# taz.de -- Inklusion in Berlin: Kein Geld für Selbstbestimmung
       
       > Dass behinderte Menschen selbst entscheiden können, wer ihnen im Alltag
       > hilft, ist eine politische Errungenschaft. Die ist in Berlin nun in
       > Gefahr.
       
 (IMG) Bild: In den vergangenen Monaten sei es immer schwieriger geworden, persönliche Assistenzen zu finden, sagt Linn Bade
       
       Berlin taz | „Inklusion ist da vorhanden, wo nicht mehr drüber geredet
       wird“, steht in der Instagram-Biografie von [1][Linn Bade], einer 25 Jahre
       alten queeren Influencerin aus Berlin. Allerdings redet Bade – für eine
       Inklusionsaktivistin wenig verwunderlich – auf ihrem Account ausschließlich
       über ein Thema: Inklusion.
       
       Dort zeigt sie ihren 46.000 Followern, wie sie allein ihre Wäsche wäscht,
       ihre Katzen versorgt oder puzzelt. Sie hat auch eine Videoreihe gedreht,
       die über den Job und Alltag einer persönlichen Assistenz aufklärt, darunter
       eines mit dem Titel: „Nerven mich eigentlich meine Assistenzen?“ Spoiler:
       Ja. „Aber nicht, weil sie sie sind“, sondern weil Bade lieber nicht dauernd
       Menschen um sich hätte, deren Unterstützung sie aber blöderweise dauernd
       benötigt.
       
       Wenn Bade also so viel darüber redet, dann – so die naheliegende
       Schlussfolgerung – ist Inklusion wohl eher nicht vorhanden. Zumindest nicht
       auf Instagram. Und auch nicht in Berlin, wo Bade vor 25 Jahren mit Spastik
       geboren wurde und heute in einer Dreizimmerwohnung in Marienfelde lebt.
       
       Dort sitzt Linn Bade am Schreibtisch. Die dunkelbraunen Haare trägt sie
       kurz, das Kleid beige, die Fingernägel türkis lackiert. „Momentan bin ich
       wieder im Excel-Fieber“, sagt sie und scrollt mit Hilfe eines Joysticks
       durch ein paar Tabellen, Schichtpläne und Abrechnungen. Nicht so schlimm,
       sagt die ausgebildete Mediengestalterin, schließlich verbringe sie sowieso
       die meiste Zeit des Tages vor ihrem Computer. „Und Programmieren macht mir
       auch Spaß.“
       
       ## Weniger Geld für gleiche Arbeit
       
       Gerade unterstützen zehn persönliche Assistenzen Bade rund um die Uhr, 850
       Stunden pro Monat, alle direkt bei ihr angestellt. Eine davon: Hélène, eine
       ehemalige Grundschullehrerin aus Frankreich, die ihren Nachnamen nicht in
       der Zeitung lesen will. Sie hat gerade ihren ersten Tag mit Bade und wird
       sie später noch ins Fitnessstudio begleiten. Dort wird sie ihr helfen, die
       Geräte einzustellen. Und auch sonst unterstützt sie Bade bei allem, was mit
       Feinmotorik zu tun hat: essen, saugen, Zähne putzen. Dass Bade entscheiden
       kann, wer ihr im Alltag hilft, diese Selbstbestimmung ist für sie eine
       „politische Errungenschaft“.
       
       In den vergangenen Monaten ist es allerdings immer schwieriger geworden,
       persönliche Assistenzen zu finden – noch dazu eine, mit der es auch passt.
       Für Bade sonnenklar, woran das liegt: „Die ambulanten Dienste bekommen den
       Tarifvertrag vom Senat weiterhin vollumfänglich finanziert, [2][die
       Assistenzen im Arbeitgeber*innenmodell aber nicht].“
       
       Konkret heißt das: Wer in Berlin bei einem ambulanten Dienst angestellt
       ist, wird weiterhin nach Entgeltgruppe 5 bezahlt, bekommt also je nach
       Erfahrung und Beschäftigungsdauer zwischen 3.039 und 3.680 Euro im Monat.
       Wer allerdings im Arbeitgeber*innenmodell beschäftigt ist, verdient
       bei gleicher Arbeit bis zu 340 Euro weniger im Monat – und das seit Februar
       2025. Wer wechselt da nicht lieber zum Dienst? Oder denkt zumindest darüber
       nach?
       
       ## Refinanzierung nicht verlängert
       
       Vor sechs Jahren schlossen die Dienste mit dem Senat einen Tarifvertrag –
       eigentlich eine Errungenschaft, die aber das Arbeitgeber*innenmodell
       finanziell abwertete. Viele persönliche Assistenzen wechselten zu den
       Diensten. Als Konsequenz gründeten einige behinderte Arbeitgeber*innen,
       darunter auch Bade, den Verein „Arbeitsgemeinschaft der behinderten
       Arbeitgeber*innen mit Persönlicher Assistenz e. V.“, kurz AAPA.
       
       Über ein halbes Jahr hinweg erarbeiteten sie einen eigenen Tarifvertrag,
       der 2021 und 2023 für zwei Jahre verlängert wurde. CDU und SPD versprachen
       2023 im Koalitionsvertrag, die Refinanzierung weiterhin sicherzustellen.
       Aber: Die Refinanzierung läuft Ende des Jahres aus und der Senat will sie
       nicht verlängern.
       
       Unter den Assistenzen im Arbeitgeber*innenmodell herrscht viel Frust
       – so auch bei Jan Gehling und Hannah Bär, die seit vielen Jahren in dem
       Beruf in Berlin arbeiten. Seit 2019 sind sie zudem Mitglieder der
       Tarifkommission bei Verdi. „Wir versuchen, jeden Strohhalm zu greifen,
       gehen zu Veranstaltungen, demonstrieren, lassen uns beim
       Arbeitnehmerempfang blicken“, sagt Bär seufzend.
       
