# taz.de -- Suche nach der eigenen Geschichte: „Ich hatte das Grönländisch verlernt“
> Maria Nûko Jørgensen kam in Grönland zur Welt, lebte als Kind auf der
> Straße, dann bei einer Pflegefamilie in Dänemark. Mit ihrer Geschichte
> ist sie nicht allein.
(IMG) Bild: „Ich könnte schüchtern bleiben, im Verborgenen. Aber es geht nicht nur um mich“, sagt Maria Nûko Jørgensen
Tasiilaq, Sommer 2025. Das Rote Haus ist eine Herberge an einem der
abgelegensten Orte Grönlands. Zwischen Abenteuertouristinnen, Bergführern
und den Inuit, die hier arbeiten, steht plötzlich, sehr still, diese Frau.
Nicht von hier. Und doch von hier. Maria Nûko Jørgensen wurde Ende der
sechziger Jahre in Ostgrönland geboren, als die Menschen teils noch in
Häusern aus Torf und Stein wohnten. Ich bin in Ostgrönland auf
Recherchereise, Maria ist auf der Suche nach ihrer Geschichte, das erste
Mal am Ort ihrer Geburt. Maria ist Dänin. Und Grönländerin. Und ein klein
bisschen auch Deutsche. Im Herbst treffen wir uns wieder, Maria ist im
Urlaub in Brandenburg. Weil in Dänemark nur der König gesiezt wird, duzen
auch wir uns.
taz: Maria, lass uns mit einem Gedankenexperiment beginnen: Du bist jetzt
58. Wie wäre dein Leben heute, wenn du in [1][Grönland] geblieben wärst?
Maria Nûko Jørgensen: Darüber habe ich selbst viel nachgedacht, als ich
noch jünger war. Ich hatte nur Vorstellungen von einem schlechten Leben in
Grönland, mit Alkohol und Verwahrlosung. Aber inzwischen habe ich Grönland
von einer besseren Seite kennengelernt und kann mir vorstellen, dass ich
ein ruhiges und familiäres Leben hätte. Vielleicht könnte ich auch noch
arbeiten. Viel von der Belastung, die mich krank gemacht hat, ist aus der
Umsiedlung von der grönländischen in die dänische Kultur entstanden.
taz: In welche Welt wurdest du geboren?
Nûko Jørgensen: Viel weiß ich nicht. Ich bin 1967 in Kulusuk geboren, das
ist ein kleiner Ort in Ostgrönland, damals lebten da vielleicht 400
Menschen. Meine Großeltern waren von dort, meine Mutter auch. Es war eine
wilde Zeit.
taz: Wild im Sinne von ursprünglich?
Nûko Jørgensen: Es gab erst wenige Holzhäuser. Meine Cousine, die nur etwas
älter ist als ich, ist noch in einem Torfhaus geboren (teils unter der Erde
liegende Unterkunft, in der mehrere Familien im Winter zusammenlebten; Anm.
d. Red.). Die Familie meiner Mutter hat mit Schlittenhunden gelebt, von
dem, was sie gejagt haben. Die Kleidung haben sie zum Teil noch selbst
hergestellt. Es war ein einfaches Leben und ein schweres.
taz: [2][Dänemark] wollte seine frühere Kolonie assimilieren, die Jäger und
Sammler sollten ihre nomadische Lebensweise aufgeben. In Ostgrönland ist
das kaum 60 Jahre her, du bist genau in der Zeit dieses Umbruchs geboren.
Nûko Jørgensen: Es sollten alle in Holzhäusern leben und in Ostgrönland
sollte eine Fischfabrik gebaut werden, aber daraus wurde erst in diesem
Jahr etwas. Als ich ein Jahr alt war, ist meine Mutter auf der Suche nach
einem modernerem Leben mit mir nach Nuuk gezogen, nach Westen, in die
Hauptstadt. Sie war selbst erst 21. Nuuk hieß damals noch Godthåb, das ist
Dänisch für Gute Hoffnung.
taz: Was war mit deinem Vater?
Nûko Jørgensen: Mein Vater war ein amerikanischer Soldat, der eine Zeit
lang in Grönland stationiert war. Ich habe ihn nie kennengelernt. Er hat
mich wohl noch gesehen, als ich geboren wurde, und ist dann zurück in die
USA zu seiner Familie. Meine Mutter hat kurze Zeit später einen dänischen
Handwerker kennengelernt, mit ihm ist sie in Godthåb zusammengezogen.
taz: Was ist das erste aus deiner Kindheit, an das du dich erinnerst?
