# taz.de -- Schriftsteller über ein Jahr Assad-Sturz: „Es gibt jetzt wieder eine Seele in Syrien“
> Yassin al-Haj Saleh hat sein Leben lang gegen die Assad-Diktatur gekämpft
> und saß 16 Jahre im Gefängnis. Wie blickt er auf die neuen Herrscher und
> die Zukunft Syriens?
(IMG) Bild: In Damaskus feiern Menschen den ersten Jahrestag des Sturzes von Baschar al-Assad
taz: Seit dem Sturz Assads vor einem Jahr sind Sie zweimal aus Deutschland,
wo Sie derzeit wohnen, nach Syrien zurückgereist. Was für ein Land haben
Sie dort vorgefunden?
Yassin al-Haj Saleh: Als ich letzten Dezember dort war, kam mir das Land
formlos vor. Ziemlich heruntergekommen, viel Armut. Wenn man durch die
Straßen von Damaskus läuft, sieht man extreme Umweltverschmutzung. Später
wurde mir klar, dass das daran liegt, dass die Menschen im Winter alles
verbrennen, um sich zu wärmen. Plastik, Kleidung, einfach alles. Aber die
Menschen, die ich traf, waren hoffnungsvoll. In meiner Jugend erschien mir
Syrien als seelenloses Land. Oder: Die einzige Seele des Landes war der
Diktator Hafis al-Assad und dann später sein Sohn Baschar. Sehr hässliche
Seelen. Aber jetzt gibt es eine Seele in Syrien: Begeisterung, Wärme,
Hoffnung.
taz: Als wir 2021 [1][zum ersten Mal sprachen], war Ihre Stimmung sehr
gedrückt, denn die syrische Revolution war gescheitert. Hatten Sie noch
Hoffnung, dass wir den Sturz des Tyrannen erleben würden? Und dann auch
noch so schnell?
al-Haj Saleh: Nein, überhaupt nicht. Und ja, Sie haben recht. Ich dachte,
wir seien besiegt worden. Einige meiner Freunde haben mich nach dem Sturz
des Regimes kritisiert, denn sie sahen darin einen Sieg der Revolution. Ich
bin immer noch nicht ganz dieser Meinung. Ich glaube, dass Hai’at Tahrir
asch-Scham (HTS), die neue Gruppe an der Macht, die Revolution besiegt hat,
bevor sie das Regime besiegt hat. Es war großartig, dass das Regime
gestürzt wurde. Aber es ist ein Sieg von etwas anderem, nicht von dem
syrischen Aufstand, der nach einem inklusiven politischen System gestrebt
hat. Ich bin offen für alle, die sagen, dass Revolutionen einen
Zickzackkurs nehmen und niemals geradlinig verlaufen. Dennoch bin ich
ziemlich skeptisch, dass es eine Kontinuität gibt zwischen der syrischen
Revolution 2011/12 und dem Sturz des Regimes im Dezember 2024.
taz: Warum?
al-Haj Saleh: Die heutigen Machthaber sind Islamisten. Vor Jahren waren sie
salafistische Dschihadisten. Das sind sie heute nicht mehr, mit einigen
Ausnahmen. Ich befürchte jedoch, dass die Extremisten in ihren Reihen eine
unmittelbare Gefahr für das Land darstellen. Es gibt viele Gefahren. Aber
sie sind eine davon. Für mich geht unser jahrzehntelanger Kampf also
weiter. Auf einer Ebene gibt es mehr Menschen, die sich am öffentlichen
Leben beteiligen, was eine gute Sache ist. Um die Meinungs- und
Debattenfreiheit steht es okay, sie ist besser als seit Jahrzehnten. Aber
wir haben auch zwei Wellen von Massakern hinter uns, mit 1.500 Opfern im
März gegen die alawitische Gemeinschaft und einer ähnlichen oder etwas
höheren Zahl unter den Drusen. Diese Massaker haben bereits die Aussichten
getrübt auf ein vereintes Syrien mit einem politischen System, das alle
einschließt.
taz: Glauben Sie, dass diese Massaker stattfanden, weil die oberste Führung
von HTS und ihr Anführer Ahmed al-Scharaa dies wollten oder weil sie keine
Kontrolle über ihre eigenen Männer haben?
al-Haj Saleh: Ich glaube eher, dass sie die Situation nicht unter Kontrolle
haben. HTS ist die mächtigste Partei im Land, aber sie ist kein echter
Staat mit einem Gewaltmonopol. Diese beiden Wellen von Massakern sind
unterschiedlich. Die an der Küste wurde nicht von HTS ausgelöst. Zuerst gab
es Angriffe von Anhängern des Assad-Regimes auf Sicherheitskräfte. Mehr als
200 oder 300 von ihnen wurden getötet, aber es gab abscheuliche Verbrechen.
