# taz.de -- Politisches Chaos in UK: Labour in der Krise, Reform UK auf Höhenflug
       
       > Die Labour-Regierung versucht sich selbst zu retten. Derweil inszeniert
       > sich die rechte Reform UK, in Umfragen stärkste Kraft, auf einem
       > Parteitag.
       
 (IMG) Bild: Hat derzeit gut lachen: Nigel Farage, der Parteichef von Reform UK
       
       Berlin taz | Angela Rayner war gerade als stellvertretende
       Premierministerin Großbritanniens und Vizechefin der regierenden
       Labour-Partei zurückgetreten. Und Premierminister Keir Starmer war in seine
       bisher schwerste Krise geschlittert. Da stolzierte Nigel Farage auf die
       Bühne in Birmingham wie ein Messias, begleitet von senkrecht abgefeuerter
       Pyrotechnik und ohrenbetäubender US-amerikanischer Wrestling-Musik. Die
       Labour-Partei sei „unfit zu regieren“, rief der Anführer der
       rechtspopulistischen Oppositionskraft „Reform UK“ vor seinem
       Parteitagsplenum; die Konservativen seien „tot“, und Reform UK sei die
       Partei der Zukunft: „Wir sind die patriotische Partei. Wir sind die Partei,
       die für ehrliche arbeitende Menschen einsteht. Und wir sind die Partei im
       Aufstieg!“
       
       Der Kontrast könnte kaum größer sein. Vor gut einem Jahr errang
       Großbritanniens Labour-Partei eine Zweidrittelmehrheit im Parlament und
       setzte damit 14 Jahren zunehmend chaotischer konservativer Regierungszeit
       ein Ende. Doch nun macht die Regierung Starmer selbst einen verbrauchten
       Eindruck: Rückschläge bei den Regional- und Kommunalwahlen im Mai, eine
       heulende Finanzministerin Rachel Reeves auf der Regierungsbank im Unterhaus
       Anfang Juli, Abspaltung des linken Parteiflügels Ende Juli, neue rechte
       Straßenproteste im August, [1][die spektakuläre Selbstzerstörung der
       Vizepremierministerin Rayner Anfang September.] Und all das wird begleitet
       von einem unaufhaltsamen Abwärtstrend in den Umfragen – und einem nicht
       enden wollenden Höhenflug der neuen Partei des alten Populisten Farage.
       
       Angela Rayner ist für die Labour-Regierung ein herber Verlust, das weiß
       niemand besser als Keir Starmer. Als der ehemalige britische
       Generalstaatsanwaltschaft 2020 die Wahl um die Nachfolge Corbyns als
       Labour-Chef gewann, verdankte er das nicht nur dem eigenen Ruf von
       Seriosität. Sondern auch dem gemeinsamen Ticket mit dieser
       rotzig-rothaarigen Maulheldin aus einfachsten Verhältnissen, die sich von
       der minderjährigen alleinerziehenden Mutter ohne Schulabschluss bis hinauf
       ins Parlament gekämpft hatte. Sie sollte Labour als „Partei, die für
       ehrliche arbeitende Menschen einsteht“ verkörpern.
       
       Aber „ehrliche arbeitende Menschen“ nutzen nicht Entschädigungsgelder des
       staatlichen Gesundheitssystems, um die Anzahlung für eine Luxuswohnung in
       der Nähe des neuen Lebensgefährten zu leisten – und dabei auch noch 40.000
       Pfund Steuern zu wenig zu zahlen. Die Entschädigungsgelder hatte Rayner für
       Fehler bei der Entbindung des von Geburt an schwerbehinderten, heute
       17-jährigen Sohnes erhalten. Die offizielle Bestätigung dieser
       Medienenthüllungen durch den Ethik-Beauftragten der Regierung kosteten
       Angela Rayner am Freitag ihre Glaubwürdigkeit und ihre Karriere. Ihre Ämter
       ist Angela Rayner nun alle los, mit Ausnahme ihres Direktmandats im
       Unterhaus. Vermutlich kommt außerdem ein Steuerverfahren auf sie zu.
       
       ## Kabinettsumbildung als Schadensbegrenzung
       
       Die britische Regierung ist im Chaos: Eine bereits angesetzte
       Kabinettsumbildung musste Premierminister Starmer am Freitag und Samstag
       vorziehen und ausweiten. Nachfolger Rayners als Vizepremier wird der
       bisherige Außenminister David Lammy, prominentester Schwarzer der
       Labour-Regierung. Zuletzt war er auffällig geworden durch seine kuriose
       Männerfreundschaft mit US-Vizepräsident J. D. Vance. Lammy ist nun nicht
       mehr Außenminister, sondern wurde auf den relativ einflusslosen Posten des
       Justizministers degradiert.
       
