# taz.de -- Ergüns Fischbude: Neubeginn in Neukölln
> Nach Jahren des Kampfes muss „Ergüns Fischbude“ ihren Standort verlassen.
> Die gute Nachricht: In Neukölln hat das Kultlokal eine neue Location
> gefunden.
(IMG) Bild: Volles Haus: Ergüns Fischbude in den S-Bahn-Bögen an der Lüneburger Straße in Berlin-Moabit
Der Raki fließt, die Gäste fassen sich an den Händen, wirbeln weiße
Servietten durch die Luft und tanzen Halay, einen türkischen Volkstanz. Auf
den Tischen reihen sich halbleere Raki-Flaschen zwischen Fischgräten und
frittierten Calamari auf. Auf dem Bildschirm am anderen Ende des
verrauchten Raums ist Cem Karacas Silhouette nur schemenhaft zu erkennen.
Die Stimme der türkischen Rocklegende dröhnt durch die Boxen, übertönt vom
Grölen der Gäste. So sah ein Samstagabend im Spätsommer in „Ergüns
Fischbude“ in Moabit aus. Mittendrin: Sezgin Sanar – in seinem Element.
Ein paar Monate später erzählt der Restaurantbetreiber: „In den ersten
Monaten dominierten Traurigkeit, Wut und Existenzängste.“ An diesem
Dezemberabend ist die Stimmung weniger ausgelassen. Gäste essen Fisch,
quatschen, trinken Raki. Sanar sitzt in grauem Jogginganzug und weißen
Sneakern an einem Tisch. Das schwarze Haar trägt er an den Seiten kurz,
oben zu einem Zopf gebunden.„Inzwischen denke ich: Eine Tür schließt sich
und drei wunderschöne Türen öffnen sich.“
Dem 35 Jahre alten Fischlokal in den Viaduktbögen nahe dem S-Bahnhof
Bellevue [1][war der Mietvertrag gekündigt worden]. Ende Juni 2024 hätten
sie eine Räumungsklage der Deutschen Bahn mit einer dreimonatigen Frist
erhalten, so die Betreiber*innen. Nach Protest sei die Klage zwar
zurückgezogen, aber durch Auflagen ersetzt worden. Noch bevor sie alle
hätten erfüllen können, entschied das Gericht Mitte September: Sie müssen
das Lokal räumen.
„Eineinhalb Jahre lang haben wir vor Gericht gekämpft, voller Hoffnungen,
Tränen und Sorgen“, sagt Sanar. „Es war vergeblich.“ Eine Sprecherin der
Deutschen Bahn wollte auf taz-Anfrage keine Gründe für die Kündigung
nennen. Sie erklärt lediglich, zu vertraglichen Details könne man sich
öffentlich nicht äußern.
## Fischbude eröffnet ab Januar in Neukölln
Nach Recherchen des Instituts für Handelsforschung [2][gehen in Deutschland
jedes Jahr bis zu 30.000 Kleinunternehmen unter.] Ergüns Fischbude wehrt
sich, Teil dieser Statistik zu sein – mit Erfolg. Nach langer Suche haben
die Betreiber*innen nun neue Räume gefunden. Ab Mitte Januar ziehen sie
nach Neukölln, in deutlich größere Räumlichkeiten, mit zwei Kegelbahnen.
„Ergün wäre stolz“, glaubt Sanar.
Ergün Çetinbaş hatte das Restaurant in Moabit 1992 eröffnet. 1969 war er
[3][als Gastarbeiter aus Bursa im Nordwesten der Türkei nach Deutschland
gekommen]. Schon in der Türkei hatte er Fisch vertrieben, später die Ware
aus Istanbul nach Berlin gebracht. Die Räume der heutigen Fischbude dienten
ihm damals als Lagerhalle. „Nach Markt-Wochenenden hat er dort sonntags ein
paar Tische und einen kleinen Herd aufgestellt, mit seinen Kumpels Raki
getrunken und Fisch gegessen“, erzählt Sanar. Der Duft lockte irgendwann
die ersten deutschen Kund*innen an – und so entstand das Restaurant.
2021 verstarb Ergün im Alter von 74 Jahren. „Er hat gut gelebt“, sagt Sanar
und lacht. „34 Jahre lang hat er am Stück getrunken und geraucht.“ Vor
sieben Jahren übernahm der gebürtige Schöneberger den Laden, damals mit
gerade mal 18 Jahren, zusammen mit Ergüns Tochter, Mine Çetinbaş. „Ohne
meinen Vater wäre das nicht möglich gewesen“, sagt Sanar. „Er hat von
Anfang an mich geglaubt und in den Laden investiert.“ Der Vater arbeitet
heute in der Buchhaltung des Betriebs, Sanars Mutter am Karaoke-Mikro,
Cousins und Freund*innen im Service. „Die Kellner mögen sich, alle sind
nur am Lachen. Deswegen lieben die Leute es“, sagt der 25-Jährige.
Dem Umzug nach Neukölln steht er ambivalent gegenüber: „Es ist wie eine
Trennung: Der Laden hier ist mein Baby, aber er war ohnehin zu klein
geworden.“ Freitags und samstags drängen sich hier mehrere hundert Gäste –
Tendenz steigend. Der Grund: Social Media. Im Frühjahr begann Sanar,
[4][Instagram] und [5][Tiktok] zu bespielen. Der Laden boomte über Nacht.
Früher sei alles nur über Mundpropaganda gelaufen, jetzt kämen auch
Menschen aus anderen Städten gezielt, um das Lokal zu besuchen. „Ich war
sprachlos“, sagt Sanar.
## Der Fischladen ist ein Zuhause
In der Fischbude gibt es Bauchtänze und Karaoke, Bayram und Zuckerfeste
werden gefeiert. „Dieser Ort ist mehr als nur ein Laden. Hier haben sich
Menschen kennengelernt, verlobt oder geheiratet“, sagt Sanar. „Es ist ein
Zuhause. Ein Erbe, das wir bewahren und weitergeben möchten.“ An einer Wand
hängt ein Bild von Ergün: Zwei Fische hält er in die Kamera, einen dritten
im Mund.
Zwischen bunten Zetteln mit Erinnerungen an verschwommene Abende hängen
Bilder von Mustafa Kemal Atatürk neben Hertha-Spielern und
Fenerbahçe-Schals. Dazwischen Fotos von Stars und Sternchen aus Deutschland
und der Türkei: Der Sänger Fatih Ürek, Angela Merkel, Frank-Walter
Steinmeier und der Sänger Ugür Dündar waren schon in Ergüns Fischbude zu
Gast. Sanar zeigt auf ein Foto des Sängers İbrahim Tatlıses und sagt
lachend: „Unsere Helene Fischer.“ Die Fotowände sollen abgeschraubt und in
Neukölln wieder aufgehängt werden, damit Ergüns Vermächtnis auch in
Neukölln weiterlebt.
Es ist spät geworden, die Gäste haben gegessen und machen sich auf den
Heimweg. Draußen stehen zwei Frauen mit Kinderwägen. „Wir wollten noch
einmal vorbeikommen, bevor ihr schließt“, sagen sie, als sie Sanar sehen.
Schon seit ihrer Kindheit seien sie hierhergekommen, ihr Vater habe das
Lokal geliebt. Als Sanar ihnen die gute Nachricht überbringt, freuen sie
sich: „Wir sehen uns in Neukölln.“
10 Dec 2025
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## AUTOREN
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