# taz.de -- Ankommen in Deutschland: Einsame Klasse
       
       > Das Ankommen in der Gesellschaft hängt von Bildung und Profitabilität ab,
       > beobachtete unsere Autorin. Ein Essay über Integration und sozialen
       > Status.
       
 (IMG) Bild: Gleiche Startplätze für alle? Oft kommt es auf den Status vor der Flucht an. Betten in einer Geflüchtetenunterkunft in Berlin 2015
       
       Anfang 2025 sitze ich in einer Gemeinschaftsunterkunft in einem
       niederländischen Dorf. Draußen nieselt es, drinnen hat sich die Familie
       rund um Berge ukrainischer Köstlichkeiten versammelt; Schichtsalate,
       Fleisch in Teigtaschen, süßer Wein. Es ist eine befreundete geflüchtete
       Familie, die es in Deutschland nicht geschafft hat, oder vermutlich hat es
       Deutschland nicht geschafft. Das hat auch mit Klasse zu tun. Schon in der
       Ukraine lebten sie in bitterer Armut, ohne formelle Qualifikationen, teils
       analphabetisch. Ihr Umfeld war geprägt von Ausgrenzung.
       
       Ich habe sie als Übersetzerin begleitet. In Deutschland wuchsen die
       Schulden schnell über den Kopf. Strafbefehle wegen Kleindiebstählen,
       Geldstrafen wegen der Diebstähle und mehr Schulden. Pfändungsdrohungen,
       verpasste Jobcentertermine, Sprachkurse besuchte kaum jemand. Eine
       beschämte Flucht zurück in die Ukraine. Dann Polen, jetzt die Niederlande.
       Eigentlich wollen sie einfach heim.
       
       Und ich denke: Wir müssen über Flucht und Klasse reden.
       
       Ich habe seit 2015 mehrere Jahre syrische Mädchen betreut, ab 2022 für
       Ukrainerinnen übersetzt, und über Reisekontakte begleite ich seit Langem
       die Wege emigrationswilliger Freunde. Aber in den wohlmeinenden Reportagen
       bürgerlich-liberaler Medien zu zehn Jahren Fluchtsommer finde ich die
       Erfahrungen hochprekärer Milieus nicht wieder.
       
       Sie porträtieren verlässlich bürgerliche Geflüchtete: [1][syrische
       Ärzt:innen], afghanische Schriftsteller:innen, ukrainische
       Ingenieur:innen. Engagierte und makellose Protagonist:innen, im Geschmack
       verdächtig ähnlich den Leser:innen. Seht her, sagen diese Geschichten, wir
       profitieren von Zuwanderung. Die wachsende faschistoide Öffentlichkeit
       dagegen thematisiert obsessiv Karikaturen von Armut, [2][„soziale
       Hängematte“], „kriminelle Clans“ und so fort. Seht her, sagen sie, wir
       profitieren nicht von Zuwanderung.
       
       Es ist verführerisch, das als Gegensätze zu erzählen, aber es sind zwei
       Seiten derselben Medaille. Für beide Seiten ist nach Jahrzehnten
       Klassenhass letztlich nur eine Sorte Migrant:innen akzeptiert: jene, die
       wirklich gar keine Angriffsfläche bieten. Gebildet, bürgerlich, angepasst
       und auf jeden Fall ausreichend profitabel für die weiße Gesellschaft.
       Deutschland nicht als Staat mit menschenrechtlichen Pflichten, sondern als
       Firma mit Fachkräftemangel.
       
       Natürlich ist das Narrativ auch großer Selbstbetrug. Denn auch die
       ausländische Arbeiterklasse sucht man in Wahrheit dringend, um sie auf
       Feldern und Schlachthöfen auszubeuten. Doch diese Menschen sollen
       unsichtbar schuften und dann verschwinden. Armut, die den Sozialstaat
       nichts mehr kostet. Einmal Sklaverei to go. Bleiberecht oder gar Stimmrecht
       sind vor allem der Mittelschicht vorbehalten.
       
       Und wenn schwer armutsbetroffene Menschen bleiben, kommen ihre Geschichten
       selten vor. Weil Linksliberale sich sorgen, angreifbare
       Protagonist:innen könnten rechte Narrative befeuern. Und vielleicht
       auch, weil sie selbst lieber in der Theorie und mit Sicherheitsabstand
       solidarisch sind. Doch dieser Scheuklappenblick auf bürgerliche
       Migrant:innen befeuert das faschistoide Narrativ vom Nützling oder
       Schädling. Und macht andere Erfahrungen unsichtbar.
       
