# taz.de -- Tödlicher AKW-Unfall vor 50 Jahren: Nach allen Regeln der Kunst verharmlost
       
       > Am 19. November 1975 starben zwei Arbeiter bei einem Unfall im AKW
       > Gundremmingen. Staatliche Stellen sorgten dafür, dass eine lückenlose
       > Aufklärung ausblieb.
       
 (IMG) Bild: Baumaßnahme mit Symbolwert: Am 25.10.2025 wurden die Kühltürme des AKW Gundremmingen gesprengt
       
       Es dauerte nur Sekunden, bis die weithin sichtbaren Kühltürme des
       Atomkraftwerks Gundremmingen Ende Oktober [1][in sich zusammengesunken
       waren]. Das Bild der schwankenden Riesen wird ins kollektive Gedächtnis
       eingehen – als (falsches) Sinnbild für das Ende des Atomkraftwerkstandortes
       Gundremmingen. Ein anderes Ereignis – vor genau 50 Jahren – hat das nicht
       geschafft, ja nicht einmal in den Annalen der Anti-AKW-Bewegung den ihm
       gebührenden Platz gefunden.
       
       Am 19. November 1975 starben bei einem Unfall im Block A des heute drei
       Blöcke umfassenden bayerisch-schwäbischen Atommeilers zwei Arbeiter. Noch
       einen Monat zuvor hatte der in den USA veröffentlichte sogenannte
       Rasmussen-Report zur Reaktorsicherheit das Risiko, durch einen
       Reaktorunfall umzukommen, mit 1 zu 5 Milliarden angegeben – nun gab es die
       ersten Toten in einem deutschen AKW.
       
       Das Unglück kam für die politisch Verantwortlichen zur absoluten Unzeit:
       Die Einstellung in der Bevölkerung gegenüber der Atomenergie stand Anfang
       der 70er-Jahre am Scheideweg. Gegen immer mehr im Bau befindliche oder noch
       geplante AKW regte sich Widerstand. Im badischen Wyhl war im Frühjahr 1975
       das Baugelände des geplanten Meilers [2][von Gegnern besetzt] worden. Die
       Bundesregierung und insbesondere die Bayerische Staatsregierung und die CSU
       fürchteten ein Erstarken dieser neuen Umweltbewegung – und so wurden der
       Gundremminger Unfall und seine Implikationen nach allen Regeln der Kunst
       heruntergespielt, verharmlost und vertuscht. War es denn überhaupt ein
       Atomunfall?
       
       Am Tag des Unfalls wurde das seit 1967 laufende Atomkraftwerk bei Günzburg
       wegen mehrerer notwendiger Reparaturen abgeschaltet. Auch eine schon länger
       schadhafte Dichtung an einem Absperrschieber – einer Art Ventil – sollte an
       diesem Tag repariert werden. Es war entschieden worden, dass trotz der
       Abschaltung des Reaktors die Reaktorwasserreinigungsanlage, die radioaktive
       Stoffe aus der Flüssigkeit filtert, in Betrieb bleiben sollte. Die Leitung
       mit 280 Grad heißem, radioaktivem Wasser, in der sich der Schieber befand,
       stand vorschriftswidrig noch unter hohem Druck.
       
       Als der 35-jährige Schlossermeister Otto Huber und sein 46-jähriger Kollege
       Josef Ziegelmüller um 10.42 Uhr die Halterung der sogenannten
       Stopfbuchsdichtung lösten, schoss mit einem Druck von 65 bar
       explosionsartig ein radioaktives Wasser-Dampf-Gemisch aus der Leitung.
       
       Otto Huber starb unmittelbar am Unfallort, einer engen Grube, an der
       Verbrühung. Josef Ziegelmüller konnte sich zunächst mit Hilfe des
       Strahlenschutzmannes Manfred Otto aus dem Armaturenraum retten und wurde
       von Otto, der sich dabei selbst verbrüht hatte, aus dem Gebäude gebracht.
       Ziegelmüller wurde mit dem Krankenwagen zur ärztlichen Erstversorgung ins
       nahe Krankenhaus Lauingen gefahren. Anschließend wurde er mit dem
       Hubschrauber in eine Spezialklinik für Brandverletzte nach Ludwigshafen
       geflogen. Dort erlag er in den frühen Morgenstunden des folgenden Tages
       seinen Verletzungen.
       
