# taz.de -- Festival für Kino aus Frankreich: Blinde Flecken
> Koloniale Auslassungen und futuristische Kontrollsysteme: Die 25.
> Französische Filmwoche zeigt in Berlin, wie viel Bedeutung im Übersehenen
> steckt.
(IMG) Bild: Die Realitäten der Ehe für alle in Frankreich: Szene aus „15 Liebesbeweise“
„Ich weine nicht, nur meine Augen“. Lilian Steiner sitzt mit festgezurrtem
Gesicht da, während der Arzt den blendenden Lichtspalt auf ihrer Pupille
platziert. Etwas muss doch entzündet sein, irgendetwas irritiert,
vielleicht ein Fremdkörper? „Hast du was gefunden?“ Ununterbrochen laufen
Tränen an ihren Wangen herab. „Nein, alles normal.“
Ihre Augen weinen, seitdem sie vom Suizid ihrer langjährigen Patientin
erfahren hat. Doch die von [1][Jodie Foster] verkörperte Psychiaterin, die
verinnerlicht hat, lieber andere zu durchleuchten, vermutet stattdessen
einen Mord. Der Film „Vie Privée“ folgt ihr auf einer Spurensuche, die sich
unmerklich in eine Erkundung ihrer eigenen Schattenseiten verwandelt.
Blinde Flecke durchziehen viele der Filme dieser 25. Französischen
Filmwoche. Bis zum 26. November entfaltet das Berliner Festival ein
Panorama poetischer, politischer, leiser und wütender Arbeiten des jüngsten
frankophonen Kinos. Dabei stellt sich immer wieder die Frage, was
geschieht, wenn persönliche Gewissheiten oder gesellschaftliche
Selbstbilder ins Schwanken geraten.
Ein blinder Fleck ist hierbei nicht einfach etwas, das nicht gesehen wird,
sondern ein Aspekt, der aufgrund des Selbstbildes und sozialen
Konstruktionen ausgeblendet wird. Wie im Auge der Austrittspunkt des
Sehnervs selbst nichts abbildet und doch das Sehen erst ermöglicht, trägt
diese Auslassung das Bild, das wir uns von der Welt machen. Wird sie
berührt, beginnt es zu bröckeln.
## Irritierende Teilnahmslosigkeit
Im Eröffnungsfilm [2][„Der Fremde“] etwa bleibt François Ozon der Handlung
des Romans eng verpflichtet, verankert sie jedoch deutlicher im kolonialen
Kontext des Algeriens der 1930er-Jahre. Benjamin Voisin spielt Meursault
mit einer gewollt irritierenden Teilnahmslosigkeit, die nicht nur die Tat,
sondern auch die Gesellschaftsordnung offenbart, in der er lebt.
Die segregierte Gesellschaft tritt bei Ozon klar hervor: in der
Namenlosigkeit des getöteten „Arabers“, in alltäglicher Ungleichbehandlung
und in einer Justiz, die im Gerichtssaal bestehende Hierarchien
fortschreibt. „Niemand hat über meinen Bruder gesprochen“, sagt Djemila,
die Schwester des von Meursault Ermordeten, und bündelt damit die
schmerzliche Unsichtbarkeit. Der dokumentarisch gesetzte Auftakt mit
Originalaufnahmen der algerischen Hauptstadt öffnet so den Blick auf jene
historische Schieflage, die man bei Camus nur als Hintergrundrauschen
vernehmen konnte.
Ozon, bei der deutschen Vorpremiere am 20. November anwesend, betonte, wie
wichtig es ihm sei, dem Toten einen Namen zurückzugeben. Erst durch diese
Kontextualisierung wird deutlich, dass Meursault nicht nur von der Sonne
geblendet ist. Auch die koloniale Ordnung prägt sein Handeln, lange bevor
die fünf Schüsse fallen.
## Realität der Ehe für alle
Von der historischen Blindheit verschiebt sich der Fokus in „15
Liebesbeweise“ auf jene der Behörden. Céline (Ella Rumpf) erwartet ihr
erstes Kind – schwanger ist jedoch ihre Frau Nadia. Seit der 2014 in der
Nationalversammlung verabschiedeten „Ehe für alle“ steht auch
gleichgeschlechtlichen Paaren der Weg zur Elternschaft offen, doch in den
administrativen Verfahren wird [3][diese Realität] kaum mitgedacht.
So gerät Céline unter einen Druck, der Männer und werdende Väter selten
trifft: Sie muss ihre Fähigkeit zur Fürsorge belegen und 15 Erklärungen
vertrauter Menschen organisieren. „Vor der Adoption ist es, als bekäme Ihre
Frau das Kind allein. Für das Baby sind Sie nicht existent“, erklärt die
Anwältin, die das Paar begleitet. Wer Céline und Nadia durch die
bürokratischen Schritte bis zur Geburt folgt, erlebt ein Verfahren, das
eher bremst als stützt.
Immer wieder treten strukturelle Ungleichbehandlungen und Erwartungen
zutage, die an heteronormativen Vorannahmen festhalten. „15 Liebesbeweise“
eröffnet einen Blick auf Mutterschaft jenseits der Biologie. Ein Prozess,
den die Regisseurin Alice Douard selbst durchlebt hat.
## Schutz und Kontrolle
Mit „Zone 3“ verlegt Cédric Jiménez die Frage nach dem blinden Fleck in
eine dystopische Zukunft. Im Jahr 2045 stützt sich die Polizeiarbeit fast
vollständig auf die KI Alma, bis ein Mordfall das System ins Wanken bringt.
Wie eng Schutz und Kontrolle beieinander liegen, zeigen auch „Herz aus Eis“
mit Marion Cotillard als kaprizoöse Schmeekönigin sowie „Souleymanes
Geschichte“ von Boris Lojkine über einen guineischen Fahrradkurier in
Paris. Die Arbeiten der Französischen Filmwoche zeigen, wie lohnend genaues
Hinschauen ist. In den kommenden Monaten wird Gelegenheit sein, sie
bundesweit in den Kinos zu sehen.
24 Nov 2025
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## AUTOREN
(DIR) Luca Klander
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