# taz.de -- Bürgermeister über sein Ehrenamt: „Die Bürokratie nervt“
       
       > So lässt sich Jürgen Tiedemann halt nerven, geht ja nicht anders, wenn
       > man was gestalten will. Und das will Tiedemann – als Bürgermeister von
       > Lägerdorf.
       
 (IMG) Bild: Manchmal, sagt er, denkt er schon: „Lasst mich in Ruhe. Ich geh.“ Aber gegangen ist Jürgen Tiedemann trotzdem nicht
       
       taz: Herr Tiedemann, Sie sind seit 2018 Bürgermeister von Lägerdorf. Wann
       wollten Sie den Job das letzte Mal hinschmeißen? 
       
       Jürgen Tiedemann: Oh, das ist eine schwierige Frage! Schon das eine oder
       andere Mal. Es gibt so Momente, da fragt man sich: Warum tust du dir das
       an? Ich mache das schließlich ehrenamtlich, es ist meine Freizeit. Wenn
       dann eine Herausforderung, so heißt das heute ja, nach der anderen kommt,
       denkt man manchmal: lasst mich in Ruhe, ich gehe.
       
       taz: Und wie schaffen Sie es, doch dazubleiben und weiterzumachen? 
       
       Tiedemann: Weil es natürlich auch immer wieder sehr positive Momente gibt,
       in denen etwas klappt und wir Dinge voranbringen. Man hat schließlich eine
       Verpflichtung gegenüber seiner Kommune und vor allem der Bevölkerung. Und
       ich bin so ein Typ, der immer etwas machen und entwickeln will.
       
       taz: Lägerdorf ist 725 Jahre alt, war die meiste Zeit ein Bauerndorf, ist
       aber seit 1860 ein Industriestandort. Heute leben hier 2.740
       Einwohner:innen aus fast 40 Nationen. Ist Lägerdorf eigentlich Stadt
       oder Land? 
       
       Tiedemann: Der Ort bietet sehr vieles – Ärzte, Apotheke, Läden,
       Restaurants, Tankstelle, soziale Infrastruktur von Kita über Schule bis
       Seniorenheim. Menschen aus den Nachbargemeinden kommen zum Einkaufen her.
       Trotzdem sind wir keine Stadt. Aber auch kein klassisches Dorf. Ich würde
       sagen, wir haben einen eigenen Status. Eine Dorfstadt vielleicht.
       
       taz: Die besondere Geschichte von Lägerdorf hängt mit der Kreide zusammen,
       die hier im Boden steckt. Entdeckt wurde sie 1740, im 19. Jahrhundert
       begann der Abbau im großen Stil. Heute steht hier eine Zementfabrik des
       Unternehmens Holcim, direkt am Ortsrand klaffen gewaltige Gruben. Was macht
       das mit einem Ort? 
       
       Tiedemann: Die Industrie war ein Segen – aber auch eine Belastung, früher
       noch mehr als heute. Lägerdorf wurde der „graue Ort“ genannt, weil der
       Kreidestaub sich auf alles legte.
       
       taz: Haben Sie das noch erlebt? 
       
       Tiedemann: Ja, ich bin Jahrgang 1952, und ich kann mich noch an die alte
       Kreidekuhle erinnern, die Englische Grube, das war später eine Müllhalde,
       die mit allem möglichen Abfall gefüllt wurde. Mein Onkel hat in der
       Zementfabrik gearbeitet, und wenn er am Wochenende Dienst hatte, brachten
       wir Kinder ihm das Mittagessen ins Werk. Und ich erinnere mich an die
       Äpfel, die wir vom Baum klauten – die waren grau von Zement und
       hinterließen einen Belag auf den Zähnen.
       
       taz: In nächster Zeit fällt eine Entscheidung, die das Schicksal des Ortes
       für vermutlich weitere 100 Jahre bestimmt: Holcim will auf dem Gelände
       „Moorstücken“, heute eine Wald- und Wiesenfläche, eine weitere Grube
       anlegen. Sie und Ihre Gemeindevertretung müssen so einem Projekt zustimmen
       oder eben nicht. Wie schlecht schläft man vor so einer Entscheidung? 
       