Viele Alawiten wurden angegriffen oder getötet, nicht weil sie etwas
Bestimmtes getan hatten, sondern weil sie Alawiten waren.
taz: Und die Massaker an den Drusen in Suwaida im April und Mai?
al-Haj Saleh: Suwaida ist ein bisschen anders. Meiner Meinung nach war das
zu 100 Prozent vermeidbar. Auch dort gab es schlimme Verbrechen. Ich würde
nicht sagen, dass HTS das wollte. Aber Außenminister Schaibani sagte, es
sei eine Falle gewesen –ohne zu sagen, wer diese Falle gestellt hatte. Und
es ist nicht akzeptabel, dass die Regierung ihre Fehler rechtfertigt, indem
sie auf mögliche Fehler einer anderen Partei verweist. Sie sind die
öffentliche Gewalt im Land und dürfen sich nicht verhalten wie ein Stamm,
eine Sekte, eine Bande oder was auch immer.
taz: Vor einigen Wochen begann in Damaskus ein Prozess, bei dem mutmaßliche
Täter beider Seiten vor Gericht stehen. Darüber wurde berichtet, [2][auch
in der taz]. Viele Syrer im Internet sind aber sehr skeptisch, ob es die
Regierung mit der Aufarbeitung ernst meint.
al-Haj Saleh: Um ganz ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Die Machthaber
sind nicht transparent, und wir wissen nicht, nach welchen Kriterien diese
Menschen vor Gericht gestellt wurden, ob sie wirklich die Verantwortlichen
für die Verbrechen waren. Ich denke, dass es grundsätzlich ein guter
Schritt nach vorne ist. Aber ich kann nicht sicher sagen, dass es mit gutem
Gewissen geschieht. Ich stimme aber auch nicht überein mit der zynischsten
Analyse, die viele Syrer vertreten. Wir sind eine extrem polarisierte
Gesellschaft, besonders nach den Massakern. Daher sind viele Menschen
extrem misstrauisch gegenüber allem, was in ihrem Land geschieht.
taz: Die Frage der Minderheiten – der Kurden und Drusen, aber auch der
Alawiten – ist derzeit eine der drängendsten. Es scheint möglich, dass zu
einer Art Abkommen oder Integration kommt, aber auch, dass es sich zu einem
neuen Krieg zuspitzt.
al-Haj Saleh: Das wäre das schlimmste denkbare Szenario für das Land. Die
syrische Gesellschaft ist sehr erschöpft. Und der Wiederaufbau wäre
gefährdet, wenn es zu einer dritten Welle von Gewalt, Morden, Hass käme.
Das Problem ist struktureller Natur. Zunächst einmal haben wir 14 Jahre
Kampf, Revolution, Krieg und Interventionen vieler ausländischer Mächte
hinter uns, mehr als eine halbe Million Opfer. Jetzt, nach dem Sturz des
Regimes, sehen wir die Konzentration der Macht in den Händen der Sunniten,
die während all den Jahren des Krieges mehr als andere zu leiden hatten.
taz: Was folgt, wenn HTS die Sunniten bevorzugt?
al-Haj Saleh: Man kann die Macht nicht in den Händen eines Teils der
Bevölkerung konzentrieren – auch wenn es vielleicht zwei Drittel oder 70
Prozent der Bevölkerung sind –, ohne die anderen zu entfremden. Und die
Ausschreitungen an der Küste und in geringerem Maße auch in Suwaida hängen
mit dieser Machtkonzentration zusammen. Syrien ist in vielerlei Hinsicht
eine pluralistische Gesellschaft. Es kann also nicht von einer Gruppe
regiert werden, seien es Alawiten oder Sunniten oder Kurden oder wer auch
immer. Das kann nicht funktionieren, das wird nicht funktionieren. Das ist
also die strukturelle Frage, die angegangen werden muss, um einen weiteren
Krieg zu vermeiden.
