ich es problematisch,
rückblickend den Stab über alle damaligen Akteure zu brechen. Als
Historikerin lernt man, wenn man sich mit vergangenen Szenarien und
Situationen beschäftigt, sich auf den Wissensstand der damaligen Zeit zu
begeben. Man kann nicht aus dem, was wir heute zu wissen meinen, das
Handeln früherer Generationen be- und verurteilen. Das gilt auch für 2020.
taz: Als die Todeszahlen in die Höhe schossen, galt ab März 2020 ein
Kontaktverbot, später im Winter gab es Ausgangssperren, [3][Schulen mussten
schließen] und zwischenzeitlich durfte man in manchen Städten nicht mal
mehr auf einer Bank im Park ein Buch lesen. Wie betrachten Sie das
rückblickend?
Frevert: Die Politik musste sich auf die Wissenschaft verlassen und daraus
ihre Konsequenzen ziehen. Aber auch die Wissenschaft lieferte nur
begrenztes Wissen. Der Virologe Christian Drosten hat immer wieder darauf
hingewiesen, dass das, was wir heute wissen, morgen schon als unzureichend
oder überholt gelten kann. Mit diesem Mut zur Vorläufigkeit und
Uneindeutigkeit kamen viele Menschen nicht zurecht. Gerade in einer
Krisenzeit erwarteten sie klare, widerspruchsfreie Aussagen. Die aber
konnte es nicht von Anfang an geben.
taz: Ein Problem, das weit über die Pandemie hinausgeht.
Frevert: Als deutlich wurde, dass selbst Virologen keine allwissenden
Götter waren, bot das manchen einen Grund, sich vollständig von der
Wissenschaft und ihren Ratschlägen für die Politik abzuwenden. Die
Gesellschaft spaltete sich, Verschwörungstheorien kamen in Umlauf. Diese
Entwicklung ist nicht durch Corona entstanden, aber sie hat sich in der
Pandemie verschärft.
taz: Dabei saßen wir alle mehr oder weniger im selben Boot.
Frevert: So haben es die meisten auch wahrgenommen, und es gab eine starke
Solidarität. Man hielt sich an Regeln, um sich selber, aber auch andere zu
schützen; Menschen kauften Gutscheine, um das Geschäft nebenan zu
unterstützen, halfen der älteren Nachbarin bei den Einkäufen. Man bedankte
sich bei den Pflegekräften, die Übermenschliches leisteten. Solidarität und
Dankbarkeit waren überwältigende Gefühle und sie fußten auf dem Bewusstsein
gemeinsamer Betroffenheit, über Klassen und Kulturen hinweg. Menschen auf
der Sonnenseite des Lebens konnten genauso erkranken und sterben wie solche
mit weniger Ressourcen.
taz: Nur ist die Solidarität dann von manchen Gruppen aufgekündigt worden.
Frevert: Mit der Folge, dass die Aggressivität auf allen Seiten wuchs. Vor
allem, als es im Dezember 2020 den ersten Impfstoff gab.
taz: Bedeutete der Impfstoff für viele nicht eher eine große Erleichterung?
Frevert: Natürlich. Aber manche wollten sich nicht impfen lassen, was
andere als Aufkündigung der Solidarität empfanden. Gleichzeitig stieg durch
die Impfungen das Gefühl von: Was kann mir schon passieren? Wenn man sich
weniger vulnerabel fühlt, nimmt auch die Bereitschaft ab, sich aktiv um
Dritte zu kümmern.
taz: Wir waren also ab dem Zeitpunkt nicht mehr solidarisch miteinander,
als wir uns sicherer fühlten?
Frevert: Das begann schon früher. Die Solidarität hielt nur etwa ein halbes
Jahr an. Anschließend gab es immer mehr Misstrauen und Denunziationen: Der
eine war unerlaubt auf der Straße unterwegs und sprach mit mehr Leuten, als
er durfte. Der andere zog seine Maske im Supermarkt zu tief unter die Nase.
Ich sage hier übrigens bewusst „der“. Frauen haben sich deutlich mehr an
die Regeln gehalten als Männer. Besonders junge Männer, die ihre
Unverwundbarkeit zeigen wollen.
taz: Viele junge Menschen haben stark [4][unter den Maßnahmen gelitten],
zugleich wurde von ihnen erwartet, besonders solidarisch mit den Alten zu
sein. Auch da ist viel Frust entstanden. Wenn wir gemeinsam erinnern
wollen, müssen wir nicht auch diese Gefühle anerkennen?