Nûko Jørgensen: Ich bin vielleicht 3 Jahre alt, sitze auf dem Kinderwagen
meiner Schwester und kann alles von oben sehen. Meine kleine Schwester ist
nur 18 Monate nach mir geboren. Wir lebten in Nuuk in so einem typischen
roten Holzhaus. Nur 50 Meter zur Wasserpumpe und direkt am Strand, wo die
Wale reinkamen und wo man sie zerlegt hat zum Essen. Wir hatten Holzmöbel,
alles ganz modern, dänisches Design. Und auch einen Petroleumofen.
taz: Das klingt, als hätte deine Mutter gefunden, was sie suchte.
Nûko Jørgensen: Aber dann ist etwas schief gegangen. Ich habe Erinnerungen,
meine Schwester ist so klein, dass sie noch im Haus herumkrabbelt. Wir
suchen nach Essen, während meine Mutter ganz fest schläft, vom Trinken. Als
ich ungefähr dreieinhalb war, war meine Schwester plötzlich nicht mehr da.
Meine Mutter dachte, sie wäre bei den dänischen Großeltern. Aber mein
Stiefvater hat mir 40 Jahre später erzählt, dass sie zur Adoption
freigegeben wurde. Dann war ich allein, aber nicht lange. Ich erinnere mich
noch, wie meine Mutter und ich in so ein Büro gegangen sind. Sie und die
Frau haben sich gestritten. Und dann kam ich in ein Kinderheim vom Roten
Kreuz.
taz: Traditionell lebten die grönländischen Familien in engen
Gemeinschaften, im Kollektiv – und nicht in der westlichen Kleinfamilie.
Nûko Jørgensen: Ja, und es war Teil der Kultur, dass man untereinander ein
Kind aufgenommen hat, wenn die Eltern es nicht gut schafften. Wären wir in
Ostgrönland geblieben, hätte mich bestimmt jemand aus der Familie als
Pflegekind aufgenommen. Dann hätte ich diese große Liebe der Familie zu den
Kindern bekommen. Sogar als Erwachsene habe ich diese Liebe gespürt, als
ich im Sommer das erste Mal wieder in Ostgrönland war. Meine Großcousinen
und Cousinen haben gesagt: Du wurdest uns geklaut, wir wussten gar nicht
wohin, und wir haben dich so vermisst. Wir lieben dich, haben sie gesagt.
Das war überwältigend für mich.
taz: Die geklauten Kinder – das ist eine verbreitete Erzählung in Grönland.
Nûko Jørgensen: Ich schreibe an einem Buch, einem autofiktionalen Roman,
über die Vernachlässigung von Kindern mit alkoholkranken Eltern. Ich habe
mich dafür auf die Suche gemacht, ob dies nur meine Geschichte ist oder die
vieler grönländischer Kinder. Tatsächlich wurden viele Kinder weggenommen.
Und viele wurden nach Dänemark geschickt, zu kinderlosen Ehepaaren.
taz: Der frühere Leiter der grönländischen Sozialbehörde nannte das einmal
einen „Selbstbedienungsladen“. Hunderte Kinder kamen aus Grönland nach
Dänemark, wie viele genau, ist nicht bekannt. Aber du warst erst einmal in
diesem Kinderheim in Nuuk.
Nûko Jørgensen: Ich bin ein paar Jahre da gewesen und hatte mich auch daran
gewöhnt. Ich war tagsüber im Kindergarten, da gab es genau wie im Heim nur
dänische Erzieher. So wie meine spätere Pflegemutter. Sie war mit 21 in die
ehemalige Kolonie gezogen, um Gutes zu tun. Um die Grönländer zu
dänifizieren, so war das damals. Es gab auch grönländische Frauen im Heim,
aber nur in der Küche.
taz: Hast du dich schon im Kinderheim von deiner grönländischen Herkunft
entfremdet?
Nûko Jørgensen: Auf jeden Fall. Ganz besonders erinnere ich mich daran,
dass ich essen musste, auch wenn ich keinen Hunger hatte, und dass wir
ausgeschimpft wurden. Das kannte ich vorher gar nicht. Aber ich sprach
durch meinen Stiefvater schon Dänisch, deshalb fiel mir die Anpassung nicht
so schwer.
taz: Hattest du in dieser Zeit Kontakt zu deiner Mutter?
Nûko Jørgensen: Kurz bevor ich sechs geworden bin, haben sie mir im Heim
gesagt, dass ich zurück zu meiner Mutter komme. Ich war dann wieder in dem
roten Holzhaus, bei meiner Mutter und dem Stiefvater, und ein paar Monate
ging das irgendwie gut. Aber meine Mutter war sehr traurig, sie hat viel um
meine kleine Schwester geweint. Dann hat sie wieder angefangen zu trinken.