       Tiedemann: Bei der grundsätzlichen Frage haben wir als Gemeinde keinen
       großen Einfluss mehr. Das Gelände steht als Kreideabbaugebiet im
       Regionalplan des Landes, daher hat der Antrag von Holcim Vorrang. Über die
       Details müssen wir mit Holcim eine vernünftige Einigung finden, die beiden
       Seiten zugute kommt. Wir leben seit 160 Jahren mit der Kreide, ich stehe
       dem weiteren Abbau nicht negativ gegenüber. Aber ich sehe es sehr kritisch,
       dass Dinge über unseren Kopf hinweg entschieden werden. Nur ein Beispiel:
       Wir hatten mit Holcim vereinbart, dass das Unternehmen uns beim Tausch oder
       Kauf von Flächen für Gewerbe oder Wohnraum entgegenkommt. Im Regionalplan
       fehlte dieser Punkt, und wir mussten ihn wieder reinverhandeln. Denn es ist
       entscheidend für uns: An einem Rand des Ortes liegen die alten Gruben, auf
       der anderen Seite soll die neue Grube entstehen, auf der dritten Seite ist
       Wald. Aber wir brauchen Platz für unsere Entwicklung.
       
       taz: Lägerdorf fehlt es an Wohnraum? 
       
       Tiedemann: Wohnraum und Gewerbeflächen. Wir haben unser letztes
       Wohnbaugebiet im Jahre 1998 ausgewiesen, und das ist für eine
       Ortsentwicklung absolut negativ. Ohne junge Leute wird es schwierig, auch
       für die soziale Infrastruktur, was Feuerwehr, Vereine und so weiter angeht.
       Eine weitere Herausforderung stellt der hohe Altbaubestand dar, frühere
       Werkswohnungen, die mit 40 bis 50 Quadratmetern für heutige Bedürfnisse zu
       klein sind und dadurch zu einer starken Fluktuation der Mieter führen.
       Zurzeit versuchen wir, die wenigen im Innenbereich zur Verfügung stehenden
       Flächen wohnwirtschaftlich sowie gewerblich zu entwickeln.
       
       taz: Wozu weiteres Gewerbe, bringt Holcim nicht ausreichend Arbeit? 
       
       Tiedemann: Früher lebten die meisten der über 1.000 Beschäftigten in
       Lägerdorf, heute sind es rund 320. Und wenn heute Spezialisten wie
       Ingenieure et cetera eingestellt werden, pendeln die meistens aus Hamburg
       oder der weiteren Umgebung. Ein Grund dafür ist auch der fehlende
       qualifizierte Wohnraum.
       
       taz: Ist die Fabrik eher Teil der Gemeinde oder ein Fremdkörper? 
       
       Tiedemann: Früher hieß es immer „meine Fabrik“, ein ganzes Dorf hat quasi
       von und mit der Fabrik gelebt. Aber davon sind wir heute weit entfernt. Ich
       mache den Verantwortlichen vor Ort keinen Vorwurf, die unterstützen uns
       schon im Bereich ihrer Möglichkeiten. Wenn zum Beispiel im Freibad etwas
       repariert werden muss, springt Holcims Lehrwerkstatt ein. Aber die großen
       Entscheidungen werden woanders getroffen. Holcim ist nun mal ein Schweizer
       Konzern, der Geld verdienen will – das ist unsere globale Wirtschaft.
       
       taz: Man sollte denken, dass so eine Fabrik Millionen in die Gemeindekasse
       spülen würde. Der geplante Haushalt für 2024 schloss allerdings mit einem
       Minus 1,9 Millionen ab. Wie kann das sein? 
       
       Tiedemann: Tatsächlich haben wir durch gutes Wirtschaften das Minus auf 1,2
       Millionen Euro gedrückt, aber die Summe bleibt beträchtlich. Wir kriegen
       von Holcim zurzeit so gut wie keine Gewerbesteuer, und wenn Geld fließt,
       dann geht ein Teil an die Nachbargemeinde, weil die Fabrik auch dort
       Flächen besitzt. Zuletzt mussten wir sogar einen Großteil der bereits
       erhaltenen Gewerbesteuern zurückzahlen, weil sich die wirtschaftliche
       Situation verändert und das Unternehmen Investitionen in die Zukunft
       getätigt hat. Zurzeit plant Holcim einen neuen Ofen, der dazu führen soll,
       dass in Lägerdorf das weltweit erste CO2-freie Zementwerk entstehen soll.
       Mal sehen, ob es so kommt! Das verursacht natürlich immense Kosten. Das
       Unternehmen kann – auch dank des Investitionsprogramms der Bundesregierung
       – hohe Abschreibungen geltend machen. Die Gemeinden haben wieder einmal das
       Nachsehen.
       
       taz: Sie sind, wie schon erwähnt, ehrenamtlich tätig. Ist das überhaupt
       leistbar, bei einem Themenspektrum von [1][Asiatischer Hornisse], die im
       Sommer in Lägerdorf entdeckt wurde, [2][bis Zement]? 
       
