# taz.de -- „Gewalt gegen Frauen ist kein importiertes Problem“
       
       > Vor zehn Jahren schockierte die Kölner Silvesternacht das Land.
       > Frauenrechte seien daraufhin rassistisch instrumentalisiert worden,
       > kritisiert Juristin Dilken Çelebi – bis hin zur Reform des
       > Sexualstrafrechts
       
 (IMG) Bild: Feministische Demo „Womanswalk“ 2017 in Köln
       
       Interview Patricia Hecht
       
       taz: Frau Çelebi, Anfang Januar 2016 berichteten erste Medien in Köln über
       Frauen, die in der Silvesternacht rund um den Hauptbahnhof begrapscht
       worden waren. Was war passiert? 
       
       Dilken Çelebi: [1][In der Silvesternacht] war es in Köln, aber auch in
       anderen Städten wie Hamburg in großen Menschenmengen zu Übergriffen
       gekommen. Darunter waren Diebstähle von Handys, Sachbeschädigungen und
       Böller, die in die Menge geschossen wurden. Vor allem aber gab es Hunderte
       sexualisierte Übergriffe, die für die Betroffenen teils traumatisch waren.
       
       taz: Allein in Köln wurden mehr als 1.200 Strafanzeigen erstattet, davon
       mehr als 500 wegen sexueller Übergriffe, auch Vergewaltigungen. 355
       Beschuldigte wurden später ermittelt, 33 Männer verurteilt. Muss man die
       Ereignisse als Exzess beschreiben? 
       
       Çelebi: Es war wohl einmalig, was da passierte, ein Schock, eine
       Eskalation. Allerdings nahm die Debatte schnell eine bestimmte Richtung. Es
       hieß, die Täter seien alles migrantische Nordafrikaner – „Nafris“, wie die
       Polizei schrieb.
       
       taz: War das nicht so? 
       
       Çelebi: Viele Beschuldigte waren algerische und marokkanische Staatsbürger.
       Was aber kaum diskutiert wurde [2][sind sozialstrukturelle Ursachen] der
       Ereignisse. Viele Verdächtige durften nicht arbeiten, hatten wenig Geld,
       teils keinen Aufenthaltsstatus. Teils lebten sie seit Jahren in engen
       Unterkünften, nun kam Alkohol dazu, letzteres durchaus vergleichbar mit dem
       Oktoberfest. Dass Delikte mit der Staatsangehörigkeit von Täter*innen
       zusammenhängen, dafür gibt es in der Kriminologie keine empirischen Befunde
       – sondern es sind solche Faktoren, die betrachtet werden müssen. Zudem war
       die Polizei völlig überfordert.
       
       taz: Warum? 
       
       Çelebi: Die Orte waren schlecht ausgeleuchtet, die Polizeipräsenz niedrig.
       In Köln patrouillierte das Ordnungsamt überhaupt nur bis 14 Uhr. Aber in
       der Debatte spielte das fast keine Rolle. Im Fahrwasser der sogenannten
       Flüchtlingswelle …
       
       taz: … 2015 war die Zahl der Asylsuchenden in Deutschland innerhalb weniger
       Monate deutlich gestiegen, vor allem aus Syrien, Afghanistan und Irak...
       
       Çelebi: … ging es eben vor allem um die Ethnizität der Verdächtigen.
       Gesellschaftlich hatte bereits ein Prozess der Abgrenzung begonnen: Wenn
       die hierherkommen, müssen sie erst mal unsere Normen akzeptieren. Diese
       Rhetorik fiel nun auf fruchtbaren Boden: Unter dem Deckmantel von
       Sexismuskritik waren breite Teile der Gesellschaft bereit, rassistische
       Diskurse anzunehmen oder voranzutreiben.
       
       taz: #metoo kam fast zwei Jahre nach Köln. Wie wurden Sexismus und
       sexualisierte Übergriffe damals diskutiert? 
       
