# taz.de -- Parlamentswahlen im Irak: Was wählt der Irak?
       
       > Vom Gefühl eines demokratischen Aufbruchs nach den Massenprotesten 2019
       > ist nicht viel geblieben. Am Dienstag wählt der Irak ein neues Parlament.
       
 (IMG) Bild: Kämpft seit über 20 Jahren für Demokratie: Nibras Abu Souda, stellvertretende Sprecherin der Wahlkommission
       
       „Ich heiße Mars mit Nachnamen, weil ich vom Mars komme“, sagt Sally und
       grinst. „Weil dich im Irak alle fragen, ob du Sunnitin oder Schiitin bist,
       Christin oder Kurdin. Also sage ich, ich komme vom Mars.“ Die 28-jährige
       Musikerin trägt silberne Creolen, hat eine E-Gitarre auf ihren Unterarm
       tätowiert und spielt, so sagt sie, am liebsten Heavy-Metal. Mars sitzt in
       einem hippen Café in Iraks Hauptstadt Bagdad, um über Politik zu reden,
       genauer: über ihre Frustration.
       
       Vom Balkon zeigt sie auf die Schnellstraße, der Grünstreifen in der Mitte
       ist zugepflastert mit Wahlplakaten. „Da steht nur der Name, die Partei und
       daneben ein großes Foto des Kandidaten: ‚Wählt mich, ich bin eine gute
       Person‘“. Mars seufzt: „Wären sie wenigstens kreativ!“
       
       Im ganzen Land hängen Wahlplakate: An Laternen und auf Häuserdächern, an
       Baugerüsten, über Metzgereien und Hühnerställen, an alten Fabrikhallen, vor
       Betonabsperrungen des Militärs oder auf einem riesenhaften Bildschirm, den
       ein Laster durch die Stadt rollt. Fast alle zeigen das Profil der
       Kandidat*innen, meist im Sakko oder im Blazer, auch junge Frauen sind
       dabei.
       
       „Ich kann keinen Einzigen finden, der meine Stimme wert wäre. Auch keine
       Frau“, sagt Mars. Parteien würden junge Frauen lediglich fürs Image
       einsetzen. „Ich habe wirklich nach neuen Gesichtern gesucht. Sie haben
       keine inhaltlichen Ideen.“
       
       Es gebe viele dumpfsinnige Kampagnen. „Eine hat gesagt, wählt mich, weil
       ich viele Follower auf Tiktok habe. Manche nutzen ihr Aussehen: ‚Wählt
       mich, weil ich hübsch bin.‘“ In den sozialen Medien habe sie das Video
       einer Kandidatin gesehen, die in ein armes Viertel gegangen sei. „Sie
       meinte: ‚Wenn ihr mich wählt, gebe ich euch einen Plastiküberzug, der euer
       Haus gegen Regen schützt.‘ Das ist das Dümmste, was ich je gehört habe“,
       empört sich Mars. Eine Partei nutze den Slogan: „Wir holen dich, Armer!“
       Aber, sagt Mars, „nicht, um sich für die Armen einzusetzen, sondern als
       Drohung: Wir kriegen dich!“, stellt Mars klar.
       
       Am Dienstag gehen die Iraker*innen an die Urnen. Von rund 46 Millionen
       Menschen dürfen mehr als 21 Millionen die Abgeordneten für 329 Sitze im
       Parlament wählen. Mehr als 7.750 Kandidat*innen, fast ein Drittel davon
       sind Frauen. 38 politische Parteien und 31 Koalitionen aus Kleinparteien
       stehen auf dem Zettel.
       
       Im Irak regelt ein ethnisch-konfessionelles Quotensystem die
       Machtverteilung: Das mächtigste Amt des Ministerpräsidenten geht immer an
       einen Schiiten. Ein Sunnit wird Parlamentspräsident, ein Kurde bekommt das
       repräsentative Präsidentenamt.
       
       Ministerpräsident Mohammed Schia al-Sudani wurde 2022 mit Unterstützung
       pro-iranischer Parteien gewählt. Er bemüht sich, den Einfluss des Iran
       genauso wie den der USA auszubalancieren. Sudani strebt eine zweite
       Amtszeit an und hat eine große Wählerschaft. Bisher konnte kein
       Ministerpräsident im Irak eine zweite Amtszeit sichern. Aussichtsreiche
       Kandidaten sind wohlhabende und bekannte schiitische Männer wie der
       ehemalige Ministerpräsident Nuri al-Maliki und der islamische Gelehrte
       Ammar al-Hakim. Der einflussreichste der schiitischen Anführer, Muqtada
       al-Sadr, hat seine Anhänger zum Boykott der Wahlen aufgerufen. Er
       inszeniert sich als „Alternative“ zum politischen System.
       
