# taz.de -- Journalist über ein schmerzhaftes Gefühl: „Scham ist eine mächtige Waffe“
       
       > Matthias Kreienbrink hat ein Buch geschrieben über das Gefühl der Scham.
       > Hier erzählt er vom Mobbing in der Schule und den Pranger im
       > Sprachgebrauch.
       
 (IMG) Bild: „Manchmal braucht es nicht mal eine andere Person, die eigene Stimme im Kopf reicht“, sagt Autor Matthias Kreienbrink
       
       taz: Herr Kreienbrink, wann haben Sie sich das letzte Mal geschämt? 
       
       Matthias Kreienbrink: Vor ein paar Tagen gab es so einen Moment auf dem
       Fahrrad. Ich fahre leider oft gehetzt und habe eine rote Ampel übersehen.
       Beinahe hätte ich einen Fußgänger umgefahren, der gerade über die Straße
       wollte. Das war knapp. Ich habe mich echt geschämt.
       
       taz: Hat sich der Fußgänger denn beschwert? 
       
       Kreienbrink: Nein, der war total verblüfft. Ich habe dann noch
       „Entschuldigung“ hinterhergerufen. Zum Glück ist nichts passiert. Trotzdem
       ging gleich so ein innerer Monolog los, von wegen: Das war ja peinlich,
       eigentlich machst du so was doch nicht. Manche Regeln gibt es aus gutem
       Grund, zum Beispiel Ampeln. Und es ist auch [1][okay, dass wir uns
       schämen], wenn wir sie nicht beachten und dadurch jemanden gefährden. Das
       hat dann einen Lerneffekt. Das nächste Mal werde ich an der Kreuzung ganz
       sicher auf die Ampel schauen.
       
       taz: Dann war die Scham also gut. 
       
       Kreienbrink: Ja, in dem Fall schon. Oft ist Scham aber auch destruktiv.
       
       taz: Haben Sie ein Beispiel? 
       
       Kreienbrink: Vor ein paar Wochen war ich mit meinen beiden Schwestern in
       der Heimat, in Niedersachsen. Wir haben eine Wanderung gemacht und uns
       abends gegenseitig Fotos geschickt. Auf einem Foto fand ich mich sehr
       unansehnlich. Das war aus einem Winkel aufgenommen, durch den mein Körper
       echt unförmig wirkte. Ich war in meiner Jugend übergewichtig und habe
       gemerkt, dass die Scham von damals immer noch ganz stark in mir drin ist.
       Ich hatte in den zwei, drei Tagen danach immer diesen Reflex, meine
       Kleidung zurechtzuzuppeln, um ja nicht wieder unförmig auszusehen. In dem
       Fall hat mich die Scham nur gehemmt.
       
       taz: Sie haben kürzlich ein Buch über die Scham geschrieben, der Untertitel
       lautet: „Wie ein machtvolles Gefühl unser Leben neu prägt“. Das ist
       erstaunlich. Haben wir in den vergangenen Jahrzehnten nicht viele Zwänge
       hinter uns gelassen und schämen wir uns heute nicht weniger? 
       
       Kreienbrink: Das stimmt. Und es stimmt nicht. Wir haben diese
       Erfolgserzählung aufgebaut, dass wir uns als liberale Gesellschaft immer
       mehr von der Scham befreien. Teilweise ist das richtig. Menschen werden
       heute sicherlich [2][weniger für ihre Körper oder ihr Aussehen beschämt als
       früher]. Und wenn doch, sagen andere öfters etwas dagegen. Auch psychische
       Erkrankungen wurden ein Stück weit enttabuisiert. Es gab echte Fortschritte
       wie die sexuelle Befreiung. Queere Menschen haben eine andere
       Selbstverständlichkeit. Es ist heute viel normaler, dass sich zwei Männer
       auf der Straße küssen.
       
       taz: Klingt doch super. 
       
