# taz.de -- Briefwechsel von Syrerin und Ukrainerin: Von Hama nach Kyjiw
       
       > Unsere Autor*innen haben ihre Heimat, Syrien und die Ukraine, nicht
       > verlassen. Hier schreiben sie sich gegenseitig über ihren Alltag im
       > Krieg.
       
 (IMG) Bild: Zeichen eines jahrelangen Krieges: Zerstörung in Damaskus
       
       Liebe Oksana, zuallererst möchte ich dir über etwas schreiben, woran ich
       unablässig denken muss und das ich mir so sehr wünsche. Eines Tages,
       vielleicht in einer Woche, vielleicht in dreißig Jahren, wann auch immer,
       werden die Leute und vor allem der Mann, den ich liebe, sagen, wenn mein
       Name in einem flüchtigen Gespräch genannt wird: Sie war eine fröhliche
       Frau, voller Vitalität.
       
       Eine Frau, deren Lächeln nie verschwand, eine schöne Frau, strahlend wie
       die Sonne, mit einem sanftmütigen Gesicht und mandelförmigen Augen, die sie
       von ihrem Vater geerbt hatte. Eine liebevolle Frau, sanft wie Salbe auf
       einer Brandwunde. Und ich weiß, dass dieser Wunsch quasi unmöglich geworden
       ist, unvereinbar damit, wie ich jetzt bin. Doch ist nicht das, wonach ein
       Menschen verlangt und was er erhofft, der eigentliche Sinn des Wunsches?
       
       Ich wünschte, ich könnte die Farbe Gelb sein, oder geblümte Kleider mit
       Spitzenärmeln, oder vielleicht die Pflanzenkübel auf dem Balkon meiner
       Mutter. Ich wünschte, ich wäre eine wilde Blume oder eine Gardenie, eine
       Hauskatze oder eine Quelle, eine mittelgroße Kaffeebohne oder ein leichtes
       Abendessen, ein auf den Berg hin geöffnetes Fenster oder ein verpacktes
       Geschenk, eine alte Uhr oder der Ring einer Großmutter, ein Musikstück oder
       ein Klavier im Haus einer reichen Frau.
       
       Ich wünschte, ich wäre irgendetwas, alles, nichts. Hauptsache, ich wäre
       nicht ich, eine Frau mit gewöhnlichen Gesichtszügen, von durchschnittlicher
       Größe, durchschnittlichem Gewicht und durchschnittlicher Schönheit, aus
       einem fernen Land, das alle hassen und das sie endgültig zerstört sehen
       wollen. Vielleicht kennst du den Namen meines Landes nur aus den
       Nachrichten, aus den Berichten der Vereinten Nationen und den Resolutionen
       des Sicherheitsrats, und vielleicht weißt du nur, dass es zu einer Bürde
       geworden ist, zu einer schweren Last auf den Schultern dieser Welt!
       
       Vergiss mein Land jetzt einmal, und lass mich von mir erzählen: In einem
       Monat werde ich dreißig, und bis jetzt weiß ich nicht, was einmal aus mir
       werden soll oder wie ich mich definieren kann, vor allem weil ich gegen
       meinen Willen Jura studiert habe. [1][In Syrien] kann man sich aussuchen,
       was man studieren will, ohne dass sich die Regierung einmischt, die den
       Notendurchschnitt für jeden einzelnen Fachbereich festlegt.
       
       Ich träumte davon, Journalistin zu werden, das war der einzige konstante
       Traum meines Lebens, aber ein fehlender Notenpunkt hinderte mich daran und
       lenkte meinen Berufsweg in eine andere Richtung. Ich habe versucht, als
       Anwältin zu arbeiten, aber ich war nicht geeignet für diese komplizierten
       Verfahren.
       
       Das damalige repressive Regime mit all seiner Brutalität und Korruption
       verdiente eine Anwältin, die weniger an die Menschenrechte glaubt als ich.
       Dieser Satz ist übrigens ein Klischee, das die erhabenen Herren,
       üblicherweise, zu Frauen sagen, wenn sie ihre Kolleginnen ohne große
       Verluste loswerden wollen. Und ich habe den Satz so oft gehört, dass er zu
       meinem Lieblingsspruch geworden ist.
       
       Vor etwa anderthalb Jahren wurde ich arbeitslos und ich wünschte, ich würde
       es bis auf Weiteres bleiben. Ich verbringe den ganzen Tag damit, Arbeit zu
       suchen, und wenn ich die Hoffnung verliere, verbringe ich die Zeit im Suq,
       ich kaufe europäische Secondhandkleidung, meist schwarze oder beige Hosen,
       weite einfarbige Hemden und abgetragene Turnschuhe.
       