Irgendwann hatte der Stiefvater genug. Er hat sie rausgeschmissen, als ich
in der Vorschule war. Als ich nach Hause kam, hieß es, du wohnst nicht mehr
hier.
taz: Mit sechs Jahren standest du allein auf der Straße?
Nûko Jørgensen: An diesem Tag bin ich zu einer Schulfreundin, das weiß ich
noch. Danach habe ich immer woanders übernachtet. Ich hatte immer irgendwie
ein Dach über dem Kopf, ich kann mich nicht erinnern, dass ich auf den
Felsen schlafen musste. Aber es war meine Aufgabe, als Sechsjährige,
herauszufinden, wo ich nachts bleibe und wie ich was zu Essen bekomme.
taz: Und deine Mutter?
Nûko Jørgensen: Ich habe nach ihr gesucht. Manchmal habe ich sie auf der
Straße gefunden. Sie hat bei fremden Männern übernachtet, sie hat sich auch
ihre Schlafplätze organisiert.
taz: Bist du weiter in die Schule gegangen?
Nûko Jørgensen: Eigentlich immer, das gab mir ein Gefühl von Alltag und
Geborgenheit. Ich war auch gut in der Schule.
taz: Und da hat niemand gemerkt, dass du kein Zuhause hast?
Nûko Jørgensen: Ich habe später in die Akten geschaut, aber da steht nicht
viel. Das ist ein klarer Fall von Vernachlässigung. Aber es gab so viele
Kinder wie mich, ich war ja nicht die einzige. Manchmal wohnten wir in
Häusern, wo nur Kinder waren. Wir haben versucht, gemeinsam zu überleben.
An einer Stelle am Fjord, daran erinnere ich mich, war das Meer so klar, da
konnte man die Fische sehen. Wir haben alte Nägel gebogen und sie an einer
Schnur ins Wasser gehalten, aber da beißt ja nichts an ohne Köder. Wir
haben auch mit Steinen nach den Möwen geworfen, aber selbst wenn wir eine
getroffen haben, wie sollten wir sie aus dem eiskalten Wasser holen?
taz: Wie lange ging das so?
Nûko Jørgensen: Ich war fast acht, als mich eine Freundin von meiner Mutter
wieder zum Kinderheim brachte. Ich hatte keine Kraft mehr, immer nach
meiner Mutter und nach Essen zu suchen. Ich weiß noch, wie gern ich
gespielt habe, bevor alles so schief ging. Aber dann ging es nur noch ums
Überleben, ich wurde ein sehr stilles Kind. Zurückhaltung ist sowieso Teil
der grönländischen Kultur, die eigenen Bedürfnisse nach hinten schieben.
taz: Hat deine Mutter noch einmal versucht, dich zurückzubekommen?
Nûko Jørgensen: Sie wollte zurück zu ihren Eltern, nach Ostgrönland. Und
sie wollte mich mitnehmen. Wir haben Sachen in einen kleinen Koffer
gepackt, aber dann durfte ich doch nicht mit. Also war ich im Kinderheim.
Irgendwann habe ich diese junge dänische Erzieherin auf der Straße
getroffen, die ich als kleines Kind so mochte. Ich habe sie und ihren
Freund zu Hause besucht, wir haben Tee getrunken. Dann bin ich zur Probe
über die Weihnachtsferien bei ihnen gewesen und schließlich wurde ich ihr
Pflegekind. Sie haben noch ein Kind bekommen und 1977 sind wir nach
Dänemark in ein altes Bauernhaus gezogen, da war ich 10 Jahre alt. Sie
haben mich einfach mitgenommen, obwohl das seit 1976 eigentlich nicht mehr
erlaubt war.
taz: Brach der Kontakt zu Grönland damit ab?
Nûko Jørgensen: Kurz bevor ich konfirmiert wurde, hat meine leibliche
Mutter mich gefunden und gefragt, ob sie zu meiner Konfirmation kommen
kann. Ich wohnte seit vier Jahren in Dänemark und hatte sie, seitdem ich
sieben war, nicht mehr gesehen. Ich war total schockiert. Das ist mein
großer Tag und der große Tag meiner Pflegeeltern. Die haben mich zu sich
genommen und mich erzogen. Wieso soll sie an dem Tag kommen? Also habe ich
nein gesagt. Sie ist dann später gekommen, aber wir hatten uns nicht viel
zu sagen und wir hatten auch keine gemeinsame Sprache mehr. Ich hatte das
Grönländisch verlernt.
taz: War die Umsiedlung nach Dänemark Rettung und Entwurzelung zugleich?