       Kreienbrink: Gleichzeitig ist die Scham im öffentlichen Diskurs aber so
       machtvoll wie lange nicht. Scham wird als Mittel genutzt, um andere
       Menschen zurechtzuweisen und sich selbst auf der richtigen Seite zu
       verorten. Egal ob es um Fragen der Identität geht, um gendergerechte
       Sprache, um den Klimawandel, um Fragen der Erziehung oder um gute Arbeit:
       Wir reden ganz oft nicht über Inhalte, über die Sache, sondern über die,
       die etwas dazu sagen. Das ist auch verständlich. Die Welt ist komplex, und
       durch das Internet sehen wir diese Komplexität ständig. Kriege,
       Hungersnöte, und immer soll man gleich einen Standpunkt dazu haben. Viele
       legen sich sehr schnell auf eine Meinung fest, sie diskreditieren und
       beschämen andere, die ihre Meinung nicht teilen. Statt zu differenzieren,
       werden Fronten gebildet.
       
       taz: Scham ist zunächst eine physische Reaktion. Was genau passiert, wenn
       wir uns schämen? 
       
       Kreienbrink: Scham ist eine Stressreaktion, der Körper schüttet vor allem
       Adrenalin und Cortisol aus. Der Herzschlag erhöht sich, der Blutdruck
       steigt. Dadurch werden wir in den Fight-or-Flight-Modus versetzt. Wir
       fangen an zu schwitzen, die Gefäße weiten sich. Das ist auch der Grund,
       warum wir rot werden, wenn wir uns schämen.
       
       taz: Was unterscheidet die Scham von der Angst? 
       
       Kreienbrink: Angst und Scham sind oft verschränkt – etwa wenn wir Angst
       davor haben, uns zu schämen. Generell weist uns die [3][Angst aber eher auf
       etwas hin, das passieren könnte], die Scham auf etwas, das passiert ist.
       Wahrscheinlich spielen auch die Spiegelneuronen im Gehirn eine Rolle. Wir
       stellen uns vor, was andere gerade über uns denken, wir wechseln die
       Perspektive. Bei Schamerlebnissen ist vor allem der präfrontale Cortex
       aktiv. Das ist der Teil des Gehirns, der hinter der Stirn sitzt. Er ist
       auch für Empathie zuständig.
       
       taz: Heißt das, empathische Menschen schämen sich leichter? 
       
       Kreienbrink: Das könnte sein. Wenn ich andere Menschen stärker wahrnehme,
       wechsle ich vielleicht auch eher in den Modus: Oh Gott, was denken sie
       gerade über mich?
       
       taz: Scham wird häufig durch etwas ausgelöst, was jemand anderes sagt oder
       schreibt. 
       
       Kreienbrink: Manchmal braucht es nicht mal eine andere Person, die eigene
       Stimme im Kopf reicht, schon schämen wir uns. Aber ja, anders als andere
       Emotionen kann Scham leicht durch einen reinen Sprechakt ausgelöst werden,
       sogar ohne Anlass. Wenn man auf einem öffentlichen Platz auf eine Person
       zuläuft, die man gar nicht kennt, mit dem Finger auf sie zeigt und laut
       ruft: Du solltest dich schämen! Dann schauen alle drumherum, und die
       Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die Person tatsächlich rot wird und sich
       schämt.
       
       taz: Oder sie denkt: Was will der denn? 
       
       Kreienbrink: Vielleicht ist sie verwundert, aber die Scham spielt sicher
       auch eine Rolle, schon weil viele Leute gucken. Man fragt sich dann
       automatisch: Habe ich was falsch gemacht? Es ist viel schwerer, jemandem
       mit Worten Angst zu machen, als jemanden zu beschämen. Wie konntest du das
       tun? Schämst du dich nicht? Das sind alles Sprechakte, die Scham auslösen.
       
       taz: Welche gesellschaftliche Funktion haben solche Sätze? 
       
       Kreienbrink: Menschen werden dadurch herabgesetzt. Sie haben vielleicht
       gegen eine Norm verstoßen, die für eine Gemeinschaft gilt, sie werden
       beschämt und im schlimmsten Fall aus der Gruppe ausgestoßen. Es kommt nicht
       nur zu einer Entfremdung von den anderen, sondern auch von uns selbst. Ich
       wechsle in der Scham die Perspektive, schwebe plötzlich über mir und sehe
       mich, wie andere mich sehen.
       
       taz: Sie schreiben im Buch, Scham sei immer auch ein Angriff auf die
       Person. „Die Schuld sagt uns: Du hast einen Fehler gemacht. Die Scham sagt
       uns: Du bist der Fehler.“ 
       
       Kreienbrink: Beim Schämen wird die eigene Position, das eigene Ich
       entwertet. Deswegen ist Scham auch so unangenehm oder sogar schmerzhaft.
       Sie trifft uns als Menschen und lässt uns verstummen.
       
       taz: Für Sie war die Schule der Ort, an dem Sie sich oft geschämt haben. 
       
