# taz.de -- Sammelband über den Krieg in der Ukraine: Mehr als eine Generation ist verloren
       
       > Der Sammelband „Geteilter Horizont“ leistet eine erschütternde
       > Bestandsaufnahme dessen, was der Krieg in der Ukraine – auch geopolitisch
       > – anrichtet.
       
 (IMG) Bild: Versehrte Normalität: Der Kriegsveteran Mykhailo Varvarych und seine Frau bei den Invictus Games in Vancouver
       
       Da ist der Soldat, der Fronturlaub im Hinterland macht und der nicht
       begreifen kann, wie sich die Menschen dort einfach ihres Lebens freuen
       können im Angesicht dieses Kriegs. Er verspürt Verachtung für sie. Da ist
       ein anderer Soldat, ebenfalls im Fronturlaub, der plötzlich zu weinen
       beginnt, während er Sex mit seiner Ex-Partnerin hat, weil Erinnerungen an
       ein anderes Leben hochkochen, weil Paranoia ihn plagt. Und da ist das
       ukrainische Paar, das sich zunächst im Ausland befindet und trotz des
       Krieges zurückkehrt in [1][die Ukraine], auf die Gefahr hin, dass der Mann
       eingezogen wird. Die beiden finden es moralisch verwerflich, außer Landes
       zu sein in diesen Zeiten.
       
       Dies sind einige Episoden aus Jurko Prochaskos Text „Die lebendigen
       Seelen“, enthalten im Sammelband „Geteilter Horizont. Die Zukunft der
       Ukraine“. Die Berichte stammen aus Therapiesitzungen, die der ukrainische
       Schriftsteller und [2][Psychoanalytiker Prochasko] mit seinen
       Analysand:innen abgehalten hat. Sie zeigen eindrücklich, dass nicht nur
       seine Klient:innen eines Tages einen langen Weg zurück in ein „normales“
       Leben vor sich haben werden, sondern die gesamte ukrainische Gesellschaft.
       Der in Lwiw lebende Analytiker konstatiert, „dass dieser Krieg ein totaler
       ist. (…) Er ist total, denn es gibt keinen Ort mehr in der Seele, wo er
       nicht wäre. Auch im Schlaf. Es gibt keinen Zoll und keinen Winkel in der
       Psyche, die intakt geblieben wären, unberührt von der schrecklichen
       Allgegenwart dieses Krieges.“
       
       Den Sammelband hat Katharina Raabe, bei Suhrkamp zuständig für
       osteuropäische Themen und Autor:innen, gemeinsam mit der ukrainischen
       Übersetzerin und Verlegerin Kateryna Mishchenko herausgegeben, er ist der
       Folgeband der 2023 erschienenen Textsammlung „Aus dem Nebel des Krieges.
       Die Gegenwart der Ukraine“. Und wenn die Herausgeberinnen sich gegen Ende
       selbst fragen, ob sich über die Ukraine nach mehr als dreieinhalb
       Kriegsjahren „überhaupt etwas Neues sagen lässt“ und wer dies hören wolle,
       will man zurückgeben, dass ihnen mit diesem Band ein bedeutendes Dokument
       und Update zum russisch-ukrainischen Krieg und dessen Einfluss auf die
       Geopolitik gelungen ist. Und dass er hoffentlich viele Leser:innen
       erreicht.
       
       Denn so viele verschiedene Perspektiven auf diesen Krieg wie hier findet
       man selten gebündelt. Die Schweizer Diplomatin und ehemalige
       Ukraine-Beauftragte Heidi Tagliavini, die Minsk I und II mitverhandelt hat,
       erörtert minutiös die aktuelle Situation aus diplomatischer Sicht. Die
       ukrainische Wissenschaftlerin Darja Zymbaljuk, tätig im Forschungsbereich
       der Environmental Humanities, zeigt auf, welche Lebewesen und Arten durch
       den Krieg ausgelöscht zu werden drohen.
       
       Der ukrainische Schriftsteller Stanislaw Assejew, der selbst in russischer
       Folterhaft saß, macht sich Gedanken über den Wert des Wortes, des
       Diskurses, der Human- und Geisteswissenschaften nach der Zeitenwende – und
       sieht die Idee der Aufklärung an einem historischen Tiefpunkt. „Dieses
       Ereignis – die Großinvasion Russlands in die Ukraine – setzte dem modernen
       Paradigma der kommunikativen Vernunft ein Ende“, schreibt er. „Plötzlich
       stellte sich heraus, dass vor den Augen des respektablen Publikums eine
       Steinzeitkeule auf den Tisch mit den Habermas-Exzerpten gedonnert war.“
       
       Auch die belarussische Perspektive (Ingo Petz), der Epochenbruch in den USA
       (Marci Shore) und das Leben unter Besatzung in Cherson sowie die äußerst
       mutigen Proteste gegen die Besatzer dort (Yulia Danylevska) werden
       beleuchtet. Am virulentesten ist vielleicht der Beitrag des
       Dokumentarfilmers und Autors Yuriy Hrytsyna, der über den [3][Drohnenkrieg]
       schreibt. „Wann wird die erste komplett autonome Drohne entwickelt werden,
       deren Einsatz auf den Menschen verzichten kann?“, fragt er sich. Er zeigt
       eine real gewordene Dystopie auf, die immer noch steigerbar ist.
       
       Oft schildern die Autor:innen die Begebenheiten sehr plastisch, so
       erwähnt Nataliya Tchermalykh in ihrem Essay „Kriegskinder“ die Besatzung
       des Ortes Jahidne, wo alle Bewohner des Dorfes von den russischen Invasoren
       27 Tage lang in den viel zu kleinen Keller einer Schule gesperrt wurden.
       Nach der Befreiung gingen Fotos um die Welt, die die Inschriften und Bilder
       an den Wänden des Kellergefängnisses zeigen. „In diesen Inschriften an den
       dunklen Kellerwänden werden die Konturen des bloßen menschlichen Daseins
       und seiner symbolischen Bedürfnisse erkennbar: das Messen der Zeit, die
       Namen der Toten – und, ganz unerwartet, die Fülle an Bildern, die von
       Kindern gemalt wurden“, schreibt Tchermalykh.
       
       „Die Zukunft der Ukraine“ lautet der Untertitel dieses Buchs, es könnte
       auch „Die Zukunft Europas“ oder „der Welt“ lauten. Es wird deutlich, wie
       verheerend der Krieg innerhalb der Ukraine ist, wie er verseuchtes und
       vermintes Land, Bildungslücken, Traumata, gesellschaftliche Konflikte und
       (mindestens) eine verlorene Generation hinterlassen wird. Aber es wird auch
       klar, was der Krieg geopolitisch angerichtet hat, wie tot die Vernunft auf
       internationalem politischen Parkett ist, wie wenig rationale Diskurse und
       Wahrheit aktuell zählen. Dieses Buch leistet also eine tiefe, aber nicht
       sonderlich erbauliche Bestandsaufnahme; insofern weiß man es zu schätzen,
       dass gegen Ende immerhin Friedrich Dürrenmatt als Hoffnungsmacher
       herbeizitiert wird. „Man darf nie aufhören, sich die Welt vorzustellen, wie
       sie am vernünftigsten wäre“, hat der einmal gesagt.
       
       8 Nov 2025
       
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