       ## Radioaktivität soll keine Rolle gespielt haben
       
       In der verspäteten Information an die Öffentlichkeit legten die Betreiber
       des Atomkraftwerks, RWE und Bayernwerk, ebenso wie die Aufsichtsbehörde –
       das bayerische Umweltministerium – Wert auf die Feststellung, dass
       Radioaktivität bei dem Unfall keine Rolle gespielt habe. Der technische
       Leiter des AKW Gundremmingen, Reinhardt Ettemeyer, sprach von einem „ganz
       konventionellen Unfall“. Und der damalige Umweltminister Max Streibl (CSU)
       berichtete noch zwei Jahre später dem Landtag: „Die Radioaktivität hatte
       keinen Anteil an der Todesursache.“ Das Wasserdampf-Wasser-Gemisch sei nur
       schwach radioaktiv gewesen.
       
       Tatsächlich herrschte schon vor Beginn der Arbeiten im Armaturenraum eine
       hohe Strahlenbelastung von 300 bis 500, an der Rohrleitung selbst 1.000
       Millirem pro Stunde. Zulässig waren damals 5.000 Millirem im ganzen Jahr.
       Es gab wegen der hohen Strahlung also enormen Zeitdruck. Mutmaßlich auch
       aus diesem Grund waren für die Arbeiten zwei besonders erfahrene Schlosser
       eingeteilt.
       
       Zu der schon früh abgegebenen Erklärung, die Todesfälle hätten nichts mit
       Radioaktivität zu tun, passt nicht recht, dass bei der Bergung der
       Unfallopfer schwerer Atemschutz eingesetzt wurde. Sowohl bei der Versorgung
       des Verletzten als auch beim Transport des Toten wurden
       Strahlenschutzmaßnahmen ergriffen. Das für Unfälle im Gundremminger Meiler
       zuständige Krankenhaus Lauingen war dafür nur unzureichend ausgerüstet.
       
       Ganz anders als bei einem konventionellen Betriebsunfall transportierte man
       die Leichen zur Obduktion nach München in die Strahlenschutzabteilung des
       Schwabinger Krankenhauses. Den beiden Männern wurden Hautteile, mehrere
       Organteile und ganze Organe entnommen. Diese wurden zur Gesellschaft für
       Strahlenforschung (GSF) in Neuherberg zur radiologischen Untersuchung
       geschickt.
       
       Die Untersuchungsergebnisse blieben – Teil der Geheimniskrämerei, die sich
       nun immer mehr entspann – lange Zeit unter Verschluss. In einem als
       „Vertraulich“ gestempelten Schreiben der GSF ging der Bericht an die
       bayerischen Behörden. In dem Schreiben, das der taz vorliegt, bittet die
       GSF im Mai 1976 „um Nachricht, ob die Proben beseitigt werden können oder
       zu Ihrer Verfügung weiterhin aufgehoben werden sollen“.
       
       Die Leichen wurden nach der Obduktion in Zinksärge eingelötet. Eine
       sorgfältige Dekontamination der Leichen wäre aufgrund der Hautverbrennungen
       mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden gewesen, weshalb die genaue Höhe
       ihrer „Verstrahlung“ offensichtlich niemals festgestellt wurde. Dazu passt,
       dass die Angehörigen die Toten nach dem Unfall nicht mehr zu Gesicht
       bekamen.
       
       Die Trauerfeier für Otto Huber und Josef Ziegelmüller fand am 25. November
       1975 in Lauingen statt, unter großer öffentlicher Anteilnahme und in
       Anwesenheit von Beamten des Bayerischen Umweltministeriums. Nach den
       Gräbern der beiden Männer sucht man heute allerdings vergebens. Die
       Grabsteine sind entfernt und man ist offenbar auch jetzt noch bemüht,
       buchstäblich Gras über die Sache wachsen zu lassen.
       