       Ich trage einen schweren Rucksack mit mir herum, der mir andauernde
       Schmerzen bereitet, mit Laptop, Ladegeräten, Powerbank und vielen
       Medikamenten gegen Depressionen, Entzündungen, Sorgen und Kopfschmerzen.
       Ich setze mich allein in ein Café – dasselbe Café seit zehn Jahren –, weil
       ich Angst habe vor neuen Orten, vor Fremden und vor der Einsamkeit. In dem
       Café habe ich studiert, meinen Abschluss gemacht, gearbeitet und mit einer
       Tasse Kaffee die Jahre der Erniedrigung, der Unterdrückung und des Todes
       überstanden.
       
       Als ich das Café kennengelernt habe, war ich Studentin im ersten
       Studienjahr und wir waren eine Gruppe von neun Personen. Dann reduzierte
       sich unsere Zahl nach und nach, bis ich allein dort saß, ohne Freunde, alle
       sind ausgewandert und noch keiner ist zurückgekommen. Manche von ihnen
       waren dazu gezwungen. Ein Leben voller Gefahren, die Freiheit bedroht durch
       Verhaftung, die Häuser demoliert und bombardiert, die Würde verletzt und
       ausgelöscht, entweder überleben oder untergehen.
       
       Andere hatten ein paar Möglichkeiten, wenige zwar, aber sie existierten,
       letztlich waren sie alle mutiger als ich, sie waren in der Lage, alles
       hinter sich zu lassen und für eine bessere Zukunft ins Ungewisse
       aufzubrechen, und ich beneide sie wirklich sehr, die, die gegangen sind und
       sich eine neue Chance, ein neues Leben geschenkt haben.
       
       Es gibt nur wenige literarische Zitate, die ich auswendig kann, doch da ist
       eine Passage von Amin Maalouf in seinem Roman „Die Verunsicherten“, die
       lautet: „Wenn keiner von uns gestorben wäre, wenn keiner von uns verraten
       hätte, wenn keiner von uns in die Fremde gegangen wäre, wenn wir nicht zum
       Gespött der Welt geworden wären, zu ihrer Obsession, ihrer Vogelscheuche,
       ihrem Sündenbock.“
       
       Ich kenne diese Stelle auswendig und denke darüber nach, wenn all das nicht
       geschehen wäre, wie würde mein Leben aussehen? Wenn ich mehr Glück gehabt
       hätte, wenn mein Land mehr Glück gehabt hätte, wenn ich nicht den Preis der
       Revolution, die Bedeutung des Todes, den Geschmack des Blutes kennengelernt
       hätte, wenn das Leben einfacher wäre, als es nun ist, wenn Freiheit ein
       gewöhnliches Wort wäre, für das niemand getötet wird.
       
       Und ich weiß, dass ich nicht die Einzige bin, die so denkt, vielleicht
       denkst auch du darüber nach, wie dein Leben aussehen würde, wenn nicht der
       Krieg in deinem Land ausgebrochen wäre. Ich würde dich gerne danach fragen,
       nach der Wunde Heimat, dem Verlust von Lebenszeit und den Details deines
       täglichen Lebens, womit du jetzt den Tag verbringst? Was beherrscht deine
       Gedanken? Bist du geworden, was du dir wünschst? Bist du eine glückliche
       Frau? Was ist die schwere Last, die du trägst? Sag mir, wer träumst du zu
       sein, wenn dein Name genannt wird?
       
       Deine Baraa
       
       Aus dem Arabischen von Barbara Winckler 
       
       Liebe Baraa, Gedanken, wie du sie hast, kommen bei mir auch auf. Ob du es
       glaubst oder nicht: Ich verstehe dich sehr gut. Ich schaue mich im Spiegel
       an und sehe die Spuren, die der Krieg auf meinem Gesicht hinterlassen hat,
       und trotzdem hoffe ich, dass die Menschen in meinem Umfeld nicht die
       dunklen Ringe unter meinen Augen und meine vorzeitig ergrauten Haare in
       Erinnerung behalten, sondern mein aufrichtiges Lächeln und meine
       grenzenlose Liebe zu dieser komplizierten, widersprüchlichen und doch
       wunderschönen Welt.
       
       Ich habe mein Zuhause verloren, meine Stadt wurde dem Erdboden
       gleichgemacht und ist feindlich besetzt, [2][mein Mann,] der nichts weiter
       getan hat, als seine Heimat zu verteidigen, ist seit über drei Jahren in
       Gefangenschaft und über meinem Kopf kreisen jeden Tag russische Drohnen und
       Raketen wie Raubvögel, jederzeit kann mich eine davon treffen.
       