       Dort habe sie Sozialsenatorin Cansel Kiziltepe (SPD) getroffen, die ihr
       versicherte, sie sei im Prinzip für die Refinanzierung, sehe aber die
       Entscheidungsgewalt bei der Senatsverwaltung für Finanzen. Die wiederum
       sehe diese bei der Senatsverwaltung für Arbeit, Soziales, Gleichstellung,
       Integration, Vielfalt und Antidiskriminierung. „Eine Frechheit, sich da so
       rauszuwinden“, findet Bär.
       
       ## Wechsel zu Assistenzdiensten wäre teuer
       
       Auf taz-Nachfrage heißt es aus dem Hause Kiziltepes, man handle dem
       Sozialrecht entsprechend, also nicht illegal. Und: „Wir wissen, dass es
       dringend ist.“ Man stehe aktuell „im engen Austausch mit der
       Senatsfinanzverwaltung“ und habe die Thematik an ein Gremium übergeben, „um
       zu wirtschaftlichen Lösungen zu gelangen“.
       
       Dabei ist nicht nur die Refinanzierung ein Kostenpunkt für den Senat,
       sondern auch die aktuelle Situation. Denn: „Wir verwalten ja alles selbst“,
       so Bade, die mittlerweile im Wohnzimmer sitzt. Mit dem AAPA e. V. hat Bade
       ausgerechnet: Würden alle Arbeitgeber*innen von heute auf morgen zu
       den eh schon überlasteten Diensten wechseln, würde das den Staat über zwölf
       Millionen Euro mehr kosten – nur für die Verwaltung.
       
       Bade wollte aber nicht nur rechnen, sondern auch aktiv werden. „Da musste
       irgendwas Nerviges her. Irgendwas, das man nicht ignorieren kann – wie eine
       Mahnwache“, erzählt Bade, während ihre Katze Lucky um ihre Beine streicht.
       Eine zweite Katze – Flecki – springt auf die Couch hinter ihr, Hélène füllt
       das Wasserglas auf und Bade fährt fort: Innerhalb einer Woche habe sie eine
       Mahnwache organisiert, die vom 22. April bis 28. Mai dauerte. Sechs Wochen
       also, in denen sich jeden Tag von 11 bis 16 Uhr um die 20 Vereinsmitglieder
       und Assistent*innen für die Refinanzierung des Tarifvertrages
       versammelten. Bade erstellte dafür extra einen Schichtplan – natürlich mit
       Excel –, der pro Tag zwei Gruppen für bis zu drei Stunden vorsah.
       
       Mit Schildern in den Händen und an den Rollstühlen protestierten die
       Arbeitgeber*innen und ihre Assistent*innen vor der
       Senatsverwaltung für Arbeit. Selbstbestimmung in Gefahr!“ stand zum
       Beispiel darauf. Auf dem Boden breiteten sie immer wieder ein großes,
       grellgrünes Banner aus: „Persönliche Assistenzen stärken: Tarifverträge
       sind zu refinanzieren!“ In der Ecke unten links ein großes rotes Herz mit
       dem Schriftzug Verdi – ein Zeichen, dass die Gewerkschaft hinter ihnen
       steht.
       
       ## Ab kommenden Jahr noch weniger Geld
       
       Das bestätigt auch Tarifkommissionsmitglied Gehling: „Eigentlich ist das
       Arbeitgeber*innenmodell die aktuell weiteste Form der Emanzipation.
       Ich persönlich halte den AAPA für die Speerspitze der Behindertenbewegung
       in Berlin, in Deutschland und auch in einem großen Teil der Welt.“
       
       Sabrina Ingerl, seit fünf Jahren persönliche Assistentin im
       Arbeitgeber*innenmodell, ist durch die Mahnwache auf den Arbeitskampf und
       die Tarifkommission aufmerksam geworden. Die „Ignoranzhaltung des Senats“
       mache sie fassungslos. „Wir sind nicht viele Leute. Wir können nicht
       streiken und wir haben kein Druckmittel.“ Das Dilemma, das viele
       Angestellte im sozialen Bereich kennen: Würden die persönlichen Assistenzen
       streiken, ließen sie die Menschen mit Behinderung allein. Auch Bade sieht
       das so: „Das ist perfide: Wir sind komplett ausgeliefert.“
       
       Deshalb sei der Zusammenhalt unter den Protestierenden umso wichtiger.
       „Eigentlich ist das ja verrückt“, überlegt Bade. „Wo gibt es das denn, dass
       Arbeitgeber*innen für höhere Löhne kämpfen? Normalerweise wollen die
       ja nicht mehr bezahlen und die Arbeitnehmer*innen protestieren.“
       
       Nach sechs Wochen – „Wir konnten nicht mehr“ – endete die Mahnwache mit
       einem Teilerfolg. Sozialsenatorin Kiziltepe und der Senat sprechen jetzt
       auch von den zwölf Millionen Euro Mehrkosten. Ob das den schwarz-roten
       Senat dazu bewegt, den Tarifvertrag doch zu refinanzieren, bleibt
       abzuwarten. Klar ist: Ab Januar 2026 sollen die persönlichen Assistenzen im
       Arbeitgeber*innenmodell nicht mehr nach Entgeltstufe 5, sondern nur
       noch nach Entgeltstufe 3 bezahlt werden. Und damit langfristig noch weniger
       Geld für die gleiche Arbeit verdienen.
       
       6 Aug 2025
       
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