       „Diese Unterscheidung in Sunniten und Schiiten haben uns die Amerikaner
       beschert“, ärgert sich Sally Mars. „Sie kamen in unser Dorf und sagten den
       Sunniten: Die Schiiten wollen euch töten. Hier habt ihr Waffen, damit könnt
       ihr ihnen zuvorkommen.“
       
       Mars war sechs Jahre alt, als die amerikanischen Bomben fielen. 2003
       suchten die USA nach einem vorgeschobenen Grund für ihre Invasion und
       fanden ihn in der Lüge über angebliche Massenvernichtungswaffen des Regimes
       von Saddam Hussein. Ein Regimewandel, behauptete damals Präsident George W.
       Bush, bringe dem Irak Frieden und Demokratie. Schätzungen zufolge starben
       in den Jahren nach der US-Invasion mehr als 200.000 Menschen.
       
       „Ich habe [1][im Irak Zeiten des Chaos und der Regierungslosigkeit
       erlebt]“, sagt Nibras Abu Souda. Menschen seien währen der Herrschaft des
       „Islamischen Staats“, die sich an die Invasion der Amerikaner anschloss,
       vor ihren Augen getötet worden. „Ich möchte nicht, dass sich so etwas
       wiederholt. Deshalb gebe ich mein Bestes, dass die Prozesse im Irak stets
       demokratisch ablaufen und der Machtwechsel friedlich ist.“
       
       Daran arbeitet Abu Souda seit 21 Jahren. „Mit Herzblut“, betont sie. Abu
       Souda ist stellvertretende Sprecherin der Unabhängigen Hohen Wahlkommission
       (IHEC) des Irak. Die Komission organisiert die Wahlen, stellt sicher, das
       sie frei, geheim und gleich sind.
       
       Über 850 Kandidat*innen hat die Kommission die Teilnahme verboten –
       darunter auch ehemaligen Abgeordneten. Das seien, so die offizielle
       Begründung, Kriminelle, Militärmitglieder und solche, die „den Respekt des
       Landes“ verletzt hätten. Laut Berichten wird eine Wahlkarte für mehr als
       200 Euro gehandelt. Anfang Oktober hat das nationale Sicherheitsbüro 46
       Menschen festgenommen, die zusammen mehr als 1.800 Wahlkarten bei sich
       hatten.
       
       Frühere Wahlen waren begleitet von Attentaten auf Kandidaten, Angriffen auf
       Wahllokale und Kämpfen zwischen Parteianhängern. Diese Gewalt hat insgesamt
       nachgelassen. Doch am 15. Oktober wurde der sunnitische Kandidat Safaa
       al-Maschhadani durch eine Autobombe getötet. Der prominente Politiker war
       ein Reformer, kritisierte den Einfluss der Milizen auf die Politik scharf.
       
       Am Sonntag durften bereits Militärs, Polizei, beeinträchtigte und
       binnenvertriebene Menschen abstimmen – man ließ sie vorab an die Urnen, um
       ihre Sicherheit zu gewährleisten, wie es hieß. Die pinken Stuhlbänke sind
       aus dem Klassenzimmer geräumt, vor der Tür stehen Polizisten in schwarzer
       Uniform Schlange. Einige tragen die irakische Fahne in der Hand.
       
       Abu Souda ist ein wenig ins Schwitzen gekommen. Sie ist an diesem Sonntag
       besonders gefragt – ein Journalist möchte Fotos mit dem Handy machen, ein
       Fernsehreporter wartet auf sein Interview. „Wir sind am Wahltag, dem Tag,
       auf den wir das ganze Jahr hingearbeitet haben“, sagt sie, während sie von
       einem Wahllokal zum nächsten fährt. „Ich bin enthusiastisch, aber auch
       angespannt. Alles ist heikel, wir tragen eine große Verantwortung, für das
       Land, für den Irak.“
       
       Politik fand sie erst trocken, aber nach zwei Jahrzehnten kennt sie alle
       Details, beschreibt begeistert jeden Schritt, der demokratische Wahlen
       sichert. Sie gibt Workshops in irakischen Behörden, in Schulen oder
       Organisationen: zum Wahlverfahren, zum irakischen Wahlgesetz, zu Prinzipien
       der Demokratie. „Unerlässlich“ nennt sie diese politische Arbeit.
       
