# taz.de -- Expertinnen zu Antisemitismus: „Sorge um die Kinder, um sich selbst und um die Zukunft“
       
       > Friederike Lorenz-Sinai und Marina Chernivsky forschen zu jüdischem Leben
       > in Deutschland seit dem 7. Oktober 2023. Die Bedrohung halte an, sagen
       > sie.
       
 (IMG) Bild: Trauer im Kibbuz Reim: Die am 7. Oktober getötete Geisel Dror Or wird am 30. November aus dem Gazastreifen nach Israel gebracht
       
       taz: Frau Chernivsky, Frau Lorenz-Sinai, für ihre Forschung sprechen Sie
       mit Juden*Jüdinnen in Deutschland über ihre Erfahrungen seit dem
       [1][Hamas-Überfall vom 7. Oktober 2023]. Seit ein paar Wochen sind die
       Geiseln frei, der Gaza-Krieg scheint vorerst beendet. Wie geht es ihren
       Gesprächspartner*innen?
       
       Chernivsky: Die Erfahrungen des 7. Oktober sind tief im Erleben unserer
       Gesprächspartner*innen verankert und lassen sich nicht einfach
       zurückdrehen. Der Angriff war auch darauf ausgelegt, weit über Israel
       hinaus Wirkung zu entfalten. Die gezielte Verbreitung von Videos über die
       Gewalttaten richtete sich nicht zuletzt an jüdische Communities in der
       Diaspora, die dadurch unmittelbar getroffen und tief verunsichert wurden.
       Auch [2][die Geiselnahmen] und die psychischen Folter der Angehörigen haben
       die jüdischen Communities weltweit sehr beschäftigt.
       
       Lorenz-Sinai: Wir haben die Erhebungen überwiegend im Sommer 2025
       abgeschlossen und sind noch in einzelnen Nacherhebungen. Deutlich wird: Bei
       unseren Gesprächspartner*innen gibt es durchaus Erleichterung vor
       allem nach der Befreiung der noch lebenden Geiseln und dem fragilen Ende
       des Krieges. Aber es bleiben auch große Belastungen angesichts der
       weltweiten antisemitischen Mobilisierung und der Exklusion. Die Teilhabe
       von Jüdinnen*Juden am öffentlichen Leben wurde in den letzten zwei
       Jahren weiter eingeschränkt.
       
       taz: Die Zeit heilt diese Wunden nicht? 
       
       Lorenz-Sinai: Es geht nicht nur um das kollektive Trauma des 7. Oktober,
       sondern auch um die seitdem andauernde neue Phase antisemitischer
       Mobilisierung und den damit verbundenen Vertrauensverlust in den
       gesellschaftlichen Halt und Diskriminierungsschutz. Die Gefühlskälte aus
       dem nichtjüdischen Umfeld, die verlorenen Freundschaften, die
       antisemitische Bild-Sprache in Social Media und auf Demos, die Gewalttaten
       und regelmäßig aufgedeckten Anschlagspläne, das andauernde Gefühl der
       Ablehnung und Bedrohung. Aus dem Ausnahmezustand ist eine neue Normalität
       geworden.
       
       Chernivsky: Unmittelbar nach dem 7. Oktober waren die traumatische Wirkung
       und das Gefühl der Überwältigung noch sehr groß. Einige weinten, rangen um
       Worte; es war deutlich spürbar, dass die Interviews eine Form der Reflexion
       darstellten. Es ist anzunehmen, dass die Überwältigung mit der Zeit
       abnimmt, aber es setzen insbesondere nach dem vorläufigen, immer noch
       fragilen, Ende des Krieges andere Verarbeitungsprozesse ein – zum Beispiel
       die Verarbeitung der massiven Einschnitte und Veränderungen in ihrem Leben
       als Jüdinnen*Juden hier in Deutschland.
       
       taz: Inwiefern? 
       
       Lorenz-Sinai: Unsere Gesprächspartner*innen schildern als kollektive
       Erfahrung den Verlust und Wegbruch von Freundeskreisen. Neben einzelnen
       zwischenmenschlichen Nachfragen und Solidaritätszeichen erlebten sie im
       nichtjüdischen Umfeld nach dem 7. Oktober Schweigen, Rückzug, aggressive
       Konfrontation und Schuldumkehr. Eine große Rolle spielen auch der Rückzug
       oder die Verdrängung aus politischen Gruppen und der linken Szene. Eine
       unserer Interviewpartner*innen sagte uns, der 7. Oktober „gave me the
       truth“. Sie bezieht sich dabei auf Boykotterfahrungen in der Kunstszene, in
       der sie sich zuvor zugehörig fühlte und gut vernetzt war. Eine andere hat
       ihre Dissertation abgebrochen, und sich beruflich umorientiert um dem
       Uni-Kosmos zu entkommen, in dem sie für sich als Jüdin keine Perspektiven
       mehr sieht.
       
       taz: Beginnt bei Ihren Gesprächspartner*innen nun so etwas wie eine
       psychologische Verarbeitung dessen, was da die letzten zwei Jahre passiert
       ist?
       
