# taz.de -- Peter-Weiss-Aufführung in Stuttgart: Die Hölle kannte weder Maß noch Verhältnis
> Das Schauspiel Stuttgart führt im Landtag von Baden-Württemberg Peter
> Weiss’ „Die Ermittlung“ auf – und versetzt das Publikum in
> Fassungslosigkeit.
(IMG) Bild: Das gesprochene Wort steht im Vordergrund: Szene aus Peter Weiss’ „Ermittlung“ in Stuttgart
Eigentlich müsste hier eine große Lücke stehen, ein leeres weißes Quadrat.
Nur so ließe sich jene Beklommenheit vermitteln, die am Dienstagabend im
Stuttgarter Landtag herrschte. Denn dort wurde sechzig Jahre nach der
Uraufführung erneut [1][Peter Weiss’ dokumentarisches Stück „Die
Ermittl]ung“ gezeigt. Ein Text, der das Publikum in eine Schockstarre
versetzte. Wie in den Frankfurter Auschwitz-Prozessen zwischen 1963 und
1965, aus denen der Autor sein Material speiste, nahmen wir teil an
Befragungen und Verhören. Man hätte eine Nadel gehört, wäre sie zu Boden
gefallen.
Dabei verfasste der Dramatiker seinen Text, um das damalige Schweigen und
kollektive Verdrängen zu überwinden. Zutage tritt ein gigantischer Abgrund
der Inhumanität. Die Berichte der über dreihundert Zeugen, davon allein
mehr als zweihundert Überlebenden, sind an Grausamkeit kaum zu
übertrumpfen.
In den für das Drama ausgewählten Schilderungen hören wir von einem Kind,
das von einem Aufseher an den Füßen genommen und mit dem Kopf gegen die
Wand geschleudert wird, von Schwangeren, denen man in der siebten Woche
eine zementartige Chemikalie in die Gebärmutter injizierte, von einem
Neugeborenen, das mit einem festen Tritt umgebracht wurde.
Nicht minder beklemmend muten die Aussagen zur „Sprechmaschine“ an. An sie
ließ der Sadist Wilhelm Friedrich Boger seine Opfer fesseln und prügelte
sie zu Tode. Während er aufgrund seiner Lust an der Gewalt wohl am
eindeutigsten als Kriegsverbrecher zu identifizieren ist, bewegen sich
andere in einer Grauzone. Neben den üblichen Mitläufern und blinden
Befehlsempfängern sind damit beispielsweise in der Hierarchie aufgestiegene
Häftlinge gemeint. Damit sie überleben konnten, mussten sie sich an der
Todesmaschinerie beteiligen.
## Ambivalente Figuren
Gleiches galt für deportierte Ärzt:innen. Häufig zwang man sie zur
Mitarbeit bei der Selektion. In der Hauptverhandlung sagt eine von ihnen
aus, sich im Zweifelsfall für diejenigen entschieden zu haben, die in
Auschwitz einen (letzthin scheiternden) Komplott gegen ihre
Peiniger:innen planten.
Eben wegen diesen ambivalenten Figuren lässt Burkhard Kosminski seine
Ensemblemitglieder, darunter Katharina Hauter, Felix Strobel und Therese
Dörr, mehrfach die Rollen tauschen. Anfangs sitzen die Angeklagten (aus
Sicht der Zuschauer:innen im Plenum) links und die Geschädigten rechts
neben der Richterin. Gehen sie nun hin und her, führen sie uns vor Augen,
dass die Trennschärfe zwischen Täter:innen und Opfer nicht immer klar
auszumachen ist.
Ansonsten hält sich die Regie auffällig zurück. Wir haben es mit einem der
Würde des Textes angemessenen Antitheater zu tun. Es verweigert jedwede
Effekte oder Bilder, ist bestrebt, nichts zu entstellen oder von etwas
abzulenken. Lediglich auf zwei Bildschirmen über dem Präsidium sehen wir
als einziges Kulissenelement eine Schreibmaschine, die auf einem Blatt
immer den jeweiligen Abschnitt, gegliedert in Gesänge „von der Rampe“, „vom
Lager“ oder „von den Feueröfen“, angibt.
Sie fungiert als Symbol des Theaterabends, als Protokollgerät für eben das,
was nicht vergessen werden soll. Daher steht das gesprochene Wort immer im
Zentrum. Es gehört allein den Prozessbeteiligten am Rednerpult und,
gemessen an den überschaubaren Anteilen der Beschuldigten, vornehmlich den
Überlebenden.
Ihre häufig monologischen Parts fügen sich dabei in eine demokratische
Grundstruktur des Werks, die zugleich als Setzung gegen totalitäres Denken
zu verstehen ist. Indem die Inszenierung uns alle ins Parlament setzt und
indem sie zukünftig noch an anderen Orten in der Stadt, etwa Gerichten, zu
sehen sein wird, will man wohl ein aktives Gedenken in der Mitte des
Alltags und den wichtigen Institutionen des Staates befördern. Wir alle
bilden als Besucher:innen des Stücks ein Kollektiv, im Mitleid genauso
wie im Schrecken. Beim Applaus zeigt man sich daher einig. Beinah still und
kurz ist er. Man hat großes Theater erlebt, durchaus. Aber eben auch ein
Requiem, das einen noch lange danach schaudern lässt.
2 Oct 2025
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## AUTOREN
(DIR) Björn Hayer
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