# taz.de -- Brasiliens Umweltministerin im Gespräch: „Der Wald lehrt uns, wie klein wir sind“
       
       > Marina Silva ist eine Ikone der Klimaschutzbewegung. Hier spricht sie
       > über die Spitzenpolitik, den Kampf für den Amazonas und die
       > Weltklimakonferenz.
       
 (IMG) Bild: Porträt von Marina Silva
       
       Marina Silva sitzt am Kopfende eines Konferenzraums im brasilianischen
       Umweltministerium. Sie trägt ein schwarzes T-Shirt, ihre weißen Haare sind
       zu einem Dutt gebunden. An diesem Tag Mitte Oktober sind wir um 17.30 Uhr
       verabredet, sie erscheint jedoch erst zwei Stunden später – Termine. An der
       Wand hinter ihr hängt ein Foto von Luiz Inácio Lula da Silva, auch Lula
       genannt, der seit Januar 2023 Brasiliens Präsident ist. 
       
       taz: Frau Silva, Sie sind in Acre geboren, einem Bundesstaat mitten im
       Amazonasregenwald. Was bedeuten [1][der Amazonas] und sein Erhalt für Sie
       persönlich? 
       
       Marina Silva: Amazonien ist der Ort meiner Identität. Ich habe dort bis zu
       meinem 16. Lebensjahr mit meiner Familie gelebt. Sie gehört zu einer
       traditionellen Gemeinschaft und hat im Amazonas Latex gewonnen. Der Wald
       versorgte uns mit Nahrung, und es gab dort immer etwas zu erleben. Es gab
       die Realität, aber auch das Geheimnis. Der Wald lehrt uns, wie klein wir
       sind, angesichts seiner schieren Größe. Der Wald ist das Zimmer unseres
       gemeinsamen Hauses, in dem ich mich sicher fühle.
       
       taz: Das klingt schön. 
       
       Silva: Auch wenn der Amazonas riesig ist und wir klein, sind wir leider
       trotzdem dazu in der Lage, ihn sehr zu verletzen. Seit ich Teil des
       öffentlichen Lebens und der politischen Sphäre bin – ich habe nicht in der
       Politik angefangen, sondern in den sozialen Bewegungen –, ist einer der
       Hauptgründe für mein politisches Handeln [2][der Schutz der Wälder]. Ich
       sage Wälder im Plural, weil wir im Falle Brasiliens nicht nur über das
       Amazonasgebiet sprechen, sondern auch über die Mata Atlantica, den Cerrado,
       den Caatinga, das Pantanal und das Biom der Pampa.
       
       taz: Sie haben mit 16 Jahren Lesen und Schreiben gelernt, dann Geschichte
       studiert und wurden Umweltministerin. Sind Sie ein Ausnahmetalent? 
       
       Silva: Ich sage immer im Spaß, dass ich bis zum Alter von 16 Jahren weder
       lesen noch schreiben konnte, aber bereits einen Doktortitel in Erzählkunst
       hatte. Modernes Wissen wird über einen bestimmten Zeitraum hinweg in einem
       Labor oder einer Bibliothek generiert und basiert auf den dort gewonnenen
       Erkenntnissen. Aber Erzählungen und das damit verbundene Wissen sind ein
       Kontinuum, über Tausende von Jahren hinweg. Sie basieren auf den
       Überlieferungen unserer Vorfahren. Es handelt sich dabei nicht um bloße
       Wiederholungen. Erzählungen sind immer auch eine Art der Neuerfindung. Ich
       glaube, dass jeder Mensch – und ich habe als Geschichtslehrerin gearbeitet
       – diese Fähigkeit des Erzählens in sich trägt. Oft wird behauptet, dass
       Menschen deshalb etwas erreichen, weil sie außergewöhnlich sind. Aber
       dadurch vermitteln wir auch die Vorstellung, dass jene, die nicht dieselben
       Möglichkeiten im Leben haben, eben nicht außergewöhnlich sind. Das halte
       ich für falsch.
       
       taz: Sie sind auf psychoanalytische Theorie spezialisiert. Hilft Ihnen das
       bei Ihrer täglichen politischen Arbeit? 
       
