# taz.de -- Milchbars in Polen: Die unverwüstliche Kantine
       
       > Sie bietet deftige Suppen und Piroggen, ist konkurrenzlos günstig und
       > gerade bei jungen Leuten beliebt. Über die Milchbar in polnischen
       > Innenstädten.
       
 (IMG) Bild: Chłodnik ist ein Milchbar-Klassiker
       
       Warschau taz | Zosia steht direkt am Eingang der Milchbar Ząbkowski. Die
       junge Frau mit dem blauen Hemdkleid, der weißen Spitzenschürze und der
       schief sitzenden Köchinnenhaube genießt in Warschau Kultstatus, genau wie
       auch die Milchbar im einstigen Arbeiterviertel Praga. Was Zosia dort
       eigentlich macht, ist schwer zu sagen: Will sie die am Tisch befestigten
       Suppenteller aus Aluminium abschrauben oder die Gabeln an den langen
       Metallketten austauschen? Fragen kann man Zosia nicht, denn sie ist eine
       lebensgroße Puppe.
       
       Vor ihr und dem viereckigen Tisch stehen zwei Kinder in metallisch-roten
       Daunenjacken. „Daddy?“, fragt der etwa Zehnjährige seinen Vater auf
       Englisch: „Sind wir in einem Gefängnis?“ Die Mutter wischt sich die
       Lachtränen aus den Augenwinkeln und antwortet auf Polnisch: „Nein, Adam.
       Als ich so alt war wie du heute, haben wir in [1][Polen] in solchen Bars
       gegessen. Das war damals ganz normal.“ Seine etwas jüngere Schwester Ewa
       zieht an den Metallketten und sagt auf Polnisch: „Gut, dass wir in Chicago
       wohnen und nicht hier.“
       
       An der Kasse bestellt das amerikanisch-polnische Ehepaar ein klassisches
       Milchbar-Menü: zweimal die kräftige Rote-Bete-Suppe barszcz, zweimal
       Hühnerbouillon mit Nudeln und Gemüse, dann pierogi, Teigtaschen, gefüllt
       mit Sauerkraut und Pilzen, knusprige Kartoffelpuffer mit einem Schlag
       saurer Sahne, eine mit Fleisch gefüllte Kohlroulade und einen Teller
       Schlesische Klöße mit Butter und gerösteten Zwiebeln. Dazu gibt es für alle
       ein Glas mit kompot, Saft aus zuvor gekochten Sauerkirschen, die vereinzelt
       auch noch in der dunkelroten Flüssigkeit schwimmen. Der Vater zahlt mit
       Kreditkarte: 88,10 Zloty. Knapp 5 Euro pro Person. Das ist auch für
       Warschauer Verhältnisse unschlagbar günstig.
       
       Gestaltet ist das Ząbkowski wie eine Kantine oder eben Milchbar aus der
       Zeit des Realsozialismus von 1945 bis 1989. Tische und Stühle sind aus
       Metall und wirken unverwüstlich. An der Decke hängen billige
       Energiesparlampen, wie man sie in Polen in jedem Supermarkt kaufen kann.
       Die riesigen Topfpflanzen an den Fenstern sind wie aus der Zeit gefallen.
       Ein Zugeständnis an den Zeitgeist sind große grüne Wandflächen mit
       Kreidezeichnungen, sie zeigen eine Straßenszene mit Musikern aus Praga und
       einen Felsen mit Bären aus dem nahen Warschauer Zoo.
       
       In der Milchbar sitzen auch viele junge Leute – Studierende und Schüler und
       Schülerinnen des nahen König-Wladyslaw-IV.-Gymnasiums. Die beiden
       Wirtschaftsstudentinnen Elwira und Anna genießen ihre hauchdünnen
       Pfannkuchen, einmal gefüllt mit würzigem Spinat, einmal mit einer heißen
       Apfel-Rosinen-Mischung. Aber sie machen schon Pläne für morgen. „Da wollen
       wir ins Rusalka. Das ist auch hier in Praga“, erzählt Elwira. „Ja“, sagt
       Anna, „dort gibt es ganz hervorragenden Fisch“.
       