       Mehr als 20 Jahre nach dem Sturz von Saddam Hussein im Jahr 2003 wählt im
       Irak erstmals eine Generation, die den Diktator nur aus Videos kennt. Rund
       drei Millionen Wahlkarten hat die Wahlkommission dieses Jahr an neue
       Wähler*innen ausgeteilt. Die Erwartungen sind gering: 2021, bei den
       ersten Wahlen nach den Protesten, beteiligten sich gerade einmal 41 Prozent
       der Wahlberechtigten. Die Prognosen sagen, dieses Jahr könnten es noch
       weniger sein. Warum ist das so?
       
       Am Tahrirplatz, dem zentralen Platz in Bagdad, hält ein Bus. Junge Männer
       steigen aus, sie tragen gelbe T-Shirts und Kappen. Die Gruppe zieht grölend
       ans Ufer des Tigris, im Halbkreis machen sie ein Foto mit ihrem Kandidaten,
       der ernst dreinblickt und schnell wieder weg ist. Abdul-Hussein Abtaan
       gehört einer Iran-nahen Partei an, war zwischen 2014 und 2018 Minister für
       Jugend und Sport. „Als Minister hat er viele Chancen für die Jugend
       geschaffen“, sagt ein Unterstützer. „Zum Beispiel hat er 2017 die Stadien
       geöffnet und dafür gesorgt, dass die irakische Fußballnationalmannschaft
       wieder im Irak spielen kann.“ Seinen Namen möchte das Parteimitglied nicht
       nennen, er sei 30 Jahre und Geschäftsführer eines IT-Unternehmens. Auch er
       sei besorgt über die Arbeitslosigkeit der Jugend. Jeder Dritte Jugendliche
       im Irak ist arbeitssuchend. „Der einzige Weg zum Wandel ist die Wahlurne.“
       
       Ob Abtaan den konfessionell orientierten Parteien angehört und
       Klientelpolitik macht? „Er ist Schiit und ich bin Sunnit. Trotzdem bin ich
       in der ersten Reihe seiner Unterstützer. Das reicht als Beweis, oder?“
       
       „Es geht nicht nur um Sunniten und Schiiten“, sagt Alaa Hamed in einem Büro
       in Karada, einem angesagten Stadtteil in Bagdad. Hamed ist
       Sozialwissenschaftler und im Vorstand des unabhängigen
       Politik-Forschungscenter Rewaq Baghdad. „Es gibt auch Listen, deren
       Kandidaten gemischte Ethnien oder Zugehörigkeiten haben.“
       
       Man müsse, insbesondere die Klientelpolitik, eher durch die Brille der
       Klassen- und Sozialstrukturen im Irak betrachten. Geld und Netzwerke
       zählten mehr als ethnische oder konfessionelle Zugehörigkeit. „Sunniten und
       Schiiten kooperieren entlang des Geldes. Im Irak haben wir keine klare
       Unterscheidung oder ein Spektrum zwischen Links und Rechts. Das ist ein
       großes Problem.“
       
       Der Klientelismus verhindert, dass die großen Krisen im Irak effektiv
       angepackt werden: Milizen beeinflussten die Regierung, sagt Hamed. Die
       Wirtschaftspolitik leide unter der Korruption. „Hinzu kommen der
       Wassermangel und der Wasserstreit mit der Türkei.“ Zuletzt hat sich hier
       allerdings Entspannung eingestellt: Die irakische Regierung unterschrieb
       ein Wasserabkommen mit der Türkei, das [2][dem dürregeplagten Land]
       direkten Zugriff auf Wasserressourcen aus dem Tigris sichert.
       
       Hinter der Theke seines Handyladens im Zentrum der Stadt berichtet Muntader
       Ali vom Alltag: Weil der Strom so lange ausfällt, müsse er aus eigener
       Tasche den Dieselgnerator bezahlen. „Kein Strom, kein trinkbares Wasser aus
       dem Hahn, keine Dienstleistungen, keine sauberen Straßen oder
       Straßenbeleuchtung.“
       
       Die Regierung subventioniere Treibstoff für Generatoren an private Firmen,
       anstatt ins öffentliche Stromnetz zu investieren. Das Volk sei den
       Politikern egal, ist Ali überzeugt. „Ob ich wählen gehe oder nicht, macht
       keinen Unterschied“, sagt der 43-Jährige. Seit acht Jahren habe er nicht
       gewählt. „Die Diebe haben den Kuchen bereits geteilt, während die Bürger
       ihrem Schicksal in der Hölle überlassen bleiben.“
       