Frevert: Alle Stimmen sind wichtig und müssen in dieser Erinnerung ihren
Platz finden. Das heißt aber nicht, dass sie das gleiche Gewicht haben. Das
hatten sie in der konkreten Situation nicht, und das werden sie auch in
Zukunft nicht haben können. Was trotzdem nottut, ist ein offenes Ohr für
sehr verschiedene Probleme.
taz: Viele haben sich in ihren Gefühlen und ihrer Wahrnehmung zu
irgendeinem Zeitpunkt isoliert gefühlt. Für die einen haben die
Einschränkungen vielleicht zu anhaltenden psychischen Problemen geführt,
den anderen fehlte die Solidarität für ihre [5][Long-Covid-Erkrankung]. Ist
ein gemeinsames Erinnern da überhaupt realistisch?
Frevert: Gemeinsames Erinnern heißt ja nicht, dass alle das Gleiche
erinnern. Nehmen wir die Weltkriege: Heutzutage gedenken wir am
Volkstrauertag sehr verschiedener Erfahrungen und Opfergruppen. Für eine
Gesellschaft ist es aber wichtig, überhaupt so einen Gedenktag zu haben und
sich über das, was man erinnern will, auszutauschen. Bundespräsident
Steinmeier hat ja 2021 auf eine offizielle Corona-Trauerfeier gedrängt …
taz: … das war in Berlin im Konzerthaus, es war eine Gedenkfeier für die in
der Pandemie Verstorbenen. Zu dem Zeitpunkt waren schon über 70.000
Menschen mit dem Virus gestorben.
Frevert: Er hat damit erreicht, dass die ganze Gesellschaft hinschaut und
sich mit dem Leid vieler Einzelner konfrontiert. Es sprachen
Hinterbliebene, ganz unterschiedlich Betroffene, Kinder und alte Menschen.
Es ging nicht um kritische Aufarbeitung der Regierungspolitik. Es ging
darum, dass man diese Schicksale an einem Ort versammelt und sie gemeinsam
betrauert.
taz: In welcher Form ließen sich solche Jahrestage wiederholen?
Frevert: Der Bundestag könnte einen Corona-Gedenktag ausrufen, verbunden
vielleicht mit einer Ausstellung oder Installation, die den Stress, aber
auch die Vielfalt der Erfahrungen und Betroffenheiten abbildet. Man könnte
Lesungen aus Tagebüchern und Briefen veranstalten, um die Geschehnisse von
damals in ihrer Vielstimmigkeit zu vergegenwärtigen. Man könnte öffentliche
Gespräche darüber organisieren, welche Lehren wir als Gesellschaft, aber
auch als Einzelne daraus ziehen.
taz: Pandemien und Epidemien spielten vor Covid in unserem kollektiven
Gedächtnis in Deutschland kaum eine Rolle. Das war eine neue Erfahrung.
Warum erinnern wir uns nicht?
Frevert: Interessant ist der Vergleich mit der Spanischen Grippe, die gegen
Ende des Ersten Weltkriegs wütete und ungleich mehr Opfer forderte. Damals
wurde nicht innegehalten, es gab keine offiziellen Trauerfeiern, keine
gesamtgesellschaftliche Aufarbeitung. Das lag vor allem daran, dass die
existenzbedrohenden Krisen und Katastrophen in rascher Folge auf die
Menschen einprasselten. Der Bruder starb auf dem Schlachtfeld, die
Schwester an der Grippe, und der Tod war allgegenwärtig.
taz: Seit 2020 häufen sich auch bei uns die Krisen – [6][Krieg in der
Ukraine], Krieg in Nahost, die Klimakrise, und so weiter.
Frevert: Aber kaum eine dieser Krisen betrifft uns direkt und existenziell.