       Die bisherige Justizministerin Shabana Mahmood – pakistanischstämmig und
       die prominenteste Muslimin in der Regierung – steigt zur viel mächtigeren
       Innenministerin auf. Damit wird sie für die Migrations- und
       Flüchtlingspolitik zuständig, das heißeste Streitthema zwischen Labour und
       Reform UK. Die bisherige Innenministerin Yvette Cooper, einzige Veteranin
       der Ära Tony Blair in der Regierung, wird neue Außenministerin.
       
       Indem diese eigentlich sinnvolle Dreierrochade Teil der allgemeinen
       Schadensbegrenzung nach dem Fall Angela Rayners wird, verpufft der
       gewünschte Effekt, einer strauchelnden Regierung neuen Schwung zu
       verleihen. „Dies ist kein Chaos“, wehrte Starmers Chefkabinettsberater
       Darren Jones am Samstag Journalistenfragen ab. Der Eindruck blieb.
       
       ## Quo vadis Labour – nach links oder rechts?
       
       Offen ist, was das alles für die Wahl eines neuen stellvertretenden
       Parteichefs bedeutet. Diese dürfte zu einer Schlammschlacht werden. Das
       Dilemma: Wenn Labour den linken Flügel verprellt, steht die noch nicht
       offiziell gegründete neue Linkspartei von Jeremy Corbyn und Zarah Sultana
       als Auffangbecken bereit. Aber wenn der linke Flügel sich durchsetzt, ist
       das noch mehr Wasser auf die Mühlen der rechten Opposition.
       
       Schon fordern die Linken, dass die neue Innenministerin Mahmood den
       Beschluss ihrer Vorgängerin Cooper kippt, [2][die militante
       Palästina-Soliguppe „Palestine Action“] als „terroristische Vereinigung“
       einzustufen. Cooper hatte auch die laufende rechte Kampagne gebilligt,
       überall im Land britische Flaggen zu hissen – für Linke ein Graus.
       
       ## Reform UK zelebriert sich beim Parteitag selbst
       
       Bei Reform UK freut man sich über die patriotische Welle, die große Teile
       der britischen Gesellschaft erfasst hat. 4.000 „Reformer“ sind am
       Wochenende ins Messezentrum von Birmingham gekommen, um gemeinsam zwei Tage
       lang zu feiern – in einer Inszenierung irgendwo zwischen TV-Show und
       Erweckungsgottesdienst, mit eingesprenkelten Simulationen von Debatte, bei
       denen alle einer Meinung sind.
       
       Reform UK hat hier schon früher getagt, aber dieses Jahr ist das Klima
       ernsthafter, bestätigen erfahrene Beobachter. Die Partei setzt die
       politische Agenda Großbritanniens. Im Durchschnitt der Meinungsumfragen
       steht Reform UK aktuell bei 31 Prozent, Labour bei 20, dahinter
       Konservative, Liberale und Grüne. Zur Erinnerung: die Wahlen 2024 gewann
       Labour mit 34 Prozent gegen 24 für die Konservativen und 14 für Reform UK.
       
       Allmählich gewöhnt sich Großbritannien an den Gedanken, dass die
       traditionelle Zweiparteienlandschaft sich verschiebt. Etablierte politische
       Thinktanks halten jetzt bei Reform UK Veranstaltungen ab. Unternehmen
       stehen Schlange. Selbst traditionelle Spender der Konservativen sind
       vertreten. [3][Konservative Politiker wie der frühere Minister Jacob
       Rees-Mogg] schnuppern herum, man weiß ja nie. Seine einstige
       Ministerkollegin Nadine Dorries wird ganz offiziell von Farage mitten in
       seiner Parteitagsrede als Überraschungsgast auf die Bühne geholt. Mit den
       Worten „Ich bin so erleichtert“ setzt sie zu einer langen Grußadresse an.
       
       ## Reform UK feiert einen Erfolg nach dem nächsten
       
       Lange Reden sind bei Reform UK weniger erwünscht als kurze Schnipsel mit
       dem immergleichen Dreiklang: Großbritannien geht den Bach runter, wir
       können es retten, wir werden es retten! [4][Die Erfolge sind real]: erster
       Platz in den Meinungsumfragen seit Monaten; 10 mit absoluter Mehrheit
       gewonnene Distriktverwaltungen im Mai; mittlerweile über 240.000
       Mitglieder, doppelt so viele wie die Konservativen; ein möglicher Sieg bei
       den Regionalwahlen in Wales 2026. Wenn das gelingt und auch weitere Erfolge
       folgen, steht dem Sieg bei der nächsten Parlamentswahl nichts mehr im Wege,
       so die Analyse.
       
