# taz.de -- Singapur: Nichts als die Wahrheit
       
       > Singapur hat eines der härtesten Anti-Fake-News-Gesetze. Die Regierung
       > missbraucht es, um Kritiker:innen der Todesstrafe zum Schweigen zu
       > bringen.
       
 (IMG) Bild: Sauber, ruhig, sicher: Singapurs friedvolles Dasein ist politisch hart hergestellt
       
       Auf den Straßen Singapurs geht es leise zu, beinahe, als sei immer
       Feiertag. Zwischen den glasverkleideten Hochhäusern fahren nur wenige, oft
       elektrische Autos umher. Die über drei Millionen Menschen, die täglich die
       Metro nutzen, verteilen sich entspannt in den großzügigen Gängen der
       U-Bahn-Stationen mit ihren glänzend polierten Granitfliesen am Boden.
       
       Geschäfte gibt es hier keine, nur Automaten für frisch gepressten
       Orangensaft. Der kommt mit verschweißtem Deckel aus der Klappe. Öffnen,
       bevor man in den eigenen vier Wänden ist, ist streng verboten.
       
       Polizisten? Schmutz? Bettler? Verspätungen?
       
       Hier nicht.
       
       Als Besucher gewöhnt man sich an die Ruhe, die Sauberkeit und das Gefühl
       von Sicherheit so schnell, dass man es bald für normal hält. Doch all das
       ist nicht gottgegeben, sondern politisch aufwendig hergestellt. Die
       staatlich limitierten Autozulassungen etwa werden versteigert. Wer einen
       Mittelklassewagen auf die Straße bringen will, muss über 100.000 Euro
       zahlen. Gleichzeitig investierte Singapurs Regierung bis heute umgerechnet
       rund 100 Milliarden Euro in die Metro – Weltrekord.
       
       Mit Geld und strengen Gesetzen werden Gefahr, Schmutz und Unruhe von dieser
       Insel (genau genommen sind es 64 Inseln) des Wohlstands ferngehalten. Und
       wenn das die Freiheit einschränkt, dann ist das eben so. Für diesen
       Gesellschaftsvertrag steht die [1][People's Action Party] (PAP), die
       Singapur schon seit 1959, drei Jahre vor der Unabhängigkeit von
       Großbritannien, ohne Unterbrechung regiert.
       
       Heute kommt immer mehr vom Schmutz und den Gefahren der Welt aus dem
       Internet. Auch da greift die PAP durch. Seit 2019 gibt es den Protection
       from Online Falsehoods and Manipulation Act (POFMA).
       
       Er stellt die Verbreitung von „Unwahrheiten“ unter Strafe, wenn sie
       Sicherheit, öffentliche Gesundheit, öffentliche Ruhe oder Staatseinnahmen
       gefährden, „Hassgefühle“ zwischen den Volksgruppen – gemeint sind Malaien,
       Chinesen und Inder – schüren oder „das Vertrauen der Öffentlichkeit in die
       […] Regierung“ untergraben. In schweren Fällen drohen umgerechnet 335.000
       Euro Geldstrafe und bis zu zehn Jahre Haft.
       
       Die öffentliche Ruhe stören, das hat sich [2][Kokila Annamalai Parvathi]
       zweifellos vorgenommen. Alle nennen sie nur Koki, vermutlich sogar die
       Menschen im Todestrakt, die Parvathi vor der Hinrichtung zu retten
       versucht. In Singapur herrsche ein „barbarisches Todesstrafenregime“, sagt
       Parvathi, und sie werde das niemals akzeptieren.
       
       ## Sich selbst der Lüge bezichtigen
       
       Parvathi ist eine der Gründer:innen des [3][Transformative Justice
       Collective] (TJC). In der Gruppe haben sich viele Gegner:innen der
       Todesstrafe in dem Stadtstaat vereint. Singapurs Regierung warnt vor ihnen,
       so wie sie vor Rauchen, ungesundem Essen oder Smog warnt: „Auf dieser
       Website wurden mehrere Unwahrheiten verbreitet“, steht heute auf der
       TJC-Seite.
       