       Silva: (lacht) Sehr sogar. Politik ist das genaue Gegenteil der
       Psychoanalyse. Die Psychoanalyse verspricht in der Regel nichts. Und
       Politik lebt von Versprechungen. Sich durch beide Welten zu navigieren,
       bedeutet aufzupassen, kein Heuchler zu werden. Das habe ich mit der
       Psychoanalyse gelernt: Das Versprechen darf nicht allumfassend verstanden
       werden. Es gibt Situationen, in denen wir die Menschen und die Gesellschaft
       enttäuschen werden und die Erwartungen nicht erfüllen. Viele finden es
       merkwürdig, dass ich gläubig bin und gleichzeitig eine Leidenschaft für die
       Psychoanalyse habe. Ich sehe diesen Gegensatz nicht, beides kann sich
       überschneiden. Das ist die Komplexität des menschlichen Zustandes, wie
       Hannah Arendt sagen würde.
       
       taz: Was bedeutet Ihnen Hannah Arendt in diesen Zeiten? 
       
       Silva: Sehr viel. Eines der schönsten Bücher, das ich je gelesen habe, ist
       „Vita activa“ oder „Vom tätigen Leben“. Darin spricht Arendt davon, dass
       unser rücksichtsloses Verhalten nicht nur unser jeweils eigenes Leben
       zerstört, sondern auch jegliche Lebensgrundlagen. Diese Rücksichtslosigkeit
       sehe ich im Umgang mit Biodiversität, mit den Wasserressourcen, den Böden,
       der Atmosphäre, dem Klima. Hannah Arendts Buch erschien 1958, dem Jahr in
       dem ich geboren wurde.
       
       taz: Im Jahr 1995 wurden Sie mit 36 Jahren die jüngste Senatorin
       Brasiliens. Wie wurden Sie damals als Schwarze Frau in der Politik
       wahrgenommen? 
       
       Silva: Ich gebe zu, dass das eine sehr relevante Erfahrung war und in
       mancher Hinsicht auch sehr schmerzhaft. Als zum ersten Mal über Acre hinaus
       die Nachricht veröffentlicht wurde, dass ich zur Senatorin gewählt wurde,
       hat mich ein Medienhaus eingeladen. Ich sage nicht welches, weil der
       Journalist, der das getan hat, mich öffentlich um Entschuldigung gebeten
       hat und ich diese angenommen habe. Aber dieser Journalist sagte damals:
       Seht her, wie schlimm das ist, in Acre wurde eine Kautschukbäuerin gewählt,
       um Senatorin der Republik zu werden. Ich habe mich sehr entschieden dazu
       geäußert und erklärt, was es bedeutet, dass ich gewählt wurde.
       
       taz: Heute ist Sônia Guajajara Ministerin, sie ist indigen, und Benedita da
       Silva war die erste Schwarze Senatorin. 
       
       Silva: Ich glaube, dass die Pionierinnen einen Preis für diesen Fortschritt
       gezahlt haben. Viele von ihnen haben nicht erkannt, dass sie in bestimmten
       Momenten diskriminiert wurden, weil sie Frauen waren, weil sie arm waren,
       weil sie Schwarz waren oder Indigene. Die neue Generation hat uns bewusst
       gemacht, dass viele Dinge, die wir nicht als Diskriminierung erkannt haben,
       tatsächlich diskriminierend waren.
       
       taz: Diesen Preis zahlen Sie bis heute. Im Mai wurden Sie persönlich
       angegriffen – Senator Marcos Rogério hat Ihr Mikrofon ausgeschaltet und Sie
       aufgefordert, dahin zurück zu gehen, wo Sie hingehören. Sie haben während
       der Anhörung den Senat verlassen. 
       
       Silva: So etwas geht bis heute überall auf der Welt weiter. [3][Frauen
       erleben seit Jahrtausenden strukturelle Diskriminierung], die uns daran
       hindert, unsere Ideen und unsere Art, in der Welt zu sein und zu leben, zu
       verwirklichen. Das gilt natürlich nicht für alle Männer, aber es gibt
       einige Menschen mit einer sexistischen, rassistischen,
       patriarchalisch-oligarchischen Sichtweise, die die Präsenz von Frauen in
       bestimmten Räumen nicht tolerieren.
       
       taz: Bevor Sie in die Politik gingen, engagierten Sie sich in sozialen
       Bewegungen. Erzeugt das zusätzliche Erwartungen und Druck auf Ihre aktuelle
       Arbeit als Umweltministerin? 
       