Nûko Jørgensen: Darüber habe ich auch mit meiner Pflegemutter gesprochen,
weil es genau diese Ambivalenz in mir gibt. Erst recht, als ich erfahren
habe, dass sie mich illegal mitgenommen haben. Sie sagte: Was sollten wir
machen, dich zurücklassen? Und das verstehe ich auch. Ich verstehe auch,
dass meine Mutter mir nicht geben konnte, was ich als Kind gebraucht hätte.
Sie lebte an dem Bruch zwischen zwei Welten, selbst noch im Torfhaus
geboren und dann alles so modern. Die vielen Häuser und Fenster,
Wasserrohre – und das sind ja nur die Äußerlichkeiten. Wie man sich nach
der dänischen Norm benehmen soll und wie man mit den Kindern umgehen soll.
Das ging alles so schnell.
taz: Die Beziehung zu deiner Mutter ist daran zerbrochen?
Nûko Jørgensen: Mit 16 habe ich meine Mutter noch einmal besucht in Nuuk,
in den Ferien. Nach zwei Tagen hielt ich es nicht mehr aus, da fing sie
schon wieder an zu trinken. Zum Glück hatte mein Pflegevater eine Cousine
dort, bei der habe ich gewohnt und meiner Mutter jeden Tag einen
Pflichtbesuch abgestattet. Das war’s.
taz: Welche Rolle spielten deine Herkunft und deine Erlebnisse in Dänemark?
Nûko Jørgensen: Ich habe nichts erzählt und es hat auch niemand gefragt.
Auch meine Pflegeeltern nicht. Ich habe mich angepasst, ich war gut in der
Schule und es sah alles normal aus. Außer dass ich immer so müde war.
Zweimal habe ich mit einer Schulpsychologin gesprochen. Ich hatte gerade
erst angefangen zu erzählen, da sagte sie, es sei normal, dass ich bei
meiner Geschichte ein paar psychische Probleme hätte. Weitere Gespräche gab
es nicht, dabei hätte ich sie so nötig gehabt.
taz: Wurdest du diskriminiert in Dänemark?
Nûko Jørgensen: Manchmal gab es Bemerkungen: Ihr seid doch alle versoffen
und so. Aber auch von anderen Grönländern habe ich Ablehnung erfahren,
sobald die gemerkt haben, dass ich die Sprache nicht spreche. Ich habe
schnell festgestellt, dass es für mich einfacher ist, im Ausland zu leben
als in Dänemark – erst in London und später in Deutschland. Damals gab es
in Dänemark so viele Vorurteile gegen Grönländer, heute ist das etwas
besser geworden.
taz: Hast du dich als Dänin oder als Grönländerin gesehen?
Nûko Jørgensen: Ich habe das Grönländische 30 Jahre lang verbuddelt. Ich
habe einfach beschlossen, Dänin zu sein, Europäerin. Wieder Grönländerin zu
sein, dafür hatte ich nicht die Kraft. Ich wollte auf keinen Fall wie meine
leibliche Mutter sein. Als ich dann selbst Kinder bekommen habe, sah es so
aus, als hätte ich alles unter Kontrolle – Haus und Kinder blitzblank. Aber
ich habe in der Stille gelitten. Ich konnte irgendwann nicht mehr lachen,
nicht mehr gelassen sein. Da wurde der Alkohol zu meiner Lösung.
taz: Dann doch wie bei deiner Mutter.
Nûko Jørgensen: Ja, und manchmal war das auch wie eine Erleichterung: Ich
bin ja eh Grönländerin, von mir erwartet doch gar keiner etwas anderes, ich
bin dazu verdammt … Als ich angefangen habe zu trinken, lebten wir gerade
in Dänemark. Mein Mann ist Ingenieur und hat nach dem [3][Mauerfall] im
Osten Deutschlands Heizungen ausgetauscht und Häuser gebaut. Deshalb sind
wir in den Neunzigern in einen Ort in Brandenburg gezogen, wo wir heute
noch eine Wohnung für die Ferien haben.
taz: Auch das war eine Gesellschaft im Umbruch zwischen Alt und Neu.
Nûko Jørgensen: Und auch da wurde viel zusammengesessen und getrunken. Das
war praktisch für mich.
taz: Hat deine eigene Mutterschaft, vielleicht auch die Sucht, deine Sicht
auf deine Mutter verändert?
Nûko Jørgensen: Ich konnte verstehen, wie sehr die Sucht am Körper zieht.