       Tiedemann: Ich glaube, zeitlich ist das ein Fulltimejob. Wir sind hier gut
       strukturiert – ich habe zwei Stellvertreter, die viele Aufgaben mit
       erledigen. Eigentlich bräuchten wir einen hauptamtlichen Bürgermeister,
       aber mit dem Haushaltsminus sind wir eh schon Fehlbedarfsgemeinde, und wie
       sollen wir einen hauptamtlichen Bürgermeister bezahlen? Man muss sich
       fragen, ob die derzeitige Struktur noch so passt.
       
       taz: War Ihnen vorher klar, was dieses Amt alles so mit sich bringt? 
       
       Tiedemann: Ja, ich war vorher schon in der Gemeindevertretung. Und mein
       Ziel war und ist es, unser Dorf nach vorne zu bringen. Die Folge daraus
       war, dass ich mit meinen Stellvertretern und der Gemeindevertretung diverse
       neue Projekte angepackt habe. Also selber schuld, kann man sagen. Aktuell
       ist der Plan, nur noch ein Projekt pro Jahr umzusetzen und erst einmal
       nichts Neues anzufassen. Aber dann kam das Konjunkturpaket des Bundes, da
       müssen wir natürlich gucken, dass davon hier etwas ankommt.
       
       taz: Sie sind CDU-Mitglied, treten aber für die Wählergemeinschaft
       „Gemeinsam für Lägerdorf“ an, die bei der jüngsten Kommunalwahl über 50
       Prozent bekam. Warum ziehen solche Bündnisse mehr als klassische Parteien? 
       
       Tiedemann: Wahrscheinlich findet sich der Bürger in den Parteien nicht
       wieder. Eine Wählergemeinschaft will vor Ort etwas bewegen und verfolgt
       damit andere Interessen und Ziele. Wir haben mehrere Parteien im
       Gemeinderat, aber wir hatten immer das Ziel, gemeinsam zu entscheiden, zu
       entwickeln und unser Dorf voranzubringen. Das kriegen wir zurzeit sehr
       vernünftig hin.
       
       taz: Die AfD ist nicht im Gemeinderat vertreten? 
       
       Tiedemann: Nee, die haben wir nicht im Ort. Bei der letzten Kommunalwahl
       war die AfD kein Thema. Aus heutiger Sicht kann ein Grund dafür sein, dass
       die Leute sehen, dass wir uns immer sofort kümmern, wenn etwas nicht läuft.
       Und wenn es sich nicht erledigen lässt, sagen wir das auch. Aber, das muss
       man auch sagen: Die Bürokratie nervt. Allein die Planung für das
       Dorfgemeinschaftshaus dauert schon vier Jahre. Endlich hatten wir eine
       Baugenehmigung, aber dann muss plötzlich ein Schallgutachten erstellt
       werden. Statt den Heizungsbauer vor Ort zu beauftragen, müssen wir die
       Arbeit aufwändig ausschreiben. Ich soll besser wirtschaften, aber wenn ich
       keine Kohle habe und solche Auflagen erfüllen muss, wie soll ich das
       machen?
       
       taz: In vielen Gemeinden treten Kommunalpolitiker:innen zurück oder
       es finden sich keine, teils aus Angst vor Anfeindungen, teils wegen der
       Anspruchshaltung vieler Leute, „die da oben“, und das meint eben auch schon
       Ehrenamtliche, sollten sich um alles kümmern. Wie läuft das in Lägerdorf? 
       
       Tiedemann: Wie gesagt, wir versuchen, alle Herausforderungen von uns aus zu
       lösen. Ein bisschen lustig ist, wenn Leute anrufen und sich beschweren,
       weil die Truppe vom Bauhof Äste sägt oder Laub wegpustet. Sprich, sie
       ärgern sich, weil die Gemeinde etwas tut. Da muss man sagen, dass das nun
       mal nicht anders geht. Insgesamt passen die Strukturen aber. Im Ort gibt es
       viele Vereine und mehrere sehr aktive Fördervereine, für das Freibad, das
       Museum, die Schule mit ihrem „Gesunden Frühstück“ oder Unterstützung des
       Fußballsports. Freiwillige organisieren Feiern oder schmieren Brote für das
       Schulfrühstück. Unser TSV, der Shanty-Chor, die Chorfreunde und der
       Musikzug der Freiwilligen Feuerwehr sind weit über die Ortsgrenzen bekannt.
       Es gibt Treffs für Neubürger und Senioren. Wir schaffen auch Integration,
       wir haben viele Migranten aufgenommen – mit viel ehrenamtlicher
       Unterstützung aus dem Ort, die bis heute anhält. Diese Angebote könnten wir
       als Gemeinde nicht stemmen. Dieses Gemeinsame macht mich stolz und froh.
       
       taz: Wie und warum sind Sie überhaupt in die Kommunalpolitik gegangen? 
       