       Çelebi: Wiederum zwei Jahre vor Köln, also Anfang 2013, gab es den
       [3][#aufschrei]. Feministinnen twitterten über Alltagssexismus in der
       Öffentlichkeit. Allerdings wurden derlei Erfahrungen von Frauen noch oft
       belächelt und herabgewürdigt. Auf einmal jedoch konnte mit Köln ein
       „Othering“ stattfinden: Weiße Täter standen nicht im Fokus. Die Kritik an
       patriarchalen Rollenbildern, an Besitzansprüchen an Frauen konnte
       ausgelagert werden. Sicher: Für sich genommen war, was da passiert ist,
       singulär. Trotzdem wurden Frauenrechte instrumentalisiert und rassistisch
       vereinnahmt.
       
       taz: Welche Rolle spielten die Medien? 
       
       Çelebi: Eine große. Die Bild-Zeitung schrieb vom „Sex-Mob“, der Focus
       brachte ein Cover mit einer weißen Frau, auf der schwarze Handabdrücke
       prangten – einer nackten weißen Frau wohlgemerkt. Es gab dort
       offensichtlich keinerlei Verständnis, was Sexismus ist.
       
       taz: Mit einem weiteren Hashtag, #ausnahmslos, forderten Feministinnen bald
       eine Debatte über sexualisierte Gewalt als gesamtgesellschaftliches
       Phänomen, zudem eine Reform des Sexualstrafrechts. 
       
       Çelebi: Die feministische Zivilgesellschaft wollte das seit Langem, das
       Strafrecht war nicht mehr zeitgemäß. Sexuelle Belästigung war noch kein
       Straftatbestand. Sexualisierte Übergriffe waren nur dann strafbar, wenn
       Gewalt, eine Gefahr für Leib und Leben im Spiel waren oder eine sogenannte
       schutzlose Lage ausgenutzt wurde, zum Beispiel die Haustür verschlossen
       war. Es gab deshalb enorm viele Fälle, die strafrechtlich gar nicht erfasst
       wurden.
       
       taz: Welche? 
       
       Çelebi: Überraschungsangriffe etwa, Fälle, in denen sich über den Willen
       der Betroffenen hinweggesetzt wurde oder sogenannte Klima-der-Gewalt-Fälle.
       Da hatten Betroffene schon so viel häusliche Gewalt erlitten, dass sie
       resignierten und der Täter weder drohen noch Gewalt anwenden musste.
       
       taz: In den Jahren vor Köln hatte sich dennoch einiges getan: 2011
       unterzeichnete Deutschland die Istanbul-Konvention des Europarats gegen
       Gewalt gegen Frauen. Welche Bedeutung hatte die? 
       
       Çelebi: Um die Konvention zu ratifizieren, musste das Sexualstrafrecht
       geändert werden. Das war zuletzt 1997 reformiert worden, als Vergewaltigung
       in der Ehe endlich strafbar wurde. Trotzdem war das Recht weiter nötigungs-
       und nicht einverständnisbasiert: Zwar war die körperliche Gewaltanwendung
       strafbar – aber es ging nicht darum, dass sexuelle Handlungen zwischen zwei
       Personen nur einvernehmlich stattfinden dürfen. Diesen gedanklichen Wechsel
       verlangte aber die Istanbul-Konvention. Entsprechend forderten Verbände,
       dass „Nein heißt Nein“ gelten muss. Im Februar 2015, also fast ein Jahr vor
       Köln, hatte der damalige Justizminister Heiko Maas (SPD) eine
       Reformkommission eingesetzt, die Vorschläge erarbeiten sollte.
       
       taz: Und dann kam Köln. 
       
       Çelebi: Plötzlich ging es Schlag auf Schlag. Feministische Verbände sahen
       sich in der Bredouille: Legitime Forderungen, die sie seit Langem hatten,
       wurden rassistisch vereinnahmt. Weiter für sie zu plädieren, sich aber
       gleichzeitig vom Rassismus abzugrenzen, war nicht einfach.
       
       taz: War der Preis für die Reform des Sexualstrafrechts 2016, dass sie
       rassistisch motiviert war? 
       
       Çelebi: Das Verfahren wurde durch Köln enorm beschleunigt. Trotzdem: „Nein
       heißt Nein“ war ein Paradigmenwechsel, der sich schlagwortartig in den
       Köpfen verfestigte. Aufgrund der Eile hat das Gesetz aber Defizite.
       
       taz: Welche Lücken sehen Sie? 
       