       Leser:innen sollten „Vorsicht walten“ lassen. Denn wer in den Augen von
       Singapurs Regierung Fake News verbreitet, muss sich selbst der Lüge
       bezichtigen und die Darstellung der Regierung als die korrekte öffentlich
       anerkennen.
       
       Parvathi aber weigert sich, das zu tun.
       
       Sie ist 37 Jahre alt, ihre gelockten schwarzen Haare fallen lose auf die
       Schultern, sie trägt oft einen Sari, wie ein Bekenntnis zu ihren indischen
       Wurzeln. Ihr Instagram-Profil heißt „[4][learningfromthemargins]“, von den
       Marginalisierten, den Ausgegrenzten lernen, soll das heißen. Zu sehen sind
       dort viele Fotos von ihr mit erhobener Faust in der ersten Reihe von
       Protestveranstaltungen.
       
       Campaignerin ist vielleicht die treffendste Beschreibung für das, was sie
       tut: Protestaktionen organisieren. Sie macht das schon, seit sie Anfang 20
       ist. „Ich hab das zu meinem Beruf gemacht“, sagt sie: Kämpfe von
       Mieter:innen und migrantischen Arbeitskräften, gegen Wucher oder
       Ausbeutung, für Palästina. Vor allem aber kämpft Parvathi gegen die
       Todesstrafe.
       
       Im [5][Safest City Index des Economist] landet Singapur 2021 weltweit auf
       Platz drei. Die Kriminalitätsrate ist eine der niedrigsten der Welt. 78
       Prozent der Singapurer:innen sind der Meinung, es brauche die
       Todesstrafe, damit das so bleibt.
       
       14 Menschen wurden laut Amnesty International bisher 2025 in dem Stadtstaat
       hingerichtet. Im Verhältnis zur Bevölkerungsgröße sind das etwa 19-mal so
       viele wie in den USA. Der hochtechnisierte Staat straft dabei wie im
       Mittelalter: Mit dem Galgen, an Freitagen, kurz vor Sonnenaufgang. Meist
       trifft es Migrant:innen, Arme, Suchtkranke. Das TJC, Parvathis Gruppe,
       protestiert mit Mahnwachen, Veranstaltungen, offiziellen Eingaben in einem
       Land, in dem Protest und öffentliche Kritik an der Regierung keinen Platz
       haben.
       
       Viele im Land wüssten auch gar nicht, was es zu kritisieren gäbe. Sie sagen
       Sätze wie: „Wenn ich so höre, wie es anderswo zugeht, dann muss ich sagen:
       Ich kann mich nicht wirklich beschweren“ – so oder ähnlich denken viele
       Menschen in Singapur.
       
       Fotos noch aus den letzten Jahren der britischen Herrschaft in dem
       Stadtstaat Anfang der 1960er Jahre zeigen einfache Holzhütten zwischen
       Palmen. Heute wirkt die Stadt wie eine Architekturausstellung, eine
       Manifestation dessen, zu was Baukunst imstande ist, wenn Geld und Ambition
       zusammenkommen. Möglichst bald schon sollen die Gebäude voll begrünt sein,
       um der Klimakrise besser zu trotzen. Vorbildlich ist die Stadt dabei schon
       heute. Das tropische Grün kontert die Sterilität der Straßen.
       
       Singapur ist keine Geheimdienstdiktatur, die mit undurchsichtigen Methoden
       und Willkür ihre Gegner kontrolliert. Das staatliche Vorgehen gegen
       Aktivist:innen wie Parvathi ist haarklein im Netz dokumentiert, zu
       jedem Schritt gibt es eine offizielle Pressemitteilung samt Kontaktdaten
       für Nachfragen. Die Repression wird hier mit maximaler Transparenz
       vollzogen. Vielleicht ist das ein Grund, weshalb Aktivist:innen dazu
       bereit sind, relativ frei zu reden.
       