taz: Im Oktober fanden Parlamentswahlen statt. Aber nur sehr wenige
Menschen konnten tatsächlich wählen und auch die nur einen Teil aller
Abgeordneten. Sie haben gesagt, dass al-Scharaa nicht daran interessiert
ist, echte Demokratie nach Syrien zu bringen.
al-Haj Saleh: Natürlich nicht. Nein, er ist kein Demokrat. Er ist, wie man
überall hört, ein Pragmatiker. Pragmatismus bedeutet hier, dass er
[3][flexibel genug ist, um an der Macht zu bleiben]. Die Priorität liegt
nicht auf Ideologie oder Religion. Die Priorität liegt auf Macht. Und
dieses Spiel hat er bisher recht geschickt gespielt. Ich hoffe, dass sein
Pragmatismus dazu führen wird, dass der Staat vernünftiger mit seinen
Bürgern umgeht. Das Wichtigste ist, dass wir keine Folter, keine Demütigung
der Menschen sehen.
In einem [4][Text für Qantara] haben Sie spekuliert, dass das zukünftige
Regierungssystem Syriens wie eine moderne Version des osmanischen
Millet-Systems aussehen könnte. Wie meinen Sie das?
al-Haj Saleh: Das bedeutet, dass religiöse und ethnische Gemeinschaften
durch ihre religiösen oder sozialen Anführer vertreten werden. Stämme und
Scheichs zum Beispiel unter den Sunniten. Oder einige wohlhabende Menschen
oder solche, die aus irgendeinem Grund prominent sind. Und dasselbe gilt
für christliche Religionsführer und für Alawiten. Sehen Sie, das ist die
Art und Weise, wie Islamisten Offenheit zeigen. Das ist ihre Art der
Repräsentation. Die Islamisten sehen die Gesellschaft als Gefüge von
Religionen und ethnischen Gruppen. Sie denken, dass Syrien aus Muslimen und
Christen, Arabern und Kurden, Sunniten und Alawiten, Drusen und Ismaeliten
besteht. Und sie werden diesen Gemeinschaften Anteile der Macht und ein
gewisses Maß an Autonomie zugestehen. Aber die Macht wird sich um den
sunnitischen Islam konzentrieren.
taz: Das alles ist weit entfernt von dem linken Säkularismus, den Sie sich
für Syrien wünschen würden. Es scheint, als sei diese Strömung in der
syrischen Politik von Assad und dem Krieg zerschlagen worden. Sehen Sie
Anzeichen für eine Wiederbelebung?
al-Haj Saleh: Das Problem in Syrien ist seit Jahrzehnten, dass der
Säkularismus in der Regel ausschließlich gegen den sunnitischen Islam in
Stellung gebracht wird. Viele Intellektuelle waren an dieser Unehrlichkeit
beteiligt. Zudem haben sich viele Säkularisten auf die Seite des
Assad-Regimes gestellt, worunter die Glaubwürdigkeit und der Ruf des
Säkularismus gelitten haben. Um den Säkularismus zu verteidigen, muss man
die Demokratie verteidigen. Und in Syrien gibt es seit Jahrzehnten eine
Spaltung zwischen den beiden. Diejenigen, die den Säkularismus verteidigen,
kümmern sich nicht um Demokratie. Und vielleicht gilt auch das Gegenteil:
Viele, die die Demokratie verteidigen, verteidigen nicht den Säkularismus.
