# taz.de -- Nihilismus im Iran: Niemand glaubt an ein Morgen
> Nach dem Luftkrieg zwischen Israel und Iran im Juni offenbart sich eine
> nihilistische Grundstimmung in der Bevölkerung.
Gedenktage werden oft zu unvergesslichen Feiertagen, zu wahren Lehrzeiten.
Am 14. Oktober starb Nasser Taghvai, der große Filmschaffende Irans, der
aus der Literatur kam. Dieses Ausnahmekünstlers zu gedenken, seine
zahlreichen Werke zu ehren, seine bleibenden Verdienste für das iranische
Kino zu würdigen, dazu bräuchte man mehrere Tage und verschiedene
Veranstaltungen. Zumal jede Zusammenkunft eine Sympathiebekundung für den
bekannten Neinsager bedeutet.
„Das Kino wurde in Iran ein zweites Mal erfunden“, sagte er vor Jahrzehnten
– und die Filmgeschichte gibt ihm in gewisser Weise recht, wenn man sich
heute die besondere Stellung des iranischen Kinos in der Filmwelt anschaut.
Momentan reist der Regisseur Jafar Panahi durch die USA, um sein für den
Oscar nominiertes Werk [1][„Ein einfacher Unfall“] vorzustellen.
Die Maßstäbe, die Filmemacher wie Taghvai, Panahi, Mohammad Rasulof, Abbas
Kiarostami, Mohsen Makhmalbaf und andere setzten, sind so tief verankert,
so solide, dass sie sogar den unbarmherzigen Zensurfunktionären der
islamischen Republik widerstehen. Noch. Taghvais berühmte dreiteilige
Komödie „Mein lieber Onkel Napoleon“ (1976) wurde deshalb zu einem
Jahrhundertwerk, weil er darin meisterhaft eine iranische Geisteshaltung
offenbart, die für viele wie eine unheilbare Krankheit immer und überall
präsent ist, allen Regimewechseln und Revolutionen, allen Ortswechseln zum
Trotz: Gemeint ist jener unverwüstliche Glaube an eine
Verschwörungstheorie, die den Westen, vor allem die Briten, für alles und
jedes verantwortlich macht, und die sich immer noch hält wie ein Glaube,
eine ewige Überzeugung.
Am 13. November, fast einen Monat nach dem Tod des 84-jährigen Taghvai,
gedachten die Dokumentaristen des Landes in einer ausgedehnten Werkschau
ihres Altmeisters. Nach den Filmvorführungen sollte der Soziologe Hatam
Qaderi über den Zustand der Gesellschaft und die Zukunft des iranischen
Films sprechen. Eine kluge Wahl, wie sich später herausstellte. Der
69-jährige Forscher und Professor für Politikwissenschaft ist ein
scharfsinniger Beobachter, der seit Jahren nicht mehr an Universitäten
tätig ist, weil er zu viel und zu oft aneckte: Auch heute beherrscht er
praktisch den öffentlichen Diskurs im politischen Raum, man hört ihn
regelmäßig in irgendeiner der Veranstaltungen, die noch geduldet werden.
Qaderi hat sein eigenes Vokabular, er redet Tacheles, wirkt bescheiden und
wird wahrscheinlich deshalb allseits als politischer Analyst geachtet. Im
persischsprachigen Wikipedia werden von ihm 19 Bücher und 49 Essays
erwähnt, die er über verschiedene historische wie aktuelle Themen
veröffentlicht hat. In all seinen Büchern, Artikeln und Interviews hat er
ein Hauptthema: die Widersprüche zwischen dem schiitisch-politischen Denken
und der Demokratie.
„Ich maße mir nicht an, euch Dokumentaristen etwas zu sagen, denn ich bin
nicht vom Fach“, beginnt er einen fast zweistündigen Vortrag, [2][der auf
Youtube zu hören ist.] Und fügt dann hinzu, er versuche in seiner Studie
mit dem Titel „Bleibende und vergessene Bücher“, die Gründe aufzuzählen,
warum im Iran manche Werke wie Taghvais „Mein lieber Onkel Napoleon“
unvergesslich, ja unsterblich bleiben. Statt über den Dokumentarfilm als
Format zu sprechen, wolle er mit einer Beschreibung der Zustände etwas
versuchen, was wahrscheinlich auch Dokumentaristen nützlich sein könnte.
Und beginnt dies mit einem vielsagenden, knalligen Satz: „Der heutige Iran
ist ein Land ohne Ideale und am Rande absoluter Sinnlosigkeit.“
Qaderi zählt einige Gründe für seine Feststellung auf: das Gefühl des
Scheiterns und der Hoffnungslosigkeit, das ewige Warten auf einen Retter
und eine „Egal-wie“-Haltung bei der überwiegenden Mehrheit. Man könnte auch
von einer nihilistischen Haltung sprechen, sagt er. Man dürfe aber nicht
vergessen: Für den Schiismus sei Nihilismus das Wesentliche, weil das
Warten auf den verborgenen Imam im Mittelpunkt des Glaubens beziehungsweise
jeglichen Handelns stehe, womit „Heute“ und „Jetzt“ zwangsläufig
zweitrangig und wertlos werden.
Bei allem und allen, was und wen er beobachte, sei es bei den Mächtigen
oder Ohnmächtigen, stelle er etwas Gemeinsames fest: das Fehlen einer
Perspektive, das Fehlen von Idealen oder etwas Zukunftweisendem, selbst für
eine relativ absehbare Zeit. Niemand glaube an ein „Morgen“. Die allgemeine
Passivität, die Gleichgültigkeit der Gewalt gegenüber oder der übertriebene
Konsumismus jener, die sich diesen noch leisten können, seien ebenso Formen
des Nihilismus wie die absurde Aggressivität der Mächtigen. Qaderi zählt
zunächst einige Beispiele aus dem Alltag auf, etwa die Zunahme der
sinnlosen Gewalt auf den Straßen, die gestiegene Kleinkriminalität oder den
übertriebenen Zynismus, vieles nicht sehen zu wollen.
