# taz.de -- Syrer*innen über 60 in Deutschland: Zu alt, um Teil der Gesellschaft zu werden?
       
       > 2015 sind nicht nur junge Männer nach Deutschland geflohen, sondern auch
       > Menschen Ü60 wie Feryal, Nadem und Elham. Die Hürden für sie sind immens.
       
 (IMG) Bild: Deutschunterricht im Kiezzentrum: Elham und Nadem Zahlouk, Feryal Berghli (von links), flüchteten vor rund zehn Jahren aus Syrien
       
       Im Berliner Kiezzentrum „Villa Lützow“ sitzt an diesem Donnerstagvormittag
       eine achtköpfige Gruppe dicht gedrängt um einen Tisch. Unter der Leitung
       von Rentnerin Barbara und Dozent Kerem Kayi wollen sie gemeinsam Deutsch
       lernen. Barbara führt die Anwesenheitsliste und fordert dann alle auf, sich
       vorzustellen. Jede Person nennt ihren Namen, Alter, Herkunftsland und
       erzählt von Kindern und ehemaligen Berufen. Die meisten von ihnen kommen
       aus Syrien und sind zwischen 40 und 70 Jahre alt.
       
       „Meine Tochter ist Zahnastin“, sagt einer. „Ärz-tin“, verbessern ihn die
       anderen. Kayi schreibt das Wort an die Tafel. Manche von ihnen beten ihre
       Sätze fließend herunter, andere kämpfen noch mit den Wörtern und ihrer
       Aussprache. Wer nicht weiterweiß, bekommt auch mal eine schnelle Erklärung
       auf Arabisch von den anderen Teilnehmenden.
       
       Feryal Berghli gehört zu denjenigen, die besser Deutsch sprechen. Die
       72-Jährige verbessert die anderen auch mal, wenn sie einen Fehler machen,
       oder hilft ihnen mit einer Antwort. Dann lächelt sie stolz. Seit etwa einem
       Jahr geht sie zu diesem Deutschkurs, weil ihr über die Sozialhilfe kein
       offizieller Kurs mehr finanziert wird.
       
       Jeden Morgen genießt sie die Sonne auf ihrem von unzähligen Topfpflanzen
       eingerahmten Balkon. Ihren Alltag verbringt sie mit Haushalt,
       Spaziergängen, Arztterminen und Treffen wie dem Deutschkurs im Kiezzentrum.
       Abends schaut sie gerne Quizsendungen wie „Wer weiß denn sowas?“ im
       Fernsehen.
       
       Als sie 2015 mit Anfang 60 in Deutschland ankam, wollte sie wie alle
       anderen gleich die Sprache lernen und eine Arbeit suchen. Aber erfolglos:
       „Mir haben sie gesagt‚ du bist alt, du spricht Englisch, lass die jungen
       Leute die Kurse machen‘“, erzählt sie enttäuscht. Auch bei der
       Arbeitsvermittlung habe man ihr gesagt, sie brauche in ihrem Alter keine
       Arbeit zu suchen. „They don’t want to give Ausbildung to old people“ („Sie
       wollen älteren Menschen keine Ausbildung geben“), sagt sie auf Englisch.
       
       Es gibt nur wenige Zahlen und Statistiken dazu, wie es älteren Geflüchteten
       in Deutschland geht. Das hat auch damit zu tun, dass es so wenige von ihnen
       gibt. Laut einer Analyse des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge BAMF
       aus dem Jahr 2018 sind nur rund 7 Prozent der neu ankommenden Geflüchteten
       älter als 45 Jahre. Und älter als 60 ist nur 1 Prozent.
       
       ## Von Ingenieurin zu Küchenhilfe
       
       Auch die 65-jährige Elham Zahlouk besucht seit etwa einem Jahr den
       Deutschkurs in der Villa Lützow. Seit sie nach Deutschland gekommen ist,
       hat sie jeweils zweieinhalb Jahre als Küchenhilfe in einer Schule und in
       einem Altenheim gearbeitet. Wegen gesundheitlicher Probleme musste sie
       aufhören. In Syrien hatte sie als Ingenieurin gearbeitet und folgte 2016
       ihrem heute 73-jährigen Mann Nadem Jamal nach Deutschland. Er war ein Jahr
       zuvor mit einem Aufnahmeprogramm für Syrer*innen hergekommen. Dem
       Ehepaar ist es wichtig, für ihren Alltag weiter Deutsch zu lernen. Während
       er gerne zu Hause mit einem Bildwörterbuch und Schreibübungen sein Deutsch
       verbessert, geht sie donnerstags zum Deutschkurs.
       