       Silva: Wenn man eine Sache vertritt und vor diesem Hintergrund handelt,
       dann besteht natürlich auch die Erwartung, dass man Antworten auf Fragen
       gibt, die man, als man noch nicht in dieser Position war, von denjenigen
       verlangt hat, die an der Macht waren. Ich habe immer gefordert, dass man
       sich mit der Abholzung des Amazonasgebiets auseinandersetzt. Also haben wir
       als erstes einen Plan zur Prävention und Bekämpfung der Abholzung des
       Amazonasgebiets erstellt. Dieser Plan trat Anfang 2004 (Anm. d. Red.:
       während ihrer ersten Amtszeit als Umweltministerin) in Kraft und war so
       wirksam, dass die Entwaldungsrate für fast ein Jahrzehnt um 83 Prozent
       reduziert werden konnte.
       
       taz: Sie wurden im Jahr 2023 erneut Umweltministerin. Seitdem hat sich
       Brasilien das öffentlich erklärte Ziel gesetzt, bis 2030 [4][eine
       Entwaldungsrate von null Prozent zu erreichen]. Wie wollen Sie das
       schaffen? 
       
       Silva: Um illegale Aktivitäten zu bekämpfen, verbessern wir die
       Überwachung. Außerdem unterstützen wir nachhaltige, produktive Aktivitäten,
       weil man die Entwaldung nicht nur durch Kontrolle verringern kann. Zum
       Beispiel durch Tourismus und die Schaffung einer Bioindustrie zur Stärkung
       der lokalen Gemeinschaften. Wir haben die Entscheidung getroffen, dass 50
       Millionen Hektar nicht mehr für die Umwandlung von Wäldern genutzt werden
       dürfen. Sie werden als Naturschutzgebiete, nationale Wälder, Gebiete mit
       nachhaltiger Waldbewirtschaftung oder für indigene Gemeinschaften
       ausgewiesen. Für all diese Aktivitäten gibt es neue Vorgaben und
       wirtschaftliche Anreize.
       
       taz: Warum haben Sie sich entschieden, für diese Regierung erneut das Amt
       der Umweltministerin zu übernehmen, obwohl Sie es in Lulas letzter Amtszeit
       aufgrund politischer Differenzen niedergelegt hatten? 
       
       Silva: Ich war fünf Jahre lang Ministerin in der Regierung von Präsident
       Lula. Es waren zwei Amtszeiten, die erste dauerte vier Jahre, die zweite
       ein weiteres Jahr. Es war eine sehr bereichernde Erfahrung, aber es kam ein
       Punkt, an dem der Plan zur Bekämpfung der Abholzung so stark und so
       wirkungsvoll wurde, dass die von uns ergriffenen Maßnahmen eine starke
       Opposition seitens der Landesregierungen in den Bundesstaaten Rondônia und
       Mato Grosso hervorriefen.
       
       taz: Inwiefern? 
       
       Silva: Menschen mit einer sehr konservativen Sichtweise übten Druck auf den
       Präsidenten aus, die Maßnahmen des Plans zur Bekämpfung der Abholzung
       aufzuheben. In diesem Zusammenhang wusste ich, dass es sehr schwierig
       werden würde, die Maßnahmen aufrechtzuerhalten, wenn ich in der Regierung
       bleiben würde.
       
       taz: Im Juni hat die Nationale Öl- und Gasagentur (ANP) eine Auktion für
       172 neue Erkundungsgebiete durchgeführt. Mehrere dieser Gebiete befinden
       sich in der Amazonasmündung. Wie passt das mit dem in Paris beschlossenen
       1,5-Grad-Ziel zusammen, zu dem sich auch Brasilien verpflichtet hat? 
       
       Silva: Brasiliens Energiemix ist sauberer als in vielen anderen Ländern. 46
       Prozent unseres Energiemix sind sauber, 90 Prozent unseres Strommix ist
       sauber. Brasilien hat sich der Mission 1,5 Grad verschrieben. Auf der
       Klimakonferenz COP28 in Dubai wurde vor zwei Jahren eine Klimafinanzierung
       von 1,3 Billionen US-Dollar beschlossen, [5][um das 1,5-Grad-Ziel zu
       erreichen]. Leider haben sich gewisse Länder nicht daran gehalten. Vor
       allem die Industrieländer investieren weiterhin rund 4 bis 6 Billionen
       Dollar in fossile Aktivitäten. Widersprüche gibt es also nicht nur in
       Brasilien (Anm. d. Red.: Fünf Tage nach dem Interview hat die
       Umweltschutzbehörde Ibama Probebohrungen nahe dem Amazonas genehmigt). Der
       beste Weg nach vorne ist, nicht mit dem Finger aufeinander zu zeigen,
       sondern auch auf sich selbst zu schauen.
       
       taz: Internationale Klimakonferenzen sind nicht gerade dafür bekannt, die
       Klimakrise effizient zu bekämpfen. Haben Sie die Hoffnung, dass es bei der
       COP, die diesen November im brasilianischen Belém stattfindet, anders wird? 
       