       Parvathi kommt zum Treffpunkt in eine Mall am westlichen Ende der
       Haupteinkaufsstraße Orchard Road. Nach einem kurzen Gespräch führt sie in
       eine benachbarte Mall, läuft durch den Hinterausgang zu einer Wohnstraße
       mit zweistöckigen Häusern, eine Rarität angesichts des knappen und
       exorbitant teuren Baulands.
       
       Die Häuser sind einfach gebaut, aber ihr Wert geht in die Millionen. So ist
       es nur einem wohlhabenden privaten Gönner zu verdanken, dass in einem
       dieser Bauten ein knappes Dutzend linker politischer Gruppen ihren
       Treffpunkt und ihre Büros haben. Klima, LGBTIQ, Streiks – mit den ganzen
       Politplakaten an den Wänden wirkt dieser Ort wie ein Fremdkörper inmitten
       des glatten, durchorganisierten Singapurs.
       
       Parvathi setzt sich an einen Tisch und erzählt. Sie spricht druckreif,
       alles was sie sagt, hat sie offenkundig lange durchdacht, in Diskussionen
       erprobt. Das Anti-Fake-News-Gesetz nennt sie eine „Form der psychologischen
       Gewalt gegen die Öffentlichkeit“. Es werde von den „Machthabern
       missbraucht, um ihre eigennützigen Meinungen als ‚korrekte Fakten‘
       auszugeben und sie uns in den Hals zu stopfen“, sagt sie.
       
       Die Vorwürfe gegen sie beziehen sich auf Posts vom Oktober 2024. Sie
       kritisiert darin die Umstände mehrerer Hinrichtungen, unter anderem jener
       von Mohammad Azwan bin Bohari. Er wurde 2017 mit 26,5 Gramm Diamorphin,
       synthetischem Heroin, in einer Keksdose von der Polizei aufgegriffen. 15
       Gramm reichen, um in Singapur zum Tode verurteilt zu werden. Sieben Jahre
       später, am 4. Oktober 2024, wurde Bohari im Alter von 48 Jahren exekutiert.
       
       Parvathi hatte unter anderem kritisiert, dass das Rechtssystem den
       Todeskandidaten eine unerfüllbare Beweislast aufbürdet. Sie verwies auch
       darauf, dass die Familie Boharis angesichts noch ausstehender Rechtsmittel
       von der Hinrichtung überrascht wurde. [6][Auch Amnesty International hatte
       dies scharf gerügt]. Mit Blick auf weitere Fälle hatte Parvathi fehlende
       Dolmetscher und die Hinrichtung psychisch kranker Menschen kritisiert.
       
       Ihre Vorwürfe veröffentlichte Parvathi auf den Webseiten des TJC und auf
       ihren eigenen Social-Media-Kanälen. Nur Tage später wies das
       Innenministerium die beim Informationsministerium angesiedelte
       Anti-Fake-News-Behörde an, eine „Korrekturmeldung“ zu verfassen. Diese
       Meldungen werden zunächst auf einer Regierungsseite mit dem Namen
       „Factually“ – also etwa „tatsächlich“ – veröffentlicht.
       
       Bliebe es dabei, wäre es schlicht eine Gegendarstellung, in der die
       Regierung ihre Sicht der Dinge darlegt.
       
       Doch es geht weiter.
       
       Der POFMA sieht keine Löschung vor. Die Verfasser:innen müssen vielmehr
       auf der Startseite ihrer Website oder im Header ihres Social-Media-Profils
       eine von der Regierung vorformulierte Selbstbezichtigung posten. Das TCJ
       als Ganzes gab nach: „Auf dieser Website wurden mehrere Unwahrheiten
       verbreitet“, steht dort nun in Englisch ganz oben auf der Startseite, bis
       heute.
       
       Zweitens muss ein Warnhinweis dem fraglichen Beitrag vorangestellt werden:
       „Dieser Beitrag enthält falsche Tatsachenbehauptungen“, [7][steht dort
       nun]. Für die „korrekten Fakten“ möge man dem bereitgestellten Link zur
       Darstellung der Regierung folgen.
       