       ## Bürgerliche Fähigkeiten als Ressource
       
       Es ist keine so steile These, dass in Deutschland, wo nachweislich soziale
       Klasse stark die Chancen beeinflusst, der Status vor der Flucht einen
       Einfluss hat. [3][Ein Workshop des Max-Planck-Instituts aus dem Jahr 2019
       fasste zusammen]: Ein höherer sozialer Status erleichtert oft die Ankunft.
       Studien aus verschiedenen Ländern, die dort zitiert wurden, zeigen:
       Geflüchtete aus der Ober- und Mittelschicht waren weniger sozial isoliert.
       Dank internationaler Netzwerke und höherer Bildung konnten sie leichter für
       ihren Lebensunterhalt sorgen. Sie blieben eher im Aufnahmeland,
       investierten emotional und engagierten sich politisch, statt anderswo neu
       anzufangen.
       
       Die syrischen Mädchen, mit denen ich Deutsch übte und Ausflüge machte,
       stammten aus Mittelklassefamilien. Auch für sie war es brutal schwer. Als
       Frauen in teils strenggläubigen Familien reproduzierten sie oft das
       religiöse Patriarchat. Doch sie brachten bürgerliche Fähigkeiten mit: Sie
       wussten, wie man in der Schule glänzt und wie ein Sportverein funktioniert,
       wie man groß träumt. Sie hatten das Selbstbewusstsein von Menschen, die in
       ihrer Heimat Teil der Gesellschaft waren. Ihre Geschichten in Deutschland
       wurden Erfolgsgeschichten.
       
       Ähnliches gelang vielen gebildeten, beruflich erfolgreichen Ukrainerinnen.
       Sofern man Ankommen anhand von Beruf, Schulerfolg und Spracherwerb misst,
       wie es der deutsche Staat tut. In Wahrheit natürlich müsste man Ankommen
       auch anders erzählen: an Freundschaften vor Ort, Offenheit für neue
       Mentalitäten, Neugierde. Da sähe das Ergebnis differenzierter aus.
       
       Die erfolgreichere migrantische Klasse tritt oft schnell nach unten weiter:
       Das Kind soll bitte nicht in eine Schule mit vielen Ausländern. Die Wohnung
       bitte nicht neben Ausländern. Ausländer, das waren auch für gebildete
       Geflüchtete oft die anderen, die Rassifizierten und die Armen. Wenn ich
       Jobperspektiven für gering qualifizierte Geflüchtete suchte, reduzierte es
       sich schnell auf Putzen, Feldarbeit, Fabrik oder Küchenhilfe. Menschen aus
       dem Umfeld der eingangs genannten Familie erzählten mir oft, wie sie sich
       schämten, auf Sozialleistungen zu sitzen, unternahmen aber wenig, etwas
       daran zu ändern. Schwere Marginalisierung erlaubt oft kein Planen für
       Qualifizierung. Es zählt, was heute am meisten Geld bringt. Sie blickten
       passiver, misstrauischer auf die Gesellschaft – und waren weniger geblendet
       von Lohnarbeit.
       
       ## Bürgergeld als bessere Alternative
       
       Denn es gab darin wenig für sie. Das Bildungsbürgertum findet in der Arbeit
       Anerkennung, Geld, Aufstieg und Erfüllung. Für sie aber bedeutete sie vor
       allem Gesundheitsschäden. Bürgergeld schien ihnen die bessere von zwei
       schlechten Alternativen. Für die Kinder, die kein eigenes Zimmer oder einen
       Schreibtisch hatten und in der Schule kaum zu funktionieren wussten, gab es
       wenig Perspektive auf Bildungserfolg. Flucht verschärft
       Klassenunterschiede. Für die einen gibt es bei allen Traumata auch eine
       lohnende Perspektive. Für andere war Heimat die einzige Klammer, die sie
       mit der Mitte der Gesellschaft verband. Diese Klammer bricht. Und häufiger
       sagten sie: Die Deutschen wollen uns nicht.
       