       Chernivsky: Die Verarbeitung belastender Ereignisse, die das Vertrauen in
       soziale Systeme beeinträchtigen, ist ein langwieriger Prozess, der erst
       einsetzen kann, wenn eine gewisse zeitliche Distanz zum Geschehen möglich
       ist. Es geht darum, Brüche zu integrieren und eine Konstanz sowie
       Schlüssigkeit der eigenen Erzählung wieder herzustellen. Es geht auch
       darum, wieder eine Form von Normalität herzustellen.
       
       taz: Zuletzt ging die Zahl der registrierten antisemitischen Straftaten
       etwas zurück…
       
       Chernivsky: Es ist anzunehmen, dass die antisemitische Enthemmung etwas
       nachlassen wird. Erste Anzeichen deuten auf einen Rückgang der gemeldeten
       beziehungsweise erfassten Fallzahlen hin. Aber die Struktur und die
       Konstanz des Antisemitismus werden bleiben und die gesellschaftlichen wie
       auch institutionellen Lücken auch. Es ist ja auch nicht so, also habe es
       vor dem 7. Oktober keinen Antisemitismus gegeben.
       
       taz: Wie blicken Ihre Gesprächspartner*innen in die Zukunft?
       
       Chernivsky: Charakteristisch ist, dass die Interviewpartner*innen in
       ihren Erzählungen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wechseln.
       Das ist sicherlich Teil der Jüdischen Erfahrung. Unsere
       Gesprächspartner*innen versuchen in ihrer eigenen Biografie, in der
       familiären Erinnerung und in der jüdischen Geschichte Anhaltspunkte und
       Erklärungen dafür, was heute geschieht und was in der Zukunft noch
       passieren wird. Die implizite Hoffnung, dass die Welt nach der Shoah eine
       andere sei, ist womöglich unwiderruflich zerbrochen.
       
       Lorenz-Sinai: Eine junge Teilnehmerin hat uns berichtet, wie sie die
       Warnungen ihrer Eltern früher nicht ernst genommen habe. Die hätten immer
       gesagt: Du wirst noch sehen, alle werden dich dafür hassen, dass du jüdisch
       bist. Infolge von ausgrenzenden und übergriffigen Erfahrungen nach dem 7.
       Oktober erinnert sie sich an diese Warnung und bewertet sie neu.
       
       taz: Israel war einmal als der sichere Hafen für die Juden*Jüdinnen
       gedacht. Kann es diese Rolle noch erfüllen, nach dem, was die letzten zwei
       Jahre geschehen ist? 
       
       Chernivsky: In der aufgebrochenen Grenze am 7. Oktober steckt viel
       Symbolik. Die Invasion und der Massenmord der Terrorgruppen vor den
       laufenden Kameras, während die Armee nicht beschützt. Damit wurde das
       historische Versprechen angegriffen. Das Vertrauen in diesen Schutz hat
       Brüche bekommen. Gleichzeitig setzen sich einige Studienteilnehmende
       teilweise intensiv mit ihrer Beziehung mit Israel auseinander.
       
       Lorenz-Sinai: Als sehr schmerzhaft schildern einige den wachsenden Druck
       auf Jüdinnen*Juden, sich von Israel zu distanzieren. [3][Viele haben sehr
       kritische Positionen zum Handeln der aktuellen Regierung], möchten diese
       aber vor der Kulisse des antisemitischen Diskurses im nichtjüdischen Umfeld
       nicht mehr äußern, um nicht instrumentalisiert zu werden. Einige unserer
       Studienteilnehmer*innen äußerten Wut über die andauernden
       Raketenangriffe gegen Israel, aber auch über die israelische Regierung,
       über den Krieg und die immer wieder gescheiterten Verhandlungen. Zugleich
       erlebten viele offene Diskriminierung und auch physische Übergriffe, nur
       weil sie beispielsweise in der Bahn Hebräisch sprachen, oder
       Grenzüberschreitungen, wenn sie beim Arzt sagten, dass sie aus Israel
       kommen. Solche Erfahrungen von Diskriminierung entlang von Herkunft und
       Muttersprache und gruppenbezogene Gewalt führen einigen neu vor Augen: Wo
       sonst bin ich vor Antisemitismus sicher?
       
       taz: Sie haben zuletzt auch erste Interview mit Kindern und Jugendlichen
       geführt. Was berichten sie? 
       