       Sie lacht. „Wir wechseln ziemlich oft die Milchbars. Inzwischen gibt es
       sogar ein Ranking der besten Milchbars Warschaus. Genauso wie für die
       Restaurants, aber die sind für uns zu teuer.“ Elwira nickt. „McDonalds ist
       auch zu teuer oder die Kebab-Buden hier überall.“ Doch nicht nur die Preise
       locken junge Leute, sondern auch das Retroflair – die Einrichtung in
       Kombination mit der einfachen Hausmannskost, dem „Essen wie bei Oma“.
       
       Das [2][Warschauer Milchbar-Ranking] des angesagten Restaurantkritikers
       Maciej Nowak gibt es seit Mai dieses Jahres. Neben seinem praktischen
       Nutzen enthält es auch Zitate aus der kommunistischen Hauptstadtpresse der
       1960er Jahre, die mit der Neueröffnung einer weiteren „Milchbar für die
       Arbeiter-Massen“ die „Befreiung der Hausfrau vom lästigen Kartoffelschälen“
       feierten.
       
       Dabei waren die vom Staat bezuschussten und lange Zeit rein vegetarischen
       Jedermannsküchen keine Erfindung der polnischen Kommunisten. Bereits 1896
       hatte der Bauer Stanisław Dłużewski die erste Milchbar mitten in Warschau
       eröffnet. Dłużewski wollte seine Produkte – vor allem Eier, Mehl, Milch,
       süße und saure Sahne sowie Kefir – nicht nur auf dem Großmarkt verkaufen,
       sondern den Warschauern direkt kredenzen. Seine Idee verbreitete sich
       schnell in ganz Polen, schon bald gehörte es zum guten Ton, sich zum
       zweiten Frühstück auf einen Kefir in einer angesagten bar mleczny zu
       treffen.
       
       Dass viele der Milchbars nach der politischen Wende 1989 Konkurs anmelden
       mussten, verwundert kaum. Nun standen auf einmal westliches Fastfood, Sushi
       und Prosecco auf der Speisekarte. Doch es dauerte nicht lange, da suchten
       die Warschauer erneut nach dem Geschmack und den Preisen der gerade
       vergangenen Epoche. Der Staat begann, die Milchbars wieder zu sponsern,
       innerhalb weniger Jahre erlebten sie ein Comeback – auch wenn es heute nur
       noch einen Bruchteil der einst in die Zehntausende gehenden Restaurants
       gibt.
       
       Dafür, so schreibt Nowak in seinem Ranking, sind sie verschiedener denn je:
       moderne wie sozialistisch-nostalgische, vegetarische, vegane und solche mit
       „Schweineschnitzel, geschmortem Kohl und gestampften Kartoffeln“. Anders
       als früher werden sie heute statistisch nicht mehr erfasst. Sie laufen
       unter der Großkategorie „Gastronomie“, können ganz offiziell bar mleczny
       heißen, aber auch Mensa, Gemeindeküche, Museumsbistro, Café, Ausschank oder
       Dorfkneipe. Gemein haben die meisten von ihnen aber die günstigen Preise,
       die eher spartanische Einrichtung und den Kantinencharakter, bei dem man
       sich seine Piroggen, seine Suppe oder seinen Kuchen auf Tabletts an einer
       Essensausgabe abholt.
       
       In der Bar Ząbkowski bekommt die polnisch-amerikanische Familie noch Besuch
       an ihrem Tisch. Piotr Jaworski, ein Stammgast, schlurft zu ihnen hinüber.
       „Guten Tag“, stellt er sich ein bisschen steif vor: „Wissen Sie, ich bin
       schon über 80 Jahre alt. Und wir haben nie aus Aluminiumschüsseln gegessen,
       die am Tisch angeschraubt waren.“ Er deutet auf die Szene an der
       Eingangstür. Die festgeschraubten Schüsseln seien eine Anspielung auf den
       Film „Miś“, eine Satire auf die Volksrepublik Polen vom Anfang der 80er
       Jahre. „Ein Film, über den wir alle lachen konnten“, erzählt er.
       
       Die junge Frau steht auf und verneigt sich vor ihm. „Ja, ich weiß, das
       hätte ich meinem Mann und den Kindern auch noch erklärt. Aber alles auf
       einmal wäre ein bisschen zu viel gewesen.“ Der alte Mann nickt, wünscht
       noch ein „Kommen Sie gut nach Hause!“, tritt vor die Tür des Ząbkowski und
       atmet tief durch. Hier ist sein Zuhause, das alte Arbeiterviertel
       Warszawa-Praga.
       
       27 Nov 2025
       
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