       Drittens schließlich muss der Text des ursprünglichen Beitrags in einer von
       der POFMA-Behörde vorformulierten Weise verändert oder ergänzt werden.
       Dabei wird das, was dort vorher stand, teils ins Gegenteil verkehrt. Unter
       anderem steht dort nun: Die Todeskandidaten um Mohammad Azwan bin Bohari
       hätten das Gerichtsverfahren „missbraucht“, indem sie „in letzter Minute
       Anträge einreichen, um ihre geplante Hinrichtung zu verhindern“.
       
       Wer die Anweisungen der POFMA-Behörde befolgt und die Regierungsdarstellung
       übernimmt, wird nicht weiter bestraft. Für Parvathi kam das nicht infrage.
       Sie ließ die Posts auf ihren eigenen Profilen unverändert. „Es gibt keine
       Strafe, die hart genug wäre, um mich zu zwingen, diese Ansicht als die
       ‚Wahrheit‘ zu wiederholen“, sagt sie.
       
       Todeskandidaten gehören zu den „verletzlichsten, machtlosesten und
       stimmlosesten Menschen in unserer Gesellschaft“, sagt Parvathi. „Die
       Gerichte hingegen gehören zu den mächtigsten Institutionen in diesem Land.“
       Es sei sehr seltsam, es „Missbrauch“ zu nennen, wenn Gefangene vor einer
       Hinrichtung alle zur Verfügung stehenden rechtlichen Mittel ausschöpfen.
       „Für mich ist das eine höchst widerwärtige Position“, so Parvathi. „Ich
       stehe zu dem, was ich gesagt habe.“
       
       Das Land verlassen darf Parvathi zum Zeitpunkt des Treffens mit der taz
       nicht. Die Justiz hat ihr ihren Pass eingezogen, sie ist auf 5.000 Dollar
       Kaution in Freiheit. Denn im Februar 2024 hatte sie einen Protestmarsch
       gegen den Krieg in Gaza zum Sitz des Präsidenten angeführt. Gestattet sind
       Proteste in Singapur aber nur in einer Ecke des Hong-Lim-Parks in der
       Innenstadt.
       
       Wegen der Todesstrafenposts sei sie „mehr als sechs Stunden auf der
       Polizeiwache“ verhört worden, „ohne Anwalt“, berichtet sie. Der Prozess in
       der Sache steht noch aus.
       
       Nationale und internationale Medien berichteten über Parvathis Fall. In
       Singapur selbst muss die Regierung Kritik an ihrem Vorgehen indes kaum
       fürchten. Was sie tut, empfinden viele Menschen als legitim.
       
       Praktisch ohne politische Konkurrenz, mit genügend Geld und einer relativ
       unkritischen Medienlandschaft vermochte die Regierung über Jahrzehnte
       umzusetzen, was sie versprach. Auch ohne eigene Rohstoffe führte sie das
       Land ökonomisch an die Weltspitze, freiheitsmäßig aber nur ins Mittelfeld:
       48 von 100 Punkten bekommt Singapur im [8][Freedom-in-the- World-Index].
       
       Zum Unabhängigkeitstag verschickt die Regierung Gutscheine für Kuchen an
       alle Haushalte. Nachdem die Zahl der Online-Betrügereien zugenommen hatte,
       kam Anfang August eine viersprachige Postwurfsendung der Polizei mit
       Leitfaden in leichter Sprache und den Kontaktdaten zu externen
       Beratungsstellen. Singapur ist eine Art asiatischer Nanny State. Und über
       die Jahrzehnte hat die Bevölkerung die Mischung aus Wohlstand, Sicherheit
       und engen Grenzen akzeptiert.
       
