# taz.de -- Hermann Esser, eine deutsche Karriere: Hitlers Duzfreund
> Er war für Heimatliebe, Naherholung und Tourismus zuständig: Hermann
> Esser (1900 – 1981) – eine Biografie, wie sie bislang in keinem Buche
> stand.
(IMG) Bild: Hitler empfängt im Oktober 1936, während seines Urlaubs auf dem Obersalzberg, Hermann Esser (re)
Der Historiker Paul Hoser ist dafür bekannt, spektakuläre Quellen
aufzuspüren. 2017 sorgte sein Aufsatz über Hitlers jüdischen Hausvermieter
für internationales Aufsehen. Seine akribischen Recherchen über die
rigorose „Judenpolitik“ eines Memminger Bürgermeisters [1][führten zu einer
Klagedrohung dessen Kinder] und seine detaillierte Untersuchung Starnbergs
in der NS-Zeit erfreute ebenfalls nicht alle Einheimischen.
Jetzt legt Paul Hoser eine zweibändige Biografie vor, an der er über zehn
Jahre gearbeitet hat und die wieder einmal mit neuen Quellenfunden glänzt.
Es geht um einen Nationalsozialisten der ersten Stunde: Hitlers Duzfreund
Hermann Esser (1900–1981).
Esser lernte Hitler im August 1919 in München kennen. Trotz des
Altersunterschiedes von 11 Jahren hatten die beiden viel gemeinsam. Sie
wuchsen in kleinbürgerlichen Familien in der Provinz auf und brachen die
Schule ab. Nach ihrem Kriegseinsatz irrten sie desillusioniert durch
München.
Beide neigten zur Indolenz und lehnten es ab, einer geregelten Arbeit
nachzugehen. Um sich finanziell über Wasser zu halten, spitzelten sie für
die Reichswehr. Eine der Parteien, die sie belauschten, gefiel ihnen
besonders – die DAP (ab 1920 NSDAP).
## Einpeitscher Hitlers
Hitler wurde schnell ihr bester Redner und Esser fungierte als sein warm up
act. Als Vorredner konnte er mit großem rhetorischen Geschick mühelos einen
Saal anheizen. Beide Männer waren im doppelten Sinne Nachtgestalten. Sie
lebten – wie Theaterschauspieler – für ihre Abendauftritte.
Nach der Veranstaltung waren sie dann in der Regel zu aufgeputscht, um ins
Bett zu gehen. „Dann war man erregt“, erinnerte sich Esser später. „Es ist
meistens zwei Uhr geworden, das war schon sehr normal.“
Den Rhythmus aus dieser frühen „Kampfzeit“ sollten sie beibehalten. Hitler
würde zwar im Laufe der Jahre immer weniger von Essers administrativen
Fähigkeiten halten, aber er schickte seine Rampensau bis zum Schluss immer
wieder auf die Bühne.
Paul Hosers Studie belegt jetzt erstmals, welche Rolle der wortgewaltige
Esser in den Jahren 1920 bis 23 für Hitlers Aufstieg zum propagandistischen
Agitator spielte. Gemeinsam mit Dietrich Eckart begründete Hermann Esser
(und nicht erst Rudolf Hess) den „Führermythos“.
## Gruselige Schriften
Hoser hat für seine Untersuchung Hunderte von Artikeln und gedruckte Reden
Essers aufgespürt und durchgearbeitet, was zweifellos eine enorme
Leidensfähigkeit erfordert.
Esser war von zwei Lebensthemen beseelt: seiner Liebe zum Führer und seinem
Hass auf die Juden. Lange vor Julius Streicher agitierte er als
Radaujournalist gegen jüdische Warenhäuser, denunzierte prominente Juden
(er war deswegen in unzählige Beleidigungsprozesse verwickelt), roch
überall Rassenschande und wetterte in seinen Reden wahlweise gegen jüdische
Kommunisten oder jüdische Kapitalisten.
Schon früh forderte er zur Gewalt gegen Juden auf. Während der Ruhrkrise
1923 schlug er vor, man solle einfach Juden als Geiseln nehmen und sie dann
im Zweifelsfall ermorden.
Um seinen Anhängern ausreichend Propagandamaterial an die Hand zu geben,
veröffentlichte er 1927 das magnum opus „Die jüdische Weltpest“, ein
Potpourri seiner „besten“ Ideen. Nach dem Novemberpogrom 1938 ließ er aus
aktuellem Anlass schnell noch eine Neuauflage drucken.
## Aufsichtsrat bei Lufthansa
Esser war damit ganz auf ideologischer Linie. Er schaffte es in den
Aufsichtsrat der Lufthansa und wurde unter Joseph Goebbels Staatssekretär
der Fremdenverkehrsabteilung.