       Lorenz-Sinai: Es deutet sich an, dass jüdische Kinder und Jugendliche
       wieder zunehmend gezwungen werden, ihre jüdische Identität zu verstecken.
       Die Jugend ist eine Phase, in der man sich selbst sucht, Rollen
       ausprobiert. Hierbei in diese Art jüdischer Unsichtbarkeit gezwungen zu
       werden, ist eine entwicklungspsychologische Einschränkung. Die Kinder und
       Jugendlichen finden aber ihren eigenen Umgang damit. Das Zurückhalten eines
       Teils der Identität ermöglicht die Teilnahme am Alltag in nichtjüdischen
       Settings.
       
       taz: Was macht das mit den Eltern? 
       
       Lorenz-Sinai: Eltern stehen vor vielen schwierigen Fragen: Wo ist mein Kind
       noch sicher? Auf der jüdischen Schule, die ein potentielles Ziel von
       Anschlägen ist? Auf der öffentlichen Schule, wo mein Kind zunehmend
       unangenehme Reaktionen bis hin zu Übergriffen fürchten muss, wenn seine
       jüdische Zugehörigkeit bekannt wird? Oder wenn Eltern, die Hebräisch
       sprechen oder jüdische Zeichen an sich tragen im öffentlichen Nahverkehr
       angegangen und angeschrien werden, während ihr Kind dabei ist: Wehre ich
       mich? Wie schütze ich mein Kind? Welche Reaktion lebe ich meinem Kind vor?
       Diese aufgezwungenen Entscheidungen belasten.
       
       Chernivsky: Diese Dilemmata sind nicht wirklich lösbar; Eltern müssen sich
       situativ anpassen, zwischen Sichtbarkeit und Sicherheit abwägen. Es
       entsteht eine Form der aufgezwungenen Wachsamkeit. Nie gibt es komplette
       Entspannung, es bleibt immer die Sorge um die Kinder, um sich selbst und um
       die Zukunft. Ein Teilnehmender berichtete, wie er sich früher geweigert
       habe, seinen jüdischen Namen zu verstecken und die Kette mit dem Davidstern
       abzunehmen, wie seine Eltern es so wollten. Jetzt sagt er, er könne ihre
       Sorge nachvollziehen und würden seinen Kindern dasselbe raten.
       
       taz: Was bedeutet es, solange dem Gefühl konstanter Bedrohung leben müssen?
       
       Chernivsky: Diese Dilemmata sind Teil der jüdischen Erfahrung. Abwägen,
       prüfen, vorausschauen, vorbereitet sein. Manche beschreiben, dass es kaum
       zwei oder drei aufeinanderfolgende Generationen gibt, die nicht irgendeine
       Form gewaltsamer Zäsur erlebt hätten. Das hat psychische Folgen, die
       ihrerseits soziale Auswirkungen nach sich ziehen.
       Studienteilnehmer*innen schildern, wie sich der psychische Druck
       unter anderem in Schlafstörungen und depressiven Verstimmungen äußert. Eine
       Gesprächspartnerin beschrieb das als den Verlust der Unbeschwertheit. Wir
       merken das auch in den Interviews direkt, beispielsweise wenn unsere
       Teilnehmenden weinen.
       
       taz: Wie hält man das aus? 
       
       Lorenz-Sinai: Dass Menschen angesichts der Situation Sorge, Angst oder Wut
       empfinden, bedeutet ja nicht, dass sie sich nur noch zu Hause einschließen.
       Sie leben ihr Leben: Sie haben fröhliche Momente, gehen feiern, Kinder
       werden geboren. Dabei sind sie natürlich auch in Beziehung mit der
       nicht-jüdischen Welt, es ist keine abgekapselte Community. Was bleibt ist
       aber ein vorsichtiger Umgang mit der eigenen jüdischen Zugehörigkeit und
       die Entwicklung von schützenden Praktiken.
       
       Chernivsky: Was wir sehen ist eine große Suchbewegung. Der 7. Oktober hat
       unsere Teilnehmenden mit existenziellen Fragen konfrontiert. Es geht um die
       Frage der Zugehörigkeit, Identität in der Diaspora, nach der Haltung zu
       Israel. Und eine Antwort darauf ist die innerjüdische Kohäsion, die
       Bewegung in die jüdische Community hinein. Es ist eine historisch eine
       vertraute Praxis: innerjüdisches Zusammenrücken. Das erzeugt ein Gefühl der
       Validierung der eigenen Erfahrungen. Zugleich ist es aber auch ein Hinweis
       darauf, dass diese Räume so notwendig sind, weil andere Räume enger werden
       und vermehrt Ausschlusserfahrungen gemacht werden.
       
       4 Dec 2025
       
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