       So kann das „Untergraben des Vertrauens in die Regierung“ heute als
       Straftat verfolgt werden. Aus europäischer Sicht erscheint das wie ein
       uferloses Instrument der Herrschenden, sich vor Kritik zu schützen. „In
       Singapur war das gar kein Thema“, sagt dazu Thum Ping Tjin. Der einst in
       Oxford lehrende Historiker ist auf die Verfassung des Stadtstaats
       spezialisiert und einer der wenigen wahrnehmbaren Regierungskritiker
       Singapurs.
       
       Thum gründete mit Parvathi und anderen das Transformative Justice
       Collective. 2018 war er einer der Expert:innen, die im Parlament bei den
       Beratungen zum POFMA angehört wurden.
       
       ## Meinung kann Fake News sein
       
       Schon damals warnte er vor dem Gesetz. 2020 dann sagte er in einem
       Youtube-Video seiner Reihe „The Show with PJ Thum“, dass der POFMA Kritik
       an der Regierung unmöglich mache. Er bekam postwendend einen ministeriellen
       Bescheid, dies als „Fake News“ zu kennzeichnen. Die Regierung
       veröffentlichte „Korrekturen und Klarstellungen“ zu seinem Video. Thum gab
       nach, veröffentlichte eine neu geschnittene Fassung des Clips.
       
       Der Historiker berichtet davon bei einem Zoom-Gespräch aus Kobe in Japan.
       Denn die Regierung Singapurs hatte Thum 2023 mit fadenscheiniger Begründung
       Wahlmanipulation vorgeworfen. Als der Druck größer wurde, ging der
       Wissenschaftler mit seiner Frau aus Singapur ins Exil.
       
       Dass die Regierung Fake News bekämpfen wolle, sei an sich richtig, sagt
       Thum. „Das ist ein Problem, wir sehen ja, wie etwa Russland in Europa mit
       Desinformation versucht, Wahlergebnisse zu manipulieren oder die Ukraine
       als Kriegsschuldige erscheinen zu lassen.“ In Singapur sei „chinesische
       Desinformation eines der größten Probleme“, so Thum.
       
       Auch gegen das Anliegen, die Harmonie zwischen verschiedenen ethnischen
       Gruppen zu schützen, keine Hetze zuzulassen, sei nichts einzuwenden, ebenso
       wenig, wie Fake News von Impfgegnern über Covid einzudämmen.
       
       „Zu Beginn hat die Regierung versprochen, dass sie nur gegen Unwahrheiten
       vorgehen werde, die öffentliche Interessen beeinträchtigen“, sagt Thum über
       den POFMA. Anfangs sei es auch so gehalten worden. „Aber sehr bald wurde
       klar, dass die Regierung den eigenen Ansprüchen nicht gerecht wird.“ Bald
       schon habe sie auch Meinungsäußerungen als „Fake News“ angegriffen und sei
       dabei mit „sehr zweifelhaften Begründungen gegen Oppositionspolitiker“
       vorgegangen, erzählt er.
       
       Sogar, wenn nur die Interpretation einer Aussage falsch sein kann, könne
       sie die Aussage als falsch einstufen. So könne sehr vieles, was der
       Regierung nicht gefällt, heute als Fake News verfolgt werden.
       
       Die POFMA-Behörde will dazu kein Interview geben. Auf Anfrage schickt das
       Justizministerium nur eine freundliche Mail mit ein paar Links. Darin ist
       zu lesen, wie hilfreich sich das Gesetz im Kampf gegen Fake News erwiesen
       hat.
       
       In den USA zerstört Trumps Regierung gerade alles, was demokratische
       Rechtsstaatlichkeit ausmacht. Möglich wurde dies auch durch eine
       unregulierte Medienöffentlichkeit, die der Verbreitung von Hass, Hetzen und
       Lügen keinerlei Schranken setzte. Am Ende war das Misstrauen in den Staat,
       der Hass auf die Minderheiten so groß, dass Trump durchmarschieren konnte.
       