       ## Verschwundene Proben
       
       Wirbel gab es 2009 nach einem Bericht der Zeitschrift Stern über den
       Verbleib der entnommenen sog. „Gewebeproben“ – es handelt sich um Haut von
       verschiedenen Stellen des Körpers, mehrere Lungenteile und ein Schädelteil
       des zuerst Verstorbenen, Ähnliches vom zweiten Opfer, dazu aber auch noch
       die Schilddrüse, die Nieren, Teile der Milz und des Dünndarms sowie ein
       Stück der Wirbelsäule. Bis zum Mai 1976 lagen die Leichenteile noch bei der
       GSF. Laut einem Sprecher des Helmholtz-Zentrums – wie die GSF heute heißt
       –, wurden die Leichenteile allerdings als „klinischer Abfall“ ins
       Kernforschungszentrum Karlsruhe verbracht und dort offenbar verbrannt. Die
       Asche der Leichenteile landete in der Asse, dem maroden ehemaligen
       Salzbergwerk in Niedersachsen, das als „Versuchsendlager“ deklariert und
       früher von der GSF betrieben wurde. Wo genau zwischen den dort vor sich hin
       rottenden 126.000 Fässern, kann wegen unzureichender Dokumentation niemand
       mehr sagen.
       
       Noch in den 70er-Jahren hatte der Unfall mit den zwei Toten und einem
       Verletzten auch ein gerichtliches Nachspiel. In letzter Instanz hat die
       Große Strafkammer des Landgerichts Augsburg die vorher erfolgten
       Verurteilungen allerdings aufgehoben und fünf Mitarbeiter des
       Atomkraftwerks Gundremmingen mit einer bemerkenswerten Begründung
       freigesprochen: Das Gericht müsse, wenn sich die Unfallursache nicht
       einwandfrei klären lasse, die für die Angeklagten günstigste Variante für
       das Urteil wählen. Damit wurde den beiden Getöteten die alleinige Schuld an
       ihrem Tod zugeschoben – sie hätten mit großer Wahrscheinlichkeit den
       Schieber mit einem Handrad eigenmächtig geöffnet.
       
       Der 13. Januar 1977 besiegelte dann nach nur 11 Jahren Laufzeit
       überraschend das Schicksal des Gundremminger Reaktors. Zwei
       witterungsbedingte Kurzschlüsse in Hochspannungsleitungen führten zur
       Abtrennung des AKW vom Netz und zogen eine Überflutung des Reaktorgebäudes
       mit radioaktivem Kühlwasser nach sich. Die Reparaturen und notwendigen
       Nachrüstungen hätten geschätzte 250 Millionen DM gekostet.
       
       Drei Jahre nach diesem Totalschaden beschlossen RWE und Bayernwerk die
       endgültige Stilllegung von Block A. Stattdessen trieben sie den Bau der
       neuen Blöcke B und C voran, die mittlerweile – 2017 und 2021 – auch
       stillgelegt sind.
       
       Ist damit der Atomstandort Gundremmingen Geschichte? Oder wie es der
       Gundremminger Bürgermeister Tobias Bühler (CSU) am Tag der Sprengung der
       Kühltürme ausdrückte: „Es geht ein Stück Heimat verloren!“ Das
       Gemeindeoberhaupt kann sein Heimatgefühl nach dem Verschwinden der nicht
       radioaktiven Kühltürme immerhin noch bis mindestens in die 2030er-Jahre
       hinein an den strahlenden Reaktorgebäuden des AKW wärmen – und danach an
       Deutschlands größtem Zwischenlager für bis zu 192 Castoren.
       
       Auch das 1970 ins Gemeindewappen aufgenommene Atomsymbol kann Gundremmingen
       also mit Recht behalten – und wahrscheinlich auch eine der größten
       Anti-AKW-Bürgerinitiativen Deutschlands mit dem langen Namen „FORUM
       Gemeinsam gegen das Zwischenlager und für eine verantwortbare
       Energiepolitik e. V.“.
       
       18 Nov 2025
       
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