       Status, glaube ich, hängt nicht allein vom Geld ab. Viele marokkanische
       Freunde hatten in ihrer Heimat wenig, auch nach dortigen Maßstäben. Aber
       sie stammen aus Dörfern, wo alle ähnlich gestellt waren, und haben formale
       Bildung. Das schafft ein anderes Selbstwertgefühl, auch im Ausland: prekär,
       aber nicht erniedrigt. Armut als kollektive und politische Erfahrung, nicht
       als individuelle Scham.
       
       Umgekehrt sind Bildung und Selbstwertgefühl keine Garantie fürs Ankommen.
       Viele selbst ernannte [4][Expats im Mittelmeerraum] sind völlig
       unintegriert. Gerade wegen ihrer Privilegien halten sie das nicht für
       nötig. Und Steuerparadiese schaffen eine ganz neue Klasse von
       Migrant:innen, die sich um nichts scheren. Es ist also wichtig, dass ein
       Staat Dinge einfordert. Aber das aktuelle Sanktionssystem ist gemacht gegen
       Menschen, die ohnehin ausgegrenzt sind.
       
       Geflüchtete dürfen sich keine Fehler leisten. Wer überhaupt eine Chance
       haben will, muss perfekt sein. Das sortiert vor allem jene aus, die
       aufgrund ihres Status Fehler machen. Die Termine nicht wahrnehmen, sich
       nicht eigeninitiativ kümmern, in den sehr schulischen Sprachkursen nicht
       zurechtkommen und mit ihren Traumata nicht zum Psychologen gehen. Ein
       einziger Fehler – naiv aufgenommene Schulden, ein Diebstahl, ein
       Schulabbruch – tritt oft einen Dominoeffekt los.
       
       Es gibt eine Eigenverantwortung und Spielraum dabei. Ich kenne hochprekäre
       geflüchtete Familien, die es schaffen. „Schaffen“ heißt, die monatliche
       Kaskade von Katastrophen der Armut zu bewältigen. Den Wohnungsrauswurf,
       gegen den man sich nicht wehren kann. Den Schulweg ohne Auto im ländlichen
       Bereich. Familiäre Krisen, bei denen es undenkbar ist, Behörden
       einzuschalten.
       
       ## Auch der Staat ist in der Bringschuld
       
       Aber nichts an dieser Lage ist zwangsläufig. Teilhabe von Menschen ist auch
       eine Bringschuld des Staates. Und sie ist realisierbar, viel billiger als
       die Aufrüstung, die angeblich aus Solidarität mit diesen Geflüchteten
       stattfindet. Das eigentliche Problem ist, dass man nicht tun will, was
       nötig wäre.
       
       Konkrete Pflichten wie Sprachkurse, auch mit Sanktionsdruck, helfen. Oft
       war es einfacher, zu sagen „ihr müsst“, statt mit abstrakter Ethik zu
       argumentieren. Aber im Gegenzug braucht es Perspektiven: gute Bezahlung und
       Anerkennung für vermeintlich unqualifizierte Jobs. Prekäre Menschen kommen
       an, wenn sie nicht mehr prekär sind. So einfach ist das. Wenn wir
       gefährdende Tätigkeiten auf alle verteilen statt auf die Wehrlosen.
       
       Aber wer kann sich ein humanes Wirtschaften noch vorstellen? Es braucht
       zudem in diesem unmenschlichen System mehr sozialarbeiterische Begleitung
       für schwer armutsbetroffene Geflüchtete, statt überforderte Ehrenamtliche.
       Das hätte viel auffangen können. Es braucht mehr aufsuchende Angebote, etwa
       niedrigschwelligeres Sprachüben und Hilfe bei der Jobsuche. Und vor allem:
       mehr Kontakte in die Gesellschaft. Das Gefühl, dass man sie schätzt.
       
       In den Niederlanden läuft es zumindest in diesem Fall besser. Die
       Unterkunft bietet gute Einzelbetreuung und eine feste Ansprechpartnerin,
       die Jobs und Sprachunterricht vermittelt – motivierend statt
       sanktionierend. Manche Frauen haben prekäre Kurzzeitjobs gefunden. Das
       kleine Kind geht mit Freude in die Kita, auch das ein Erfolg. Sie fühlen
       sich etwas mehr angekommen. Der Rest ist Klassenkampf.
       
       26 Nov 2025
       
       ## LINKS
       
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