       Kreienbrink: Nach der Grundschule wechselte ich auf eine katholische
       Schule. Ich war in der Zeit etwas moppelig. Das Mobbing, wie ich es heute
       nenne, ging gleich nach dem Schulwechsel los, aus Frust habe ich dann noch
       mehr gegessen. Der Klassenraum war im vierten Stock, wenn ich oben ankam,
       war ich am Keuchen und im Sommer verschwitzt. Ich erinnere mich, wie Kinder
       zu mir kamen und sagten, ich sei zu dick. Diese Szenen habe ich noch genau
       im Kopf. Es ist typisch für die Scham, dass sich Erinnerungen bildlich
       einbrennen. Ich bin teils wochenlang nicht zur Schule gegangen, so groß war
       meine Angst, bloßgestellt zu werden. Ich lag abends in meinem Bett und habe
       panisch überlegt, was ich am Morgen meiner Mutter erzähle könnte, weswegen
       ich wieder nicht in die Schule kann.
       
       taz: Ist Ihnen niemand zur Seite gesprungen? 
       
       Kreienbrink: In der Schule? Nein. Die Lehrer haben entweder weggeguckt oder
       sogar mitgemacht. Eine Lehrerin hat mir vor der gesamten Klasse die Arbeit
       zurückgegeben, einen Deutschaufsatz, und gesagt: Das Einzige, was du
       richtig geschrieben hast, ist dein Name. Sie war auch unsere Sportlehrerin.
       Ich hatte wegen meines Übergewichts ein Attest, aber sie hat das nicht
       immer anerkannt. Einmal musste ich vor der versammelten Klasse einen Salto
       vormachen. Das konnte ich natürlich nicht.
       
       taz: Krass. 
       
       Kreienbrink: Ich wurde in der Schule immer schlechter. Ich habe mir Sätze
       zurechtgelegt, die ich hätte sagen können, wenn ich schlagfertig gewesen
       wäre. Aber es ging nicht, ich war sprachlos. Ich saß wie ein Häufchen Elend
       im Klassenraum und habe das über mich ergehen lassen.
       
       taz: Und Ihre Familie? 
       
       Kreienbrink: Ich hatte und habe ein gutes Verhältnis zu meiner Mutter und
       meinen Schwestern. Aber auch vor ihnen habe ich mich geschämt, ich wollte
       nicht darüber sprechen. Wie schlimm das alles für mich war, habe ich erst
       Jahrzehnte später in Worte fassen können.
       
       taz: Ist das Buch Teil der Aufarbeitung? 
       
       Kreienbrink: Sicherlich auch, aber das ging vorher los. Ich habe nach der
       Realschule eine Ausbildung zum Koch gemacht, am Abendgymnasium das Abitur
       nachgeholt und dann studiert, Philologie und Geschichte in Berlin. Später
       habe ich als Journalist Artikel über Übergewicht und Scham geschrieben und
       mich mit vielen Expert*innen und Betroffenen unterhalten, das war
       hilfreich. Schon im Studium habe ich mich mit dem Thema befasst, ich habe
       in der Älteren Deutschen Literatur Texte wie den „Parzival“ nach Scham
       abgesucht. In den höfischen Romanen schämen sich die Menschen sehr
       vehement. Natürlich gab es im Mittelalter andere Normen. Aber die Scham
       zeigte auch damals die Grenzen des gesellschaftlich Akzeptablen auf. Wer
       dagegen verstoßen hat, wurde beschämt und im schlimmsten Fall wortwörtlich
       vom Hof gejagt.
       
       taz: Die Scham gehört zur Geschichte der Menschheit? 
       