       Silva: Ich denke, es ist dieses Mal schon anders. Die COP30 findet immerhin
       in einem Land statt, das eine Tradition sozialer Beteiligung hat.
       
       taz: In den vergangenen Tagen sind hier in Brasilia viele indigene
       Gemeinschaften auf die Straße gegangen und haben für mehr Teilhabe
       protestiert. Was unternehmen Sie, damit diese Perspektiven im Rahmen der
       COP30 berücksichtigt werden? 
       
       Silva: Wir werden den Gipfel der Völker …
       
       taz: … eine alternative Konferenz, die parallel zur offiziellen
       UN-Klimakonferenz COP30 in Belém mit Fokus auf die Zivilgesellschaft,
       indigene Organisationen und andere Graswurzelbewegungen stattfindet. 
       
       Silva: Und sie wird auf dem Gelände der COP abgehalten. Es wird eine starke
       Vertretung indigener Völker geben, die von der brasilianischen Ministerin
       für indigene Völker, Sônia Guajajara, angeführt wird. Die Bemühungen, all
       diese Forderungen zu erfüllen, liegen sicherlich nicht nur beim
       Gastgeberland. Es müssen alle 196 Länder daran mitwirken. Die COPs sind
       Konsensprozesse, und jedes positive Ergebnis wird von allen 196 Ländern
       getragen. Das gilt auch für jedes negative Ergebnis.
       
       taz: Aber Brasilien kommt schon eine besondere Rolle zu. 
       
       Silva: Das Gastgeberland trägt natürlich die Verantwortung, sich nach allen
       Kräften dafür einzusetzen, dass diese Konsense die besten und umfassendsten
       zugunsten des Klimas und der Schwächsten sind. Das Thema Anpassung ist ein
       Problem, weil die reichen Länder nicht über die Finanzierung diskutieren
       wollen. Aber diese Gleichung kann nur gelöst werden, wenn genug Geld
       bereitgestellt wird.
       
       taz: Global gesehen schaut die Welt wegen der COP nach Brasilien, aber auf
       nationaler Ebene sind die Präsidentschaftswahlen nächstes Jahr sehr
       wichtig. Was macht Ihnen mehr Sorgen: die Klimakrise oder die Wahlen? 
       
       Silva: Man kann das eine nicht gegen das andere ausspielen. Die Klimakrise
       ist ein Problem von solcher Tragweite, dass sie über alle Wahlkampagnen und
       saisonalen Ereignisse hinausgeht. Deshalb arbeiten wir immer mit
       strukturellen Maßnahmen, damit sie die amtierenden Regierungen überdauern.
       Auch wenn Bolsonaro vier Jahre lang vieles aufgehalten hat, haben wir durch
       unsere Gesetzgebung bereits die Freisetzung von 450 Millionen Tonnen
       Kohlenstoffdioxid verhindert. Ohne die vier Jahre Unterbrechung durch
       Bolsonaro hätten wir die Entwaldungsrate bereits auf null gebracht. Sie war
       bei 27.000 Quadratkilometer im Jahr 2004 und sank auf 4.000
       Quadratkilometer im Jahr 2012.
       
       taz: Und die Wahlen? 
       
       Silva: Wahlen sind natürlich wichtig, klar. Die Demokratie wird bedroht,
       und wir wollen nicht, dass sie zerstört wird. Denn dann würden auch all die
       Gesetze und Initiativen abgebaut, die das Klima schützen – und darunter
       leiden auch die Menschenrechte, die Rechte von Frauen und die Grenzziehung
       indigener Territorien.
       
       Hinweis: Dieser Text ist im Rahmen einer Recherchereise des Vereins
       journalists network e. V. entstanden.
       
       2 Nov 2025
       
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