       Dort wird die Gruppe nach einer Dreiviertelstunde Unterricht aufgeteilt.
       Feryal Berghli und Elham Zahlouk landen bei denen, die bereits besser
       Deutsch sprechen und holen ihre Hausaufgaben raus. Heute geht es um die
       Anwendung von „zu“ und „zum“. Zwischendurch kommt das Thema
       Staatsbürgerschaft auf. „Wir machen hier eine Mischung aus Sozialbüro,
       Deutsch sprechen und Begegnungsstätte“, erklärt Dozent Kayi später. „Ein
       normaler Deutschkurs, wo alles tagtäglich aufeinander aufbaut, funktioniert
       hier bei einem Mal wöchentlich nicht.“ Stattdessen lässt er sich auf das
       Thema ein.
       
       Zahlouk sagt, dass sie noch keine Staatsbürgerschaft beantragt habe, weil
       ihr geraten wurde, damit bis zum Renteneintrittsalter nächstes Jahr zu
       warten. „Aber du kannst doch schon den Antrag stellen“, wirft Berghli ein
       und erzählt, dass seit ihrem Antrag vor zwei Jahren noch immer nichts
       passiert sei. „Jetzt wäre mir lieber, sie würden es ablehnen, damit ich
       einen Anwalt nehmen kann“, sagt sie.
       
       Tatsächlich ist es für ältere Geflüchtete besonders schwer, eingebürgert zu
       werden. Zwar wurden mit der doppelten Staatsbürgerschaft eine deutliche
       Erleichterung eingeführt und auch viele Fristen wurden abgesenkt. „Aber der
       wirtschaftliche Aspekt wurde verschärft“, sagt Antonio Leonhardt,
       Rechtsanwalt in Berlin. Nach der neuen Regelung müssen alle
       Ausländer*innen für die Einbürgerung ihren eigenen Lebensunterhalt
       finanzieren, also nicht auf Bürgergeld oder Sozialhilfe angewiesen sein.
       Zuvor waren Menschen in hohem Alter oder in Ausbildung davon ausgenommen.
       
       Aber schon vorher wurden ältere Geflüchtete besonders selten eingebürgert,
       wie eine Statistik zu Syrer*innen zeigt: 2023 wurden insgesamt rund
       80.000, also etwa 6 Prozent der in Deutschland lebenden Syrer*innen,
       eingebürgert. Von den über 60-jährigen Syrer*innen waren es aber nur
       rund 2 Prozent. 2024 sind die Zahlen zwar gestiegen, aber das Verhältnis
       blieb ähnlich: Rund 7 Prozent der Syrer*innen wurde eingebürgert, doch
       nur rund 3 Prozent derjenigen über 60 Jahren.
       
       „Heute gibt es zwar noch eine Härtefallregelung, aber da müssen wir jeden
       Einzelfall durchkämpfen“, sagt Anwalt Leonhardt. „Die allgemeine
       Lebenskonstellation wie etwa das Alter ist als Härtefall nicht gültig.“
       Dazu kommt, dass die Menschen für die Staatsangehörigkeit auch ausreichende
       Deutschkenntnisse nachweisen müssen. Wer ohne Arbeit und ohne Finanzierung
       eines Deutschkurses dasteht, hat es also schwieriger.
       
       Leonhardt sagt aber auch: „Für viele ältere Menschen ist die deutsche
       Staatsbürgerschaft aber weniger relevant, weil sie etwa aufgrund von
       Vorerkrankungen keine Abschiebung mehr befürchten müssten.“ Dann fügt er
       hinzu: „Für einige geht es aber ums Prinzip: Sie wollen damit endlich
       ankommen.“ Zusätzlich mache die Staatsbürgerschaft beim Thema Reisen einen
       erheblichen Unterschied. Und sie ist bedeutsam für die
       Familienzusammenführung. Menschen mit subsidiärem Schutzstatus dürfen seit
       dem Sommer keine Familienmitglieder mehr nach Deutschland holen. Das
       betrifft besonders viele Syrer*innen, die vor dem Bürgerkrieg in ihrem
       Herkunftsland geflohen sind und noch keine deutsche Staatsbürgerschaft
       haben.
       
