# taz.de -- Queeres Tierreich: Der gefiederte Gegenbeweis
> Ein Möwinnenpaar auf einer Pazifikinsel bringt ein Argument ins Wanken,
> das jahrhundertelang als Waffe gegen queere Menschen diente.
(IMG) Bild: Durch eine eher zufällige Beobachtung sind zwei Möwen in den 1970er-Jahren in den USA zum queeren Pop-Symbol geworden
Durch ihr Fernglas blickt Molly Hunt 1972 auf die Klippen von Santa Barbara
Island, einer kargen Vulkaninsel rund 60 Kilometer vor der
südkalifornischen Küste, gegen die unablässig der Pazifik schlägt. Während
ihr Mann George, ein Seevogel-Ornithologe der University of California,
regelmäßig wegen seiner Lehrverpflichtungen aufs Festland zurückkehren
muss, hält Molly die Stellung auf der windumtosten Insel, so erzählt sie es
später.
Vielleicht gerade, weil sie von Beruf eigentlich Anthropologin ist,
entdeckt sie eine Besonderheit im Tierreich: Zahlreiche Möwen-Brutpaare
bestehen aus zwei Weibchen. Sie balzen miteinander, verteidigen ein
gemeinsames Revier, putzen und füttern sich gegenseitig – und zeigen damit
all die ritualisierten Verhaltensweisen, die man bis dahin ausschließlich
heterosexuellen Paaren zuschrieb. Zum ersten Mal wird
[1][gleichgeschlechtliches Paarverhalten bei Tieren] systematisch
dokumentiert. 1977 veröffentlichen die Hunts ihre Ergebnisse unter dem
Titel „[2][Female–Female Pairing in Western Gulls]“ in der renommierten
Zeitschrift Science. Ornithologischer Befund und politischer Zündstoff
gleichermaßen.
Die gesellschaftliche Stimmung in den USA ist zu dieser Zeit nicht
sonderlich offen für queeres Leben. Fundamentalistische Christen ebenso wie
reproduktionsfixierte Darwinisten verurteilen – in sonst seltener Einigkeit
– Homosexualität als „wider die Natur“. Die Antihomosexuellenagenda der
Republikaner stützt sich auf dasselbe Argument. Und auch die
Wissenschaftscommunity spürt die Brisanz, als der Kongress der National
Science Foundation mit Mittelkürzungen droht.
Gleichzeitig formiert sich in den Jahren nach den [3][Stonewall Riots 1969]
die Pride-Bewegung und greift das Bild der Möwen auf. In Los Angeles
entsteht ein Theaterstück zum Thema, der Singer-Songwriter und
LGBT-Aktivist Tom Weinberg schreibt das Lied „Lesbian Seagull“. Die
Möwinnenpaare wandern in die Popkultur, werden zu Symbolen queerer
Selbstbehauptung, wie später auch die schwulen Pinguine Roy und Silo im
Central Park Zoo.
Und die Forschung geht weiter. Und immer mehr setzt sich auch die
Erkenntnis durch, dass nicht nur das [4][sexuelle Verhalten], sondern auch
Geschlechtsidentitäten unter Tieren vielfältiger sind, als viele Menschen
es lange wahrhaben wollten. Tatsächlich findet sich Geschlechtsvariation
quer durch das Tierreich. Weibliche Tüpfelhyänen, deren stark vergrößerte
Klitoris wie ein Penis wirkt. Lippfische, die ihr Geschlecht wechseln
können. New-Mexico-Peitschenschwanzechsen, bei denen es nur Weibchen gibt,
die unter Stimulation anderer Weibchen Eier legen. So entzieht sich die
Biologie zunehmend der moralischen Instrumentalisierung.
Natürlich wäre es zu einfach, die rechtlichen Fortschritte der folgenden
Jahrzehnte direkt auf ein Möwinnenpaar zurückzuführen. Doch ihre
Beobachtung wirkt nach: Sie lässt die Idee von der „widernatürlichen“
Homosexualität langsam bröckeln.
Durch ihr „Coming-out“ gegenüber der Menschheit haben die lesbischen Möwen
von Santa Barbara die öffentliche Wahrnehmung von Homosexualität
revolutioniert. Eine Beobachtung aber tauchte in keiner einzigen Tierstudie
auf und scheint allein unserer Spezies vorbehalten: Homophobie.
1 Dec 2025
## LINKS
(DIR) [1] /Homosexualitaet-im-Tierreich/!5611808
(DIR) [2] https://doi.org/10.1126/science.196.4297.1466
(DIR) [3] /50-Jahre-Stonewall/!5602848
(DIR) [4] /Studie-zu-queeren-Tieren/!5970893
## AUTOREN
(DIR) Luca Klander
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