All das sieht er als Erscheinungen der Perspektivlosigkeit und der
Absurdität der Zustände an, um dann schließlich zum Nihilismus der
Machtspitze zu kommen. „Schauen Sie sich doch die Großplakate und Plastiken
des knienden römischen Kaisers Valerian vor dem Sassanidenkönig Shapur an,
die die Edessa-Schlacht 260 nach Christus darstellen und die heutigen, mit
Rauch und Ruß verdunkelten Hauptstraßen Teherans zieren sollen“, ruft er
ins Publikum, macht eine lange und vielsagende Pause und sagt dann sehr
betont: „Das ist der Nihilismus der Machtspitze dieses Landes.“ Die
Geschichte, wie diese Plastiken und Plakate plötzlich in der Öffentlichkeit
der Islamischen Republik auftauchten, sei ein hervorragendes Sujet, ein
toller Stoff für jeden Dokumentaristen.
## Der Tag der schiitischen Identität
Der alte Professor trifft ins Schwarze. Jeder seiner Zuhörer weiß genau,
was und wen er meint und welche Geschichte er anspricht. Es war der Abend
des 25. Juni 2025, die alljährlich wiederkehrende Nacht der Nächte, die
Ashura-Nacht, nach dem islamischen Kalender der 10.Tag des Monats Moharram
und der Anfang einer zweimonatigen Trauerzeit. Für die schiitische
Geschichtsschreibung ist dies ein wahrer Gottestag, an dem der
Prophetenenkel Hossein, der dritte Imam, 680 in der Wüste von Kerbela durch
Machtrivalen bestialisch ermordet wurde. Alles Schiitische, die gesamte
Machtsymbolik des Klerus, der Märtyrerkult, die großen Straßenprozessionen
samt Selbstgeißelung, die demonstrative Todesbereitschaft der Massen, die
Kanzelreden der Propagandisten und vieles mehr findet an diesem Tag statt,
und dies seit Jahrhunderten. Das ist der Tag der schiitischen Identität:
„Alles, was wir haben, verdanken wir Ashura“, sagte Ajatollah Chomeini, der
Gründer dieser „Republik“.
An einem solchen Tage muss der mächtigste Mann sich trauernd zeigen – es
gibt kein Entrinnen. Alle Jahre, seitdem er an der Macht ist, erscheint
Chamenei gegen 10 Uhr abends an diesem Tag in einem schwarzen Gewand.
Schluchzend hört er den klagenden und ebenfalls weinenden Sänger und läutet
damit die zweimonatige Trauer im ganzen Land ein. Er sitzt dabei auf einem
hohen Podest, die Masse vor ihm im Saal geißelt sich schluchzend.
Doch in diesem Jahr sah die Welt anderes. Israel hatte zwei Wochen zuvor
[3][mit einer Serie verheerender Angriffe] Irans gesamte Militärspitze,
seine Luftabwehr sowie seine wichtigsten Atomanlagen und -wissenschaftler
ausgeschaltet. Seit [4][Kriegsbeginn] war der oberste Religionsführer Ali
Chamenei nicht gesehen worden, er blieb auch an diesem entscheidenden Abend
in seinem Versteck. Jeder hätte gewusst, dass er praktisch am Ende sei.
Er erschien nach zwölf Tagen völliger Verborgenheit plötzlich in dem
schwarz ausgekleideten Saal, und die bestellte Masse begann zu jubeln und
laut zu weinen. Mit einer kurzen Handbewegung brachte Chamenei die Masse
zum Schweigen und rief mit dem Zeigefinger den Sänger zu sich. Kurz und
laut sagte er ins Mikrofon: „Singe ای ایران – Oh du Iran.“ Dieses Lied ist
eine Version der royalen Nationalhymne, die seit der islamischen Revolution
verboten war. Die Menge tobte, jubelte und geißelte sich im Rhythmus der
königlichen Hymne, die der Sänger weinend vortrug. Dann verschwand Chamenei
wieder in seinem Versteck.
Für die Dauer seines kurzen Wiederverschwindens wurde das Internet im
gesamten Land ausgeschaltet. Denn Netanjahu hatte andeutet, auch ihn töten
zu wollen. Sofort nach diesem Auftritt schaltete der gesamte
[5][Propagandaapparat Irans] auf Nationalismus um. In den Statuen und auf
Plakaten des vor einem persischen König knienden römischen Kaisers, der
fast 1.000 Jahre vor Mohammed herrschte, sieht Qaderi den Nihilismus, die
Ideen- und Perspektivlosigkeit der Mächtigen dieser „Republik“. Und ja,
auch ihr Ende.
Transparenzhinweis: In einer früheren Fassung dieses Textes wurde das Jahr
der Schlacht von Edessa fälschlich mit 260 v. Chr. angegeben. Die Angabe
wurde korrigiert; korrekt ist 260 n. Chr..
6 Dec 2025
## LINKS
(DIR) [1] /Goldene-Palme-fuer-Jafar-Pahani-in-Cannes/!6086991
(DIR) [2] https://www.youtube.com/watch?v=JfCKKLq26fg
(DIR) [3] /Recherche-zu-New-York-Times/!6109387
(DIR) [4] /Israel-Iran-und-das-Mullahregime/!6094358
(DIR) [5] /Sanktionen-gegen-Iran/!5901403
## AUTOREN
(DIR) Ali Sadrzadeh
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