       Aber selbst wenn das passiert, möchte ich, dass mein Denkmal die Liebe, der
       Geruch von Büchern, lebenspendende Umarmungen, fröhliche Erinnerungen an
       Freunde, glückliche Enkelkinder sind – und eine Schaukel mit Meerblick in
       meinem heimatlichen [3][Mariupol], befreit von den russischen Besatzern.
       Ich träume davon, dass diese Welt ein bisschen besser und gerechter wird,
       auch wenn das erst nach meinem Tod geschieht. Doch eigentlich möchte ich
       das unbedingt persönlich erleben. Aber dafür brauche ich unseren Sieg.
       
       Wenn ich „unser“ schreibe, meine ich damit nicht nur die Ukrainer. Ich
       möchte glauben, dass die ganze zivilisierte Welt an einem Sieg des Guten
       über das Böse interessiert ist. Denn wenn eine junge Mutter in Deutschland,
       Italien, Großbritannien oder den Niederlanden ihr neugeborenes Kind wiegt
       und sich sein langes und glückliches Leben ausmalt, kann sie dann
       gleichgültig bleiben gegenüber den über 300.000 Kindern, die seit Beginn
       der Großinvasion in der Ukraine geboren wurden und praktisch mit der Geburt
       zu Zielscheiben geworden sind? Manche wurden während eines russischen
       Angriffs, unter russischen Raketen und Bomben geboren, andere sind
       umgekommen, noch bevor sie ihr erstes Wort gesprochen und ihren ersten
       Schritt gemacht hatten.
       
       Irgendwo dort, außerhalb der Ukraine, werden unsere Verluste zu
       gesichtslosen Statistiken, denen man nur schwer Mitgefühl entgegenbringen
       kann. Doch ich möchte daran erinnern: Dahinter stehen echte Menschen, die
       ein langes und glückliches Leben hätten führen können, wenn die Russen
       ihnen dieses Leben nicht genommen hätten. Deshalb möchte ich die Namen
       nennen.
       
       Allein von Kindern, die während der Belagerung von Mariupol ums Leben
       gekommen sind, kann ich über 50 Namen nennen.
       
       Da sind die zehnjährige Freundin meiner Nichte Anja Sudak und ihre ältere
       Schwester Sofia, da sind zwei Nachwuchsschauspielerinnen des Stadttheaters,
       Sonia und Jelisaweta, die Turnerin Katja Djatchenko und die ukrainische
       Meisterin im Gewichtheben Alina Peregudowa. Drei wunderbare Jungs – Dima
       Panasenko, Roma Polun und Bohdan Pylypenko. Sie wurden von den Trümmern des
       Hauses Nummer 58 in der Straße des Ersten Mai verschüttet. Romana
       Mjasojedowa wurde hinterrücks erschossen, als sie in den Hof lief, um
       Wasser zu holen. Die sechsjährige Tetjana Moros wurde von ihrer Mutter mit
       ihrem Körper geschützt. Die Frau starb sofort, das Mädchen wurde ins
       Krankenhaus gebracht, dessen Intensivstation jedoch am Vortag bombardiert
       worden war, so dass das Kind nicht gerettet werden konnte.
       
       Kyrylo Handeldy und Myroslawa Lytwynenko waren erst anderthalb Jahre alt,
       Tymofej Kuryltschenko und Karolina Chadschawi zweieinhalb, Oryna Antypenko
       und Weronika Orfinjak drei, Dominika Holjakowa vier, Dascha und der kleine
       Maxym Sadniprowskyj drei Monate.
       
       Mychailo Pankinych starb in den Armen seiner Mutter. Das geschah in der
       Nacht zum 23. März 2022. Der kleine Dmytro Schuwalow starb ganz allein. Im
       März 2022 wurde sein Vater von einem russischen Scharfschützen getötet.
       Dmytro, ein Junge mit geistiger Behinderung, konnte sich nicht selbst
       versorgen. Die Leiche des Kindes wurde erst zwei Monate später gefunden.
       
       Auch die Leiche der sechsjährigen Tetjana wurde aus den Trümmern eines
       zerstörten Hauses geborgen. Ihre Mutter starb bei einem Bombenangriff. Das
       Mädchen überlebte in dem verschütteten Keller, sie kämpfte um ihr Leben,
       konnte sich aber nicht befreien und verdurstete schließlich.
       
       Kann sich der Vater eines sechsjährigen Kindes in Deutschland, Österreich,
       Belgien oder Dänemark so etwas überhaupt vorstellen?
       