       ## Integrationshemmnis Abschottung
       
       Elham Zahlouk und ihr Mann Nadem erleben das derzeit hautnah: Ihr Sohn ist
       vor zweieinhalb Jahren nach Deutschland gekommen und wohnt seitdem bei
       ihnen, doch dessen Frau und dreijährige Tochter sitzen noch immer in Syrien
       fest. Für sie alle bedeutet das, dass sie weiterhin mit ihren Gedanken in
       Syrien sind und händeringend eine Lösung suchen. Anwalt Leonhardt kennt
       viele solcher Fälle, doch der Erfolg einer Klage sei nahezu aussichtslos.:
       „Für viele Leute ist das unverständlich, aber so etwas gilt als das
       ‚durchschnittliche Maß an Grausamkeit‘“, sagt er. „Dabei erhöht es in
       erheblichem Maße den Erfolg einer Integration, wenn die Familie zusammen
       ist.“
       
       Für Berghli gehören Wochenenden mit ihren beiden Töchtern und
       Enkel*innen zum Alltag. Mit Deutschen in ihrem Alter Kontakt zu halten,
       wird für sie dagegen schwieriger: Anfangs hat sie mehr Leute in Deutschland
       kennengelernt, doch mit der Zeit ist der Kontakt eingeschlafen. Eine gute
       Freundin sei bereits an Krebs gestorben, erzählt Berghli. Eine andere
       möchte sich nach einer Operation, durch die sie blind geworden ist, kaum
       noch treffen. „Ich möchte ihr helfen, aber sie akzeptiert das nicht mehr“,
       sagt Berghli. „It’s not easy to have German friends“ („Es ist nicht
       einfach, deutsche Freunde zu haben“). Auch mit ihrer Nachbarin habe sie
       anfangs versucht, Kontakt aufzunehmen, doch die war sehr zurückhaltend.
       
       Trotzdem findet Berghli es einfacher, sich in höherem Alter einer neuen
       Kultur anzupassen. Als 21-Jährige ist sie nach Bagdad gezogen; heute sagt
       sie: „Im Alter weiß man mehr, hat mehr Erfahrung. Wir haben verschiedene
       Kulturen, aber im Grunde haben wir mehr Ähnlichkeiten.“ Ihrer Tochter sei
       die Ankunft in Deutschland schwerer gefallen. Nun hat sie die deutsche
       Staatsbürgerschaft und reist viel. Auch Berghli würde gerne verreisen, doch
       weil sie von Sozialhilfe lebt, hat sie dafür zu wenig Geld.
       
       Elham Zahlouk und ihr Ehemann Nadem dagegen wären gerne früher nach
       Deutschland gezogen, um hier studieren und ihre ursprünglichen Berufe
       ausüben zu können. „Wenn wir jung hergekommen wären, hätten wir uns sofort
       integrieren können. Jetzt müssen uns damit ein bisschen mehr abmühen“, sagt
       sie. „Mein Sohn konnte sich durch die Arbeit und Sport schneller hier
       integrieren, weil er jünger ist. Selbst beim Jobcenter hatte ich das
       Gefühl, sie bevorzugen die jungen Leute; vielleicht weil die schneller
       arbeiten können.“ Sie hat vier Jahre gebraucht, um Deutsch bis zum Niveau
       B1 zu lernen, ihr Sohn nur sechs Monate. Die ersten fünf Jahre seien
       schwierig für sie gewesen, aber dann konnten sie die Sprache langsam
       besser, habe Arbeit und Freunde gefunden.
       
       Und würden sie jemals nach Syrien zurückkehren? „Ja, vielleicht“, sagt die
       65-Jährige. „Ich möchte in Deutschland bleiben“, antwortet ihr Mann Nadem.
       Gerade erst hat er nach fünf Jahren Wartezeit seine Dokumente für die
       deutsche Staatsbürgerschaft erhalten. Sie lacht. „Ich auch, ich mag
       Deutschland. Aber wenn wirklich alles gut werden würde in Syrien, könnte
       ich mir auch eine Rückkehr vorstellen“, sagt sie. Er bietet Schokopralinen
       und Sesamkekse an und sagt: „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben
       sie heute noch.“
       
       27 Nov 2025
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jelena Malkowski
       
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