Da sind deine Kinder und du solltest zu ihnen gehen und mit ihnen spielen
und lernen und alles. Aber du bleibst bei dem Glas Wein sitzen. Ich habe
meine Kinder nicht verlassen, aber ich war immer wieder mental abwesend.
Zum Glück hatten sie einen guten Vater.
taz: Wie lang war diese Phase der Sucht?
Nûko Jørgensen: Ich bin mit 27 das erste Mal zum Arzt und habe gesagt, ich
habe ein Problem. Ich hatte nie ein stabiles Arbeitsleben, immer wieder
Depressionen. Mit 42 habe ich aufgehört zu trinken. Der Alkohol war weg,
aber die seelischen Probleme waren noch da. Ich habe angefangen zu
erzählen, in der Selbsthilfegruppe, in der Therapie. Aber es ging mir immer
noch schlecht, ich konnte nicht mehr arbeiten, wurde frühverrentet. Also
musste ich noch tiefer in mich schauen. Es hat lange gedauert, bis ich
verstanden habe, dass ich das Grönländische umarmen muss.
taz: Wie geht das nach so vielen Jahren?
Nûko Jørgensen: Eine Cousine von mir ist aus der Heimat meiner Mutter nach
Dänemark gezogen, mit 58 Jahren. Diese Cousine war es, die mich in den Arm
genommen hat und mir gesagt hat, ich wurde vermisst. So kam ich zu der
Kraft, zurück nach Grönland zu reisen. Ich war 1983 das letzte Mal in Nuuk
und bin 40 Jahre später zurückgekehrt. Ich war da, wo das kleine rote Haus
stand. Ich war an den Felsen am Meer. Und beim Kinderheim. Und am Grab
meiner Mutter. Ich bin gelaufen und gelaufen – so wie die kleine Maria
durch diese Stadt gelaufen ist, um ihre Mutter zu suchen. Einen Teil davon
konnte ich auf den Felsen zurücklassen.
taz: Erst seit Kurzem sprechen Grönländer*innen über das von Dänemark
in der Kolonial- und Postkolonialzeit begangene Unrecht: Wie den
Spiralenskandal, bei dem bis in die 1970er rund 4.000 Mädchen und Frauen
ohne Aufklärung Kupferspiralen eingesetzt wurden. Oder die
Zwangsadoptionen. Oder die rechtlich vaterlosen Kinder von dänischen
Arbeitern. Auch die sozialen Folgen, der Missbrauch und die
Vernachlässigung von Kindern in grönländischen Familien sind Teil dieser
Geschichte.
Nûko Jørgensen: Man muss all das laut sagen und die Tabus brechen. Ich
könnte schüchtern bleiben, im Verborgenen. Aber es geht nicht nur um mich.
Deshalb schreibe ich dieses Buch. Ich glaube, das ist Teil meines Friedens.
Auch wenn immer die Traurigkeit bleibt von der kleinen Maria, die zu wenig
gehalten wurde.
taz: Hast du deine Schwester wiedergefunden?
Nûko Jørgensen: Ja, aber wir haben nicht wirklich Kontakt und an ihrer
Herkunft hat sie kein Interesse.
taz: In diesem Sommer bist du dann noch nach Ostgrönland gereist.
Nûko Jørgensen: Da waren die Menschen, die meine Mutter noch gekannt hatten
und denen ich etwas bedeutete. Grönländische Familie. Erst da habe ich
verstanden, dass es noch dieses andere, das schöne und gesunde Grönland
gibt. Mit Liebe und Geborgenheit in den Familien, mit Humor. Das ist sehr
wichtig für mich und auch für die Erzählungen über Grönland.
taz: Kannst du heute wieder Grönländerin sein?
Nûko Jørgensen: Es bleibt schwierig. Ich spreche die Sprache meiner Familie
nicht und damit meine ich nicht nur die gesprochene Sprache. Ich verstehe
die Codes nicht, fühle mich unsicher. Deswegen habe ich auch im Roten Haus
übernachtet, wo wir uns getroffen haben, zwischen lauter Europäern. Mein
Bindeglied ist meine Cousine, die beide Welten kennt. Nächstes Jahr wollen
wir zusammen mit dem Zelt auf den früheren Jagdplatz der Familie, fischen
und Beeren pflücken.
taz: Das klingt toll.
Nûko Jørgensen: Fische aus der Natur holen und über den Felsen im
Meerwasser kochen, im Feuer des Heidekrauts – ich weiß zwar nicht genau,
was das Grönländische in mir ist, aber ich weiß, dass das zu meinen
schönsten Erinnerungen gehört.
23 Nov 2025
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