Aber trotzdem machte er am Ende nur eine mäßige NS-Karriere. Das lag wohl
vor allem an seiner ausgeprägten Faulheit. Während seine Altersgenossen
Himmler und Bormann bienenfleißig dem Führer zuarbeiteten, ging Esser
lieber jagen. Paul Hoser beschreibt ihn denn auch als den „Taugenichts des
Nationalsozialismus“. „Angeberei und Unzuverlässigkeit“ seien bei Esser
„grundlegende Wesenszüge“ gewesen.
Zwischenzeitlich entzog Hitler seinem alten Kampfgefährten 1935 sogar das
Du. Das Beziehungstief hielt jedoch nicht lange an. Über sein Engagement
für die Olympiade 1936 in Berlin gelangte Esser bald wieder [2][in Hitlers
Nähe].
In der Folge besuchten sie gemeinsam Mussolini und „marschierten“ Seite an
Seite in Österreich ein. Selbst beim gescheiterten Bombenattentat am 8.
November 1939 im Münchner Bürgerbräukeller war Esser ganz nah bei seinem
Führer, verließ aber auch wie dieser zu früh den Saal.
## Hochzeit mit der Hofbräuhaus-Tochter
Die wiedergewonnene Führer-Nähe verdankte Esser auch seiner Geliebten Anny
Bacherl. Anny war die Tochter des Münchner Hofbräuhaus-Wirts und eine enge
Freundin von Eva Braun. Sie wurde oft auf Hitlers Berghof am Obersalzberg
eingeladen, um Eva zu bespaßen.
Esser kam gerne mit und erbat gelegentlich Hitlers Hilfe bei privaten
Problemen. Denn davon gab es eine Menge.
Außer wütenden Ex-Geliebten hatte Esser auch seine erste Frau Therese mit
zwei Kindern sitzengelassen. Therese weigerte sich, in eine Scheidung
einzuwilligen, aber mittlerweile hatte er auch ein paar Kinder mit Anny
gezeugt.
Hitler half und 1939 konnte ein erleichterter Esser seinen „Führer“ und Eva
Braun zum pompösen Hochzeitsfest einladen.
## Streit mit Goebbels
Im Krieg verlor der Fremdenverkehr naturgemäß an Bedeutung. Esser geriet
wegen seiner „Bombenfrischler“ immer öfter mit Propagandaminister Goebbels
aneinander. Der notierte 1942: „Esser ist im Bereich meines Ministeriums
reichlich faul. Der Führer sagt, er sei seit jeher so gewesen, und gibt mir
den Rat, ihn gelegentlich einzubestellen und ihm den Marsch zu blasen.“
Esser durfte jedoch Durchhaltereden halten und wurde weiterhin von Hitler
empfangen.
1944 informierte er Hitler über die Bombardierung Münchens, stieß jedoch
auf Desinteresse: „(Hitler) hat sich in erster Linie nach dem Braunen Haus
erkundigt und nach den Führerbauten, ob dort große Zerstörungen wären. Ich
hab gesagt: Nein, die haben standgehalten. Das hat ihn gefreut und er
sagte: Sehen Sie, wenn man da richtig gebaut hätte, hätte man da viel mehr
machen können.“
## Forensisch geprüft
Kaum jemand kannte die Parteiinterna vor 1933 besser als Esser. Aber erst
nach dem Krieg fing er an zu reden. Da er als pathologischer Lügner
einzustufen ist, hat [3][Historiker Paul Hoser] die Verhöre, Interviews und
Artikel von und mit Esser forensisch überprüft.
Hosers pikantester Fund ist dabei die Artikelserie „Hitlers Frauen“, die
Esser 1949 in der Illustrierten Revue veröffentlichen wollte. Die Serie
musste nach einer Folge eingestellt werden, da die klagewütige [4][Leni
Riefenstahl] ihren Anwalt eingeschaltet hatte. Riefenstahl vermutete zu
Recht, dass ihr ein ausführliches Kapitel gewidmet war.
Schmeichelhaft war es nicht. Esser wusste genau, welche Frauen Hitler von
Anfang an unterstützt und angehimmelt hatten. Er war nicht im Schlafzimmer
dabei, aber er erlebte Hitler in den 1920er Jahren als Lustmolch, der auf
mollige Frauen stand und viel Zeit in Nacktrevuen verbrachte. „Man konnte
genau beobachten, wie er durch … das Betrachten einer hübschen Figur
schnell geschlechtlich erregt, sich durch sexuelle Vorstellungen geradezu
aufputschte.“
## Geld für Nacktszenen
Laut Esser erhielt der Intendant am Münchner Gärtnerplatztheater extra
große Geldsummen für Nacktszenen, um der „hitlerischen Freude am
Exhibitionismus Genüge leisten zu können“.