       Diese Tragödien, die sich im Zentrum Europas ereignet haben, sind nicht
       mehr wiedergutzumachen, aber die Frage ist, wie viele ukrainische Kinder
       noch Opfer der russischen Aggression werden, nur weil die zivilisierte Welt
       nicht entschlossen und schnell genug gegen das Böse vorgeht?
       
       Kann man im heutigen Europa und Amerika, die den Willen zur Humanität
       bekunden, die diplomatische Immunität von Mördern als human bezeichnen? Was
       ist das für eine Welt, in der der Aggressorstaat trotz aller
       Kriegsverbrechen, Verstöße gegen die Genfer Konventionen und Missachtung
       des humanitären Völkerrechts Mitglied des UN-Sicherheitsrats bleibt und
       dort sogar ein Vetorecht besitzt,?
       
       Was in der Ukraine geschieht, ist nicht bloß eine Missachtung der
       demokratischen Welt, sondern eine direkte Bedrohung ihrer Stabilität. Der
       Geschmack von Blut und Straffreiheit haben Russland zu einem
       gemeingefährlichen Monster gemacht. Die meisten Europäer leugnen nach wie
       vor die Gefahr für sich selbst, aber das ist so, als würden sie den Kopf in
       den Sand stecken. Der Krieg gegen die Demokratie ist bereits im Gange,
       bislang jedoch auf das Gebiet der Ukraine beschränkt.
       
       Im Februar 2022 wollte ich in Mariupol glauben, dass ich im Keller
       ausharren kann, bis der Krieg vorüber ist, denn die Welt würde reagieren
       und die Gräueltaten stoppen.
       
       In der Hauptstadt der Ukraine, in der Nacht zum 17. Juni 2025, im vierten
       Jahr der Großinvasion, und noch immer sitze ich in diesem „Keller von
       Mariupol“.
       
       175 Drohnen, vierzehn Marschflugkörper, zwei ballistische Raketen in einer
       Nacht.
       
       Erschöpft von der allgemeinen Ungerechtigkeit, bete ich am nächsten Tag für
       einen Jungen, dessen Eltern in der Nähe eines von einer russischen
       ballistischen Rakete zerstörten Kyjiwer Hochhauses noch auf ein Wunder
       hoffen. Das Wunder geschieht nicht. Ich lese darüber in den Nachrichten,
       die schon morgen ihre Aktualität verloren haben und von anderen verdrängt
       sein werden. Ich habe Angst davor, deshalb speichere ich das Foto des
       unbekannten Jungen in meinem Archiv, als ob das sein Leben verlängern
       würde. Ich gehe zum Foto der Eltern zurück und betrachte ihre Rücken, die
       weder vor dem Schicksal noch vor den Blicken Fremder geschützt sind. Dieses
       Foto zeigt den Moment, in dem noch Hoffnung bestand. Leider lässt sich das
       wirkliche Leben nicht wie eine Bilderfolge zurückdrehen. 25 Tote und über
       130 Verletzte in einer Nacht, allein in einer Stadt.
       
       Facebook löscht meinen ehrlichen Beitrag darüber wegen „Anstiftung zum
       Hass“. Deshalb kopiere ich ihn hierher, erzähle dir davon und versuche,
       eine der tragischen Geschichten meiner leidgeprüften, aber standhaften
       Ukraine hier festzuhalten, in einem persönlichen Brief an eine syrische
       Autorin. Ich vertraue sie dir zur Aufbewahrung an, denn ich ja weiß nicht,
       wo die nächste russische Rakete einschlägt.
       
       Ich mache schwere Zeiten durch, aber trotzdem bin ich glücklich, eine Frau
       zu sein! Ich möchte jedes Mal als Frau geboren werden, um neues Leben in
       diese Welt bringen zu können, und zwar unbedingt in der Ukraine, um sie
       stark und blühend zu sehen. Und möge ich immer als Dichterin geboren
       werden, die keine Angst vor Gefühlen hat, sich nicht für ihre Falten schämt
       und sich über jeden neuen Morgen freut. Und die Schaukel über dem Meer im
       befreiten Mariupol soll noch in diesem Leben für mich Wirklichkeit werden!
       Denn ich vermisse meine Heimatstadt wirklich sehr. Die Besatzer werden sie
       niemals so lieben wie ich. Ich träume davon, dich dorthin einzuladen.
       
       Aber erst einmal umarme ich dich.
       
       Liebe Grüße,
       
       Deine Oksana
       
       Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe
       
       21 Dec 2025
       
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