       In der EU gibt es Kräfte, die Ähnliches vorhaben. Auch sie diskreditieren
       die Eliten, die Institutionen, die Demokratie. Sie lügen und hetzen, als
       Geschäft und als politisches Projekt. Die Folgen sind bereits sichtbar.
       Eine Umfrage der Körber Stiftung von 2024 ergab, dass das „Vertrauen in die
       Demokratie“ bei 51 Prozent der Deutschen „weniger groß“ oder „gering“ war.
       Der Bundesregierung brachten nur noch 18 Prozent „großes“ oder „sehr
       großes“ Vertrauen entgegen.
       
       Wer hierzulande mit den Landesmedienanstalten oder Politikern darüber
       spricht, wie der demokratiezersetzenden Hetze im Netz Einhalt geboten
       werden kann, hört immer wieder einen Satz, der auf George Orwells Roman
       1984 verweist: Der Staat dürfe „kein Wahrheitsministerium“ sein, nicht über
       Wahrheit oder Unwahrheit von Inhalten entscheiden. Die Redefreiheit sei
       dann nicht mehr gewahrt.
       
       Eine sehr nachvollziehbare Position. Was aber dann?
       
       Seit April 2021 beobachtet der Verfassungsschutz in Deutschland einen neuen
       Phänomenbereich namens „Delegitimierung des Staates“. Viele erinnert schon
       die Formulierung an die DDR, in der Regimekritik einen Knastaufenthalt in
       Bautzen nach sich zog.
       
       Seit 2024 versucht die EU, mit dem [9][Digital Services Act] (DSA) gegen
       Desinformation im Netz vorzugehen. Auch in Deutschland werden dazu seither
       von der Bundesnetzagentur sogenannte [10][Trusted Flagger] registriert, die
       den Plattformbetreibern bevorzugt kritische Inhalte zur Löschung melden
       dürfen. Als dies bekannt wurde, tobten rechte Medien über vermeintliche
       Zensur.
       
       Sie störten sich vor allem daran, dass so auch Inhalte unterhalb der
       Strafbarkeitsgrenze nach politischen Prämissen von den Plattformen gelöscht
       werden müssen. Diese Kritik kam vor allem von solchen Plattformen, deren
       Geschäftsmodell es ist, Hass, Hetze und Fake News zu verbreiten. Aber sie
       hat einen Punkt.
       
       In Singapur fürchten viele nicht nur Desinformation aus China, sondern auch
       den Einfluss dschihadistischer Gruppen aus den islamischen Nachbarländern.
       Alles, was als Hetze gegen eine der Bevölkerungsgruppen verstanden werden
       kann, versucht man in Singapur zu ahnden – unter anderem mit dem POFMA.
       
       77 Prozent der Bevölkerung bringen der Regierung Umfragen zufolge großes
       oder sehr großes Vertrauen entgegen. Auch wenn es keine wirklich
       unabhängigen Institute für diese Umfragen gibt, dürfte dieser Meinungstrend
       zutreffend dargestellt sein. Neue Regelungen, etwa zum Klima- oder
       Gesundheitsschutz kann die Regierung mit solchem Rückhalt in kürzester Zeit
       beschließen und durchsetzen.
       
       Um die Gefahr der Destabilisierung im Netz einzudämmen, setzt Singapur auf
       einen rigorosen Kurs und bleibt so politisch handlungsfähig. Immer
       deutlicher zeigt sich aber, welche Risiken das birgt.
       
       Am 12. Dezember 2024 veröffentlichte das Portal Bloomberg in Singapur einen
       Artikel des Investigativjournalisten Low De Wei. Darin beschrieb er
       zweifelhafte Immobiliengeschäfte, in die unter anderem ein amtierender
       singapurischer Minister und ein Ex-Minister verstrickt waren. Beide klagten
       gegen Bloomberg, gleichzeitig aber behauptete die Regierung, De Weis
       Artikel enthalte Unwahrheiten.
       
       Die POFMA-Behörde wies Bloomberg – Platz 23 der größten Medienkonzerne
       weltweit, 13 Milliarden Dollar Umsatz – an, eine „Berichtigung“ über dem
       Artikel zu platzieren.
       