Jetzt haben wir also eine islamische Diktatur.
taz: Im Krieg wurden Ihnen nahestehende Menschen entführt – Ihre Frau
Samira, enge Freunde und Ihr Bruder –, wahrscheinlich von einer
islamistischen Miliz. Haben Sie Hoffnung, dass ihr Schicksal jetzt
aufgeklärt wird?
al-Haj Saleh: Dschaisch al-Islam, die für die Entführungen verantwortlich
sind, sind jetzt mit an der Macht. Sie sind Teil der neuen Regierung. Die
Beziehung zwischen ihnen und HTS war in der Vergangenheit ziemlich
schlecht, es gab sogar gewalttätige Auseinandersetzungen. Aber jetzt sind
sie, zumindest offiziell, in der Regierung. Daher sind meine Hoffnungen auf
Aufklärung begrenzt. Aber es geht nicht nur um mich und meine vermisste
Frau und meine Freunde. In Syrien werden wohl 160.000 Menschen vermisst,
die meisten von ihnen entführt durch das Regime, aber auch durch eine Reihe
anderer militärischer Gruppen. Weil es laute Stimmen in der Gesellschaft
gab, hat die neue Regierung einen Ausschuss für „transitional justice“
(„Vergangenheitsarbeit“) und einen weiteren Ausschuss für verschwundene
Personen ins Leben gerufen. Ich weiß nicht, ob sie in diesen Fragen etwas
Konkretes unternommen haben. Ich persönlich wurde noch nicht angesprochen.
taz: Es gibt wohl kein größeres Symbol für den [5][Sturz des assadistischen
Folterregimes] als die Öffnung der Kerker im Saidnaya-Gefängnis. Wie haben
Sie sich dabei gefühlt, als jemand, der selbst als Kommunist unter Hafis
al-Assad 16 Jahre lang im Gefängnis gesessen hat?
al-Haj Saleh: Meine persönliche Haftzeit ist schon lange her. Ich wurde
1996 freigelassen, fast 28 Jahre vor dem Sturz des Regimes. Ich war
natürlich sehr glücklich, als ich die Fotos und Videos von den befreiten
Menschen sah. Bei meinem ersten Besuch in Syrien bin ich mit Freunden nach
Saidnaya gefahren. Das war eine sehr gute Erfahrung. Ich kann mich auf
einer anderen Ebene in die Familien, in die Väter und Mütter der Vermissten
hineinversetzen. Gleichzeitig verspürte ich tief in meinem Inneren eine
gewisse Bitterkeit, denn meine Hoffnungen für meine Frau, meine Freunde und
meinen Bruder hatten nichts mit Saidnaya zu tun, da sie nicht vom Regime
verschleppt worden sind.
taz: Wie hat der Sturz Assads Ihre eigene Arbeit als Schriftsteller
verändert?
al-Haj Saleh: Ich befinde mich in einer Art Identitätskrise, weil ich
meinen Feind verloren habe. Seit meiner Jugend, seit 1977, war ich am Kampf
gegen das Assad-Regime beteiligt. Also habe ich 47 Jahre meines Lebens in
diesem Kampf verbracht. Das hat einen wichtigen Teil meiner Identität
ausgemacht. Zweitens besteht meine Hauptaufgabe als Schriftsteller darin,
Instrumente zu entwickeln, um die Situation in Syrien zu verstehen. Und ich
habe das Gefühl, dass ich mehr Zeit brauche, um bessere Instrumente zu
schaffen.
taz: Sie haben mal gesagt, dass Sie in Bezug auf die Zukunft weder
pessimistisch noch optimistisch sind, sondern „interaktiv“. Was bedeutet
das?
al-Haj Saleh: Im Arabischen gibt es eine schöne etymologische Verbindung
zwischen diesen drei Begriffen. Ich halte Optimismus für dumm und
Pessimismus für egoistisch und unethisch. Ich mag keine Pessimisten, sie
irritieren mich. Die Idee ist also, interaktiv zu sein, mit den sich
verändernden Situationen zu interagieren. Eine Bewegung zu halten zwischen
dem, was in der Wirklichkeit geschieht, und den eigenen Gefühlen und
Affekten. Ich möchte meinen Verstand und mein Herz offen für das halten,
was geschieht, um besser zu verstehen.
8 Dec 2025
## LINKS
(DIR) [1] https://www.spiegel.de/ausland/syrien-yassin-al-haj-saleh-ueber-das-scheitern-der-revolution-war-es-das-wert-a-2c66ac95-d0f5-408f-bdb0-27e8f3c327b8
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(DIR) [5] /Jahrestag-von-Assads-Sturz-in-Syrien/!6135820
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