       Tiedemann: „Mein größter Fehler“, sage ich immer, und es war ein bisschen
       kurios. Ich bin in Lägerdorf geboren – übrigens ganz buchstäblich, als
       Hausgeburt auf dem Küchentisch. Das war damals, Anfang der 1950er Jahre,
       gar nicht so ungewöhnlich. Es war ein harter Winter, kurz vor Weihnachten,
       meine Mutter waren die acht Kilometer zum Krankenhaus in Itzehoe zu weit.
       Jedenfalls war ich als Kind schon im TSV Lägerdorf, erst beim Turnen, dann
       beim Fußball, und wurde in jungen Jahren Vorsitzender des Vereins. Wir
       brauchten einen neuen Sportplatz, und die CDU sagte: Wir unterstützen dich,
       aber dafür musst du bei uns eintreten. Ich habe Ja gesagt. Wir bekamen den
       Sportplatz – und ich bin seither in der Gemeindepolitik und habe eine
       Aufgabe nach der anderen an die Ohren bekommen.
       
       taz: Was wollen Sie als Bürgermeister noch erreichen? 
       
       Tiedemann: Wir haben in den gemeindlichen Gremien ein
       Ortsentwicklungskonzept entwickelt, das umgesetzt werden muss – und das
       geht über meine Amtszeit hinaus. Konkret möchte ich ein kommunales
       Industriegebiet zusammen mit den Nachbargemeinden voranbringen. Ein
       weiterer ganz wichtiger Punkt ist die Entwicklung und Umsetzung der lange
       vernachlässigten Wohnbauentwicklung. Über einen Mangel an Aufgaben kann ich
       mich nicht beklagen! Wir wollen Grundlagen für die Zukunft schaffen.
       
       taz: Stichwort Zukunft: [3][Zement und Beton sind alles andere als
       umweltfreundliche Stoffe]. Der Abbau hinterlässt tiefe Gruben,
       Umweltgruppen warnen vor einer Versalzung der Flüsse. Vor allem braucht die
       Herstellung von Beton viel Energie. Macht Ihnen das keine Sorgen? 
       
       Tiedemann: Holcim hat in Aussicht gestellt, in Lägerdorf und Rethwisch eine
       der weltweit ersten klimaneutralen Zementfabriken zu bauen. Wenn wir vom
       Stand heute ausgehen und dieser Plan gelingt, ist das für uns positiv, dann
       hat die Fabrik Zukunft. Arbeitsplätze sind gesichert oder entstehen neu.
       Und vielleicht bekommen auch die Kommunen wieder etwas vom Kuchen – sprich
       Gewerbesteuer, ab. Ja, es gibt negative Seiten, aber wenn wir nur darauf
       schauen, kommen wir nicht voran. Wir können solche Fabriken nicht nur in
       anderen Ländern haben wollen, sondern müssen über unseren Schatten springen
       und es mittragen. Wer weiß, was sich noch entwickelt. Vielleicht wird man
       einen Weg finden, um CO2 zu nutzen, statt es zu verpressen. Es könnte ein
       neuer Rohstoff werden, und wenn der hier entsteht, warum nicht?
       
       taz: Wir haben vorhin davon gesprochen, dass Sie das Amt schon mal
       vorzeitig hinschmeißen wollten. Machen Sie sich Gedanken darüber, ob Sie
       überhaupt einen Nachfolger finden, wenn Sie den Posten abgeben wollen? 
       
       Tiedemann: Ich bin jetzt 73 Jahre alt und habe noch zweieinhalb Jahre in
       der laufenden Legislaturperiode vor mir. Wenn ich nicht weitermachen
       möchte, finden wir im Team eine Lösung, da bin ich mir ganz sicher. Aber
       ja, es ist ein riesiges Problem, dass sich junge Menschen nicht mehr so
       stark ehrenamtlich betätigen wollen, weder in Vereinen noch in der
       Kommunalpolitik. Schließlich geht es um deren Zukunft – was wir jetzt
       entscheiden über Holcim, über die Industrie- und Wohngebiete im Ort, das
       betrifft die Jungen viel mehr als uns Ältere. Vielleicht sagt Lägerdorf
       irgendwann: Leider haben wir niemanden mehr, der es macht. Dann braucht es
       einen Hauptamtlichen, aber wie der finanziert werden soll, das weiß ich
       auch nicht.
       
       8 Nov 2025
       
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