Auch Hitlers Adjutant, SS-Obergruppenführer Schaub, tat was er konnte,
damit Hitler immer genug Haut zu sehen bekam (Schaub selbst war unter
Prostituierten für seine Brutalität verschrien. Wenn er ein Lokal betrat,
verließen die Mädchen es fluchtartig).
Ob Hitler nur als Voyeur agierte oder zur Tat schritt, bleibt offen. Eine
reißerische britische TV-Dokumentation über seine DNA behauptete jüngst,
der „Führer“ habe Angst vor Frauen gehabt und unter dem Kallmann-Syndrom
gelitten.
## Der Mikropenis
Möglicherweise habe er einen funktionsunfähigen Mikropenis, ADHS und
Autismus gehabt (einer der interviewten „Experten“ sieht darin
verrückterweise auch Hitlers Überfall auf die Sowjetunion begründet).
Dass er nur einen Hoden besaß, ist seit Langem bekannt. Da Dr. Morell ihm
jedoch Testosteron für die Libido spritzte und gleichzeitig Eva Braun
periodestillende Medikamente verabreichte, könnte auch Essers
Koitus-Theorie zutreffen.
Wichtiger als die Sexseite ist jedoch Essers Einschätzung von Eva Brauns
Charakter.
Anders als Mussolinis Geliebte, die eine fanatische Faschistin war,
kümmerte sich Braun bekanntermaßen nur um Schmuck und Mode. Dadurch wurde
sie laut Esser zum Werkzeug von Martin Bormann. Er verschaffte ihr
[5][Devisen für Italienreisen], dafür vertrat sie seine Interessen bei
Hitler.
## Ein Unbelasteter für Franz Josef Strauß
Seine eigenen Interessen wusste auch Esser gekonnt zu verteidigen. Als die
amerikanische Spionageabwehr CIC ihn im Mai 1945 verhörte, gab er zu
Protokoll, er habe „den Krieg nicht gewollt und damit nichts zu tun
gehabt“. Weder sei er für Grausamkeiten verantwortlich, noch habe er je
politische Gegner denunziert.
Hoser hat Essers Lügenlabyrinth mit einer ausgezeichneten Biografie nun zum
Einsturz gebracht. Er beschreibt einen dumpfen, banalen Mann, der kein
großer Entscheidungsträger war, dessen Propagandareden aber verheerende
Auswirkungen hatten.
Geehrt wurde Esser am Ende trotzdem. Franz Josef Strauß gratulierte dem
ehemaligen bayerischen Staatsminister Hermann Esser zum 80. Geburtstag.
Karina Urbach, promovierte Historikerin und Schriftstellerin. Lebt in
Cambridge, England. Zuletzt erschien von ihr der Spionage-Thriller „Das
Haus am Gordon Place“. Ausgezeichnet mit dem Deutschen Krimipreis 2024
24 Dec 2025
## LINKS
(DIR) [1] /Ironie-der-Geschichte/!5780495
(DIR) [2] /Historiker-Malinowski-ueber-Hohenzollern/!5818046
(DIR) [3] /Der-Kronprinz-und-sein-Biograph/!5791016
(DIR) [4] /Filmfestspiele-in-Venedig/!6029303
(DIR) [5] /Tagebuecher-von-Chips-Channon/!5760467
## AUTOREN
(DIR) Karina Urbach
## TAGS
(DIR) Schwerpunkt Nationalsozialismus
(DIR) Adolf Hitler
(DIR) Bayern
(DIR) Tourismus
(DIR) Joseph Goebbels
(DIR) Lufthansa
(DIR) Antisemitismus
(DIR) Benito Mussolini
(DIR) Deutsche Geschichte
(DIR) Schwerpunkt Antifa
(DIR) Reden wir darüber
(DIR) Kolumne Blast from the Past
(DIR) Hohenzollern
(DIR) Wien
## ARTIKEL ZUM THEMA
(DIR) Ironie der Geschichte: Die Nazis hingen auf der Toilette
Georg Marischka, Schauspieler und Antinazi, spielte im deutschen Film oft
Nazis, um finanziell zu überleben. Während echte Nazis Karriere machten.
(DIR) Hohenzollern und Nationalsozialismus: Militarismus und echte Führerliebe
Historikerin Karina Urbach hat geheime Berichte einer Journalistin
ausgewertet. Sie belegen: Auch die adligen Preußen-Frauen warben für
Hitler.
(DIR) Das Buch Alice: Der geraubte Bestseller
„So kocht man in Wien!“ – Karina Urbach hat die Geschichte des arisierten
Kochbuchs ihrer Großmutter erforscht. Lenkt der Reinhardt-Verlag nun
endlich ein?