       Seit dem 23. Dezember steht auch dort nun: „Dieser Beitrag enthält falsche
       Tatsachenbehauptungen. Die richtigen Fakten finden Sie unter …“ und dann
       der Link zur Darstellung der Regierung. Die läuft darauf hinaus, dass an
       den Vorwürfen nichts dran sei und in der Regierung niemand etwas falsch
       gemacht habe. Ein Gerichtsurteil zu den Klagen der Minister gibt es bis
       heute nicht.
       
       Der Fall von Low De Wei ist umso erstaunlicher, weil es eigentlich zum
       Selbstverständnis der PAP gehört, nicht die kleinste Toleranz bei
       Korruptionsverdacht zu zeigen. Im „Korruptionswahrnehmungsindex“ von
       Transparency International steht das Land weltweit auf Platz 3.
       
       Parvathi sagt, sie habe „Angst vor Geldstrafen, die ich mir nicht leisten
       kann, und vor Gefängnisstrafen“. Noch mehr aber fürchte sie, was geschehe,
       wenn man „nicht für die Wahrheit“ eintrete. „Ich habe vor allem Angst, dass
       ich meinen moralischen Kompass verliere und meine Integrität verrate, wenn
       ich das nicht tue.“
       
       Desinformation ist ihrer Ansicht nach vor allem deshalb ein Problem, weil
       traditionelle Medien und Online-Netzwerke „vom Großkapital und den
       politischen Eliten kontrolliert“ werden. Singapur sollte eine Warnung für
       jede Gesellschaft sein, deren Regierung Gesetze plant, die die
       Meinungsfreiheit auf diese Weise beeinträchtigen, sagt sie. Es sei
       gefährlich, „eine oberste Autorität für die Wahrheit“ zu akzeptieren und
       staatlichen Behörden die Entscheidung darüber zuzugestehen, „was wahr und
       was falsch ist“.
       
       25 Nov 2025
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Machtwechsel-in-Singapur/!6010728
 (DIR) [2] https://www.theguardian.com/world/2024/nov/06/kokila-annamalai-singapore-activist-online-speech-laws-pofma-ntwnfb
 (DIR) [3] https://transformativejusticecollective.org/
 (DIR) [4] https://www.instagram.com/learningfromthemargins
 (DIR) [5] https://impact.economist.com/projects/safe-cities/
 (DIR) [6] https://www.amnesty.org/en/latest/news/2024/10/singapore-unlawful-execution-despite-ongoing-legal-appeal-raises-fears-of-more-to-come/
 (DIR) [7] https://transformativejusticecollective.org/2024/10/02/azwan-faces-execution-in-singapore-on-4-october/
 (DIR) [8] https://freedomhouse.org/explore-the-map?type=fiw&year=2025&country=SGP
 (DIR) [9] /Digital-Markets-und-Digital-Services-Act/!5992274
 (DIR) [10] /Welt-diffamiert-Behoerde/!6042017
       
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       Auf X sieht man jetzt, wo ein Account sitzt. Pro-Trump-Accounts finden sich
       oft außerhalb der USA. Und es gibt weitere Überraschungen.
       
 (DIR) Klagerechte für Konzerne gegen Politik: Kritik an Investitionsabkommen mit Singapur und Vietnam
       
       Der Bundestag soll EU-Verträge mit zwei asiatischen Ländern ratifizieren.
       Unter Robert Habeck hielt das Wirtschaftsministerium das noch für
       „riskant“.
       
 (DIR) Gemeinsam unabhängiger von Peking: Malaysia und Singapur planen neue Sonderwirtschaftszone
       
       Eine gemeinsame Sonderwirtschaftszone soll Malaysia und Singapur
       unabhängiger von China machen. Die beiden Staaten sind zwei ungleiche
       Partner.
       
 (DIR) 16 Insektenarten als Lebensmittel: Singapur ändert Lebensmittelgesetz
       
       Die meisten Menschen kostet es noch viel Überwindung, Insekten zu
       verspeisen. Aber sie gelten als nachhaltige Proteinquelle und
       umweltschonend.