       5.000 gute Kandidaten brauche man beim britischen Regionalwahlmarathon
       2026, dann dürfte das Labour-Chaos zu vorgezogenen Parlamentswahlen 2027
       führen. Und dann ist Nigel Farage Premierminister in 10 Downing Street.
       Handsignierte Farage-Fußballtrikots mit der Zahl „10“ auf dem Rücken gibt
       es für 100 Pfund zu erstehen.
       
       „Unser Land ist zweifellos in der gefährlichsten Phase meines Lebens!“ ruft
       der 61-jährige Farage. „Die Leute sagen mir: Du bist die letzte Chance, die
       unser Land hat“. Und natürlich haben die Leute recht, fügt er hinzu. Bei
       Reform UK haben die Leute immer recht. Sie wollen ja bloß „ein schönes
       Leben und eine Zukunft für die Kinder“, wie es eine der Delegierten sagt,
       als ein Showmaster ihr das Mikrofon vor die Nase hält.
       
       ## Man habe ja nichts gegen Ausländer
       
       Besonders viel Applaus vom Publikum erhält am Samstag Lucy Connolly. Die
       Britin hatte im Juli 2024 auf X „Massenabschiebungen jetzt, zündet von mir
       aus alle verdammten Hotels voller Bastarde an“ gepostet. Das ereignete sich
       einen Tag nach der [5][Ermordung von drei Mädchen bei einem Messerangriff
       in Southport], dem folgten Unruhen und Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte.
       Sie löschte ihren Beitrag schnell wieder – wurde aber verhaftet, verurteilt
       und saß 380 Tage im Gefängnis. Eine „politische Gefangene“, sagt Reform UK.
       
       Staunend erfährt das Publikum, jeden Tag würden in Großbritannien 30
       Menschen wegen Äußerungen auf sozialen Medien festgenommen, 10.000 pro
       Jahr. „Ich will nicht in einem Land leben, wo Leute verhaftet werden, weil
       sie ihre Meinung online sagen“, erklärt die biedere Frau. Sie sagt, sie
       habe nichts gegen Ausländer, es gehe ihr einfach um die Sicherheit ihrer
       Kinder.
       
       Bei Reform UK gehört alles weg, was stört. Nigel Farage zählt in seiner
       Rede sein Programm auf: Null Toleranz bei der Polizei, ausländische
       Straftäter deportieren, Ende der illegalen Bootsanlandungen, alle Illegalen
       festsetzen und deportieren, alle Organisationen mit Terrorverbindungen
       verbieten, Klimaneutralität beenden, Energie verbilligen, Großbritannien
       reindustrialisieren, Verschwendung von Steuergeldern beenden, arbeitende
       Menschen schützen, London zum globalen Führer in der digitalen Ökonomie und
       Kryptowährungen machen, die Superreichen im Land halten, mehr praktische
       Bildung einführen. Ein Parteitagsbeschluss fordert, nach der
       Regierungsübernahme alle bestehenden Asylbeschlüsse neu zu prüfen.
       
       ## Labour als Häuflein verlorener Aufrechter
       
       Es ist Populismus pur, sehr selbstbewusst mit der Machtperspektive
       kombiniert. Farages Stellvertrter und Vorgänger Richard Tice zerpflückt
       nicht nur die Wirtschaftsbilanz der Labour-Regierung, er spricht von
       fruchtbaren Kontakten zur Zentralbank und warnt Unternehmer, ihre Verträge
       mit der derzeitigen Regierung seien bald Geschichte.
       
       Der frischgekürte Reform-Programmchef Zia Yusuf spricht in Bezug auf die
       illegale Migration von einem „nationalen Sicherheitsnotstand“, zieht den
       Vergleich zum Zweiten Weltkrieg, verkündet das bevorstehende „Ende einer
       tragischen Ära“ und prophezeit, in 100 Jahren werde man bewundernd auf
       diese Zeit zurückblicken.
       
       [6][Nigel Farage] muss da gar nicht viel selber sagen. Es genügt, dass eine
       Rede nach dere anderen ihren Höhepunkt mit dem Hinweis findet, Nigel Farage
       sei bald Premierminister. Und wenn Labour so weitermacht, als Häuflein
       verlorener Aufrechter im ratlosen Abwehrkampf gegen die rechte Welle, wird
       er es auch.
       
       7 Sep 2025
       
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