       Kreienbrink: Scham gab und gibt es immer. 2018 ist eine Studie erschienen,
       die Scham in verschiedenen Kulturen weltweit untersucht hat. Trotz
       unterschiedlicher Sprachen und Lebensweisen ist die Scham in jeder
       Gemeinschaft mit der Abwertung der sozialen Stellung verbunden. Das ist
       immer gleich. Je nach Zeit und Ort unterscheiden sich allerdings die
       Anlässe, für die sich Menschen schämen. In Japan empfinden es die Leute
       beispielsweise als Schande, nach Hilfe zu fragen. Bei einer
       Bevölkerungsgruppe im Amazonasgebiet tragen die Frauen nur eine Schnur um
       die Körpermitte, sie verdeckt kaum etwas. Aber wenn sie die Schnur ablegen
       sollen, schämen sie sich. Jede Gesellschaft bestimmt für sich, was als
       peinlich gilt.
       
       taz: Früher wurde von staatlichen oder kirchlichen Autoritäten bestimmt,
       für was man sich zu schämen hat. Heute ist das viel diffuser. 
       
       Kreienbrink: Scham ist eine mächtige Waffe, sie kann Hierarchien herstellen
       oder verstärken. Den mittelalterlichen Pranger gibt es nicht mehr, aber wir
       haben ihn immer noch im Sprachgebrauch, und manche der Strukturen können
       wir auf heute übertragen. Wenn die Menschen damals auf dem Dorfplatz
       gedemütigt und ausgestellt wurden, dann funktionierte das nur, weil viele
       zugeschaut haben, weil es eine Öffentlichkeit gab. Die sozialen Medien sind
       auch sehr öffentliche Orte, sehr viele Menschen lesen da mit oder schauen
       zu. Das ist schon mal eine Vorbedingung dafür, dass Beschämung gut
       funktioniert. Die Scham hat sich im Laufe der Zeit von der Obrigkeit
       losgelöst. Anders als auf dem Marktplatz früher ist die Scham im Netz eine
       Waffe, die jeder schwingen kann, es braucht keine gehobene Position mehr.
       
       taz: Die Menschen beschämen sich gegenseitig? 
       
       Kreienbrink: Ja. Das lässt sich auch erklären. Es herrscht in den sozialen
       Medien eine große Kontextlosigkeit, da fällt es leicht, andere zu
       diskreditieren. Wir lesen die Äußerungen von Menschen, wir sehen aber
       nicht, mit welcher Mimik sie das von sich geben, wir wissen auch häufig
       nicht, wer sie überhaupt sind. Dann hat man auch weniger Mitgefühl. Das
       Tempo in den Debatten ist heute zudem unglaublich hoch. Schon zwei Minuten,
       nachdem irgendwas passiert ist, haben sich viele dazu eine Meinung
       gebildet. Es entsteht sehr schnell eine große Eindeutigkeit.
       
       taz: Andererseits bieten gerade soziale Medien die Chance, sich von Scham
       zu befreien, [4][#bodypositivity] ist dafür ein Beispiel. Menschen
       bestärken sich gegenseitig, zu ihren Körpern zu stehen, auch wenn die von
       gängigen Schönheitsnormen abweichen. 
       
       Kreienbrink: Natürlich! Ich bin der Letzte, der die sozialen Medien
       verteufeln will. Es ist toll, dass Menschen im Netz eine Öffentlichkeit und
       eine Sprache finden, um über Dinge zu reden, die sie beschäftigen, über
       Body Positivity, Mental Health, über sexuelle Vorlieben. Sie finden eine
       Community, schaffen Sichtbarkeit. Während die eine Art der Beschämung
       abnimmt, nimmt aber eine andere zu. Ich nenne das die Mikrobeschämungen.
       
       taz: In Anlehnung an Mikroaggressionen? 
       