Das tat nur Corona. Darauf waren wir, war die Gesellschaft nicht
vorbereitet. Gerade deshalb ist es wichtig, zurückzuschauen und Bilanz zu
ziehen – um für künftige Bedrohungen, die sicher kommen werden, gewappnet
zu sein.
taz: Wie lässt sich das Gefühl der Solidarität aus den ersten
Pandemiemonaten erhalten? Inwieweit können wir im Erinnern ein Gefühl des
Zusammenhalts wieder stärken?
Frevert: Gefühle können nicht erhalten oder wiederbelebt werden, sie haben
ihren eigenen Rhythmus. Aber man kann analysieren, woran die anfängliche
Solidarität zerbrochen ist; man kann die Kipppunkte identifizieren, an
denen der gesellschaftliche Konsens aufgekündigt wurde. Dabei sollten wir
der Pandemie nicht zu viel aufbürden und sie nicht als alleinstehende Krise
begreifen. Sie war eine besondere Herausforderung, aber nicht die Einzige,
die diese Gesellschaft auszuhalten hat. Das hat Konsequenzen dafür, wie wir
sie erinnern – Erinnerung ist nicht unschuldig.
taz: Wie meinen Sie das?
Frevert: Erinnerung ist immer selektiv und interessengeleitet. Wie wir was
als Gesellschaft erinnern, hat mehr mit unserer Gegenwart und Zukunft zu
tun als mit unserer Vergangenheit. Das Motto, unter dem wir uns an den
Zweiten Weltkrieg und an den Holocaust erinnerten, hieß: Nie wieder! Bei
der Pandemie aber ist das nicht möglich, denn Pandemien sind, anders als
Kriege und Verbrechen, nicht geplant und menschengemacht. Daher muss auch
die Erinnerung an Corona eine andere sein als die an historische
Katastrophen, die Menschen bewusst herbeigeführt haben.
taz: Wer entscheidet überhaupt, welche Erzählungen in das kollektive
Gedächtnis einfließen? Dürfen das alle mitformen?
Frevert: Wenn Sie die Frage vor 100 oder 150 Jahren gestellt hätten, wäre
die Antwort gewesen: entscheidend sind die Geschichten alter weißer Männer.
Seit den 1970er Jahren haben sich die Geschichten demokratisiert,
Vielstimmigkeit wird geschätzt. Wie die Stimmen am Schluss gewichtet
werden, ist eine andere Frage.
taz: Aktuell wird die Pandemie in einer [7][Enquete-Kommission des
Bundestags] aufgearbeitet. Reicht das?
Frevert: Dass es offizielle Einrichtungen gibt, die Geschehenes kritisch
sichten und Verantwortlichen auf den Zahn fühlen, ist wichtig und Teil des
demokratischen Prozesses. Indem ihre Arbeit medial vermittelt wird, nimmt
auch die breitere Öffentlichkeit daran teil. Gesamtgesellschaftlich greift
das jedoch zu kurz. Was außen vor bleibt, ist, wie sich die Gesellschaft,
zusammengesetzt aus vielen diversen Einzelnen, verhalten hat: wie sich die
Beziehung von Nähe und Distanz, von Zugehörigkeit und Ausgrenzung verändert
hat.
taz: Müssen sich Menschen bei anderen für ihr Verhalten in der Pandemie
entschuldigen, um sich zu versöhnen?
Frevert: „Wir werden uns später für vieles entschuldigen müssen“, hat Jens
Spahn als damaliger Gesundheitsminister gesagt. Das war wahrscheinlich die
größte Weisheit, die er jemals von sich gegeben hat – aus dem Bewusstsein
heraus, dass man der ungewohnten Herausforderung angesichts eines
begrenzten Wissens immer nur unvollkommen und fehlerhaft begegnen konnte.
taz: Unabhängig von Jens Spahn, ist die Entschuldigung nicht auch Teil von
Gedenken und Historie?
Frevert: In der Tat gehört die Entschuldigung seit drei, vier Jahrzehnten
zum Ritual internationaler Geschichtspolitik. Staatsmänner entschuldigen
sich für die Taten ihrer Vorgänger, um die Beziehungen zu jenen, bei denen
man sich entschuldigt, zu verbessern. Wichtiger als eine Entschuldigung
wären bei Corona Introspektion und kritische Reflexion auf allen Seiten –
im Vorgriff darauf, dass die nächste Pandemie nicht auf sich warten lassen
wird.
28 Dec 2025
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