       Im Herbst 2019 sind die Menschen im Irak gegen diese Korruption auf die
       Straße gegangen. Sally Mars erinnert sich genau an den 25. Oktober: „Ich
       war im Urlaub in der Türkei und bin direkt vom Flughafen mit dem Taxi
       Richtung Tahrirplatz gefahren.“ Der zentrale Platz in der Bagdader
       Innenstadt war weiträumig abgesperrt. „Jemand hat mir eine Cola gegeben,
       jemand anders Wasser und eine Gasmaske. Als mich mein Freund gesehen hat,
       fragte er: Weinst du, oder ist das das Tränengas?“ Sie sei euphorisch
       gewesen, erinnert sich Mars. Am Abend des ersten Protesttags habe sie ihrer
       Mutter gesagt: „Das ist die letzte Chance, die Gesellschaft und die
       Regierung zu verändern.“
       
       In der Universität streikten sie, neun Monate lang ging die damalige
       Betriebswirtschaftsstudentin jeden Tag auf den Platz. Sie sah Menschen vor
       ihren Augen sterben, denen mit Schrotflinten in den Kopf geschossen wurde.
       „Ich habe einen Polizisten konfrontiert: Warum erschießt ihr uns? Er sagte:
       Ihr seid keine Iraker, ihr seid von ausländischen Mächten gekauft, von den
       Iranern oder den Saudis.“
       
       Rund 800 Menschen wurden damals getötet, 20.000 verletzt, so die
       Schätzungen. Die Regierung hat seitdem den Raum des Sagbaren im Irak
       eingeschränkt – auf dem Tahrirplatz über die Proteste zu reden, ist
       gefährlich, sagen junge Männer, die Fotos vor dem Unabhängigkeitsmonument
       machen. Man sieht Polizei und Kameras, die den Platz überwachen.
       
       Sally Mars erzählt von einem Freund, Ali. „Wir haben als Freiwillige
       kulturelle Treffen organisiert. Er hat immer über Politik und Frieden
       geredet, war auch bei den Protesten dabei.“ Dann kam die Pandemie. Mars
       sagt, sie habe Ali eine Zeit lang nicht gesehen. „Ich dachte schon, er sei
       gekidnappt worden oder so.“ Dann sah sie einen Facebook-Post von Ali: „Er
       saß nun im Parlament, war gewählt! Auf einmal postete er nur noch über sich
       oder den Parteivorsitzenden. Auch das gemeinsame Foto von uns bei den
       Treffen war gelöscht.“
       
       Mars nimmt an, dass die Partei Druck gemacht hat, das Foto zu löschen. Mehr
       noch: „Er hat acht Restaurants aufgemacht. Ich denke, die dienen der
       Geldwäsche, denn die Lokale sind leer.“ Bestimmt bekäme der Freund eine
       gute Provision, spekuliert Mars. Ihr Fazit: „Es ist wirklich frustrierend.
       Ich bin hoffnungslos.“
       
       Auch Sozialwissenschaftler Hamed glaubt nicht mehr an Reformen. Die
       Proteste hätten 2019 ihren Höhepunkt erreicht. „Aber nichts hat sich
       geändert.“ Die Köpfe der Protestbewegung hätten gegen das System
       demonstriert – nur, um nun selbst Kandidaten zu sein und das System zu
       stützen. Manche hätten sich sogar für ihre Teilnahme an den Protesten
       entschuldigt. „Das System verfügt über die Mittel, um Reformen zu
       verhindern: Geld, Waffen, Jobs. Der heikle Punkt ist, dass sie Einfluss in
       der Gesellschaft haben. Zum Beispiel Muqtada al-Sadr. Er repräsentiert eine
       sehr große Gruppe.“
       
       Dass der Milizenführer Sadr die Wahlen boykottiert, würde den Einfluss des
       Iran, der diese Gruppen stützt, nicht schwächen, so Hamed. Die Milizen
       hätten bei diesen Wahlen eine neue Strategie: „Sie ziehen ins politische
       Feld, damit ändern sie ihren Einfluss, hinein in die Institutionen.“ Hamed
       prophezeit nach den Wahlen erst mal einen politischen Stillstand, bis sich
       die Fraktionen auf eine Regierung einigen können.
       
       Selbst in die Politik gehen, das möchte Sally Mars nicht. Stattdessen will
       sie mit Kunst die Leute zum politischen Handeln inspirieren. Doch auch das
       sei frustierend: Sie habe Drohungen von einer schiitischen Miliz bekommen,
       nachdem sie Konzerte in ihrem Kulturraum veranstaltet habe. Weil sie um das
       Leben ihrer Familie fürchtete, habe sie den Kulturraum schließlich
       geschlossen.
       
       Sally Mars sucht nun nach einer Band. Und sie überlegt, vielleicht im
       Ausland Kunst zu studieren. Sie setzt auf die Gen Z, die keine Unterschiede
       zwischen den Ethnien oder Geschlechtern mache, wie sie sagt. „Ich warte
       darauf, dass sie in die Politik gehen und sich nicht korumpieren lassen.“
       
       11 Nov 2025
       
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