       Çelebi: Das Gesetz erfasst keine Fälle von passivem Verhalten der
       Betroffenen. Die Rechtspraxis wiederum erfasst oft nur unzureichend Fälle
       von Schockstarre oder als ambivalent markiertes Verhalten – wenn eine
       Person zum Beispiel erst sexuelle Handlungen mitmacht, dann aber nicht mehr
       möchte. Da kommen Vergewaltigungsmythen und geschlechterbezogene Stereotype
       zum Tragen: Dass es für Frauen üblich sei, sich passiv zu verhalten, weil
       sie erobert werden wollen, und dass ein Nein deshalb nicht erkennbar war.
       Es herrscht immer noch die Annahme der mehrheitlichen
       „Fremd“-Vergewaltigung, also der, dass die „richtige“ Vergewaltigung im
       Dunkeln von einem unbekannten Täter erfolgt.
       
       taz: Womit sich der Kreis zu Köln schließt. 
       
       Çelebi: Je mehr eine Vergewaltigung von diesem Mythos abweicht, desto mehr
       kommt es zu Freisprüchen. Generell problematisch finde ich aber vor allem,
       dass die Grundprämisse des Sexualstrafrechts immer noch ist, dass
       unwidersprochene sexuelle Handlungen eigentlich willkommen sind – und es
       der betroffenen Person obliegt, ihr Nein kundzutun. Das ist mit dem
       menschenrechtlichen Verständnis der sexuellen Selbstbestimmung nicht
       vereinbar: Es gibt ja kein Anrecht auf sexuelle Handlungen.
       
       taz: Was fordern Sie? 
       
       Çelebi: Die grundsätzliche Annahme muss sein: Nur einverständliche sexuelle
       Handlungen sind willkommen. Passivität ist kein Einverständnis. Wir fordern
       also „[4][Ja heißt Ja]“.
       
       taz: Hieße das eine erhöhte Verurteilungsquote? Die lag etwa in Berlin 2023
       bei drei Prozent der angezeigten Fälle. 
       
       Çelebi: Beweisschwierigkeiten bleiben bei „Ja heißt Ja“ bestehen. Aber etwa
       Passivität gäbe es als Kriterium nicht mehr – es wäre die Pflicht des
       Gegenübers, sich des Einverständnisses zu vergewissern. Auf jeden Fall muss
       eine solche Änderung des Strafrechts kommunikativ gut begleitet werden.
       
       taz: Was heißt das? 
       
       Çelebi: Es braucht ein gesellschaftliches Wissen darüber, was konsensuale
       sexuelle Handlungen eigentlich sind. Polizei, Justiz und Staatsanwaltschaft
       müssen verpflichtend fortgebildet werden, Befragungstechniken dürfen die
       Betroffenen nicht erneut traumatisieren.
       
       taz: Laut Koalitionsvertrag der aktuellen Regierung ist derzeit keine
       grundlegende Reform des Sexualstrafrechts geplant. Nur bei
       Gruppenvergewaltigungen soll der Strafrahmen erhöht werden. 
       
       Çelebi: Ich sehe auch hier klare Kontinuitäten zu Köln. Das
       Zustrombegrenzungsgesetz hat Merz auch damit begründet, die „alltäglich
       stattfindenden Gruppenvergewaltigungen aus dem Asylbewerbermilieu“
       eindämmen zu wollen. Für die gibt es keine Belege. Merz bedient historisch
       etablierte Narrative des Fremden, der unsere modernen deutschen Frauen
       gefährdet.
       
       taz: Auch die Stadtbilddebatte schlägt in diese Kerbe. 
       
       Çelebi: Was da ventiliert wird, hat nichts mit dem tatsächlichen Schutz von
       Frauen gegen geschlechtsbezogene Gewalt zu tun. Wir stehen als
       feministische Zivilgesellschaft immer noch und schon wieder vor der
       Herausforderung, wichtige Forderungen wie „Ja heißt Ja“ zu stellen und
       gleichzeitig zu entlarven, welche Forderungen populistisch und rassistisch
       sind. Gewalt gegen Frauen ist kein importiertes Problem. Wir müssen den
       Schutz der sexuellen Selbstbestimmung verbessern – unabhängig von der
       Herkunft von Betroffenen und Tätern.
       
       13 Dec 2025
       
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