       Kreienbrink: Genau. Ähnlich wie rassistische Mikroaggressionen sind diese
       Beschämungen nicht besonders offensichtlich, in ihrer Menge sorgen sie
       jedoch für chronische Pein. Ständig werden Menschen in den sozialen Medien
       oder Kommentarspalten auf kleine Fehltritte verwiesen. Das Internet ist
       kein separater Raum, diese Diskursverschiebung gibt es längst auch in
       Zeitungen, in Talkshows, im Parlament. Zum Beispiel, wenn wir über die
       Klimakrise reden. Dann geht es ganz schnell nur um das Würstchenverbot, um
       grüne Irre und oder um Flugscham. Über die eigentlichen Ursachen und
       sinnvolle Maßnahmen dagegen sprechen wir kaum.
       
       taz: Was ist gegen Flugscham einzuwenden? Wenn ein paar Leute weniger ins
       Flugzeug steigen, ist das doch gut. 
       
       Kreienbrink: Das sehe ich anders. Es geht nicht um einzelne Menschen, die
       was Böses tun. Große Firmen verursachen unfassbare Mengen an CO2, das
       müssen wir ändern. Stattdessen reden wir über Taylor Swift, die mit ihrem
       Privatjet von hier nach da geflogen ist.
       
       taz: Reiche sind verantwortlich für einen großen Teil des CO2-Ausstoßes. 
       
       Kreienbrink: Aber die trifft die Flugscham gar nicht, sondern
       wahrscheinlich eher die Leute mit wenig Geld, die nur alle Jubeljahre
       überhaupt Urlaub machen können. Und die sollen sich dann bitte auch noch
       schämen? Ich glaube nicht, dass wir mit der Flugscham die Klimakatastrophe
       lösen. Sie ist nur die einfachste Antwort auf ein sehr komplexes Problem.
       
       taz: Es liegt sicherlich auch an den vielen Krisen, dass der Ton schärfer
       geworden ist. Besonders deutlich war die Frontenbildung während Corona. 
       
       Kreienbrink: Das habe ich mit Befremden beobachtet. Die Pandemie ist in
       ihrer ganzen Komplexität in unsere vier Wände eingebrochen. In den ersten
       Wochen war klar, jede gefestigte Meinung ist unangebracht, dafür wussten
       wir viel zu wenig. Dann konnte man in den sozialen Medien live mitlesen,
       wie sich die Leute nach und nach festgelegt haben auf einen Standpunkt und
       den dann unversöhnlich verteidigt haben. Nach dem Motto: Ich habe recht,
       und alle anderen sind verantwortungslose Arschlöcher, die ihre Mitmenschen
       gefährden und so weiter. Ich war selbst sehr vorsichtig, ich bin drei Mal
       geimpft und habe immer Maske getragen. Aber wie sich manche aufgeschwungen
       haben, andere zu verurteilen, in was für einer beschämenden Sprache, das
       fand ich erschreckend.
       
       taz: Woher kam dieses Bedürfnis? 
       
       Kreienbrink: Ich glaube, das liegt an der Unfähigkeit, Ambiguität
       auszuhalten. Wenn man andere beschämt, verortet man sich selbst auf der
       richtigen Seite, welche auch immer das ist. Die letzten Jahre haben
       gezeigt, dass ein beschämender Diskurs nicht produktiv ist. Das führt zu
       keiner Erkenntnis, nur zu Stillstand. Wir kommen so nicht weiter. Es wäre
       an der Zeit zu sagen: Okay, das funktioniert nicht, vielleicht überlegen
       wir uns jetzt mal was anderes.
       
       taz: Was denn? 
       
       Kreienbrink: Ich würde mir mehr Mut wünschen, Zweifel und Ambivalenzen zu
       benennen. Natürlich bewegen wir uns in einem demokratischen Diskursrahmen,
       bestimmte Grenzen müssen gelten. Aber innerhalb dessen würde ich mir mehr
       Offenheit für andere Positionen wünschen. Mehr Auseinandersetzungen, die um
       die Sache gehen und nicht auf Personen abzielen.
       
       taz: Stattdessen verhalten sich Politiker*innen wie Donald Trump oder
       Abgeordnete der AfD schamlos und werden genau dafür gewählt. Ist das auch
       eine Reaktion auf zu viel Scham im Diskurs? 
       
       Kreienbrink: Das ist sicher nicht der einzige Grund, aber könnte dazu
       beigetragen haben. Wenn ich für meine Meinung die ganze Zeit angebrüllt
       werde, dann gehe ich zu den Leuten, die auch angebrüllt werden, selbst wenn
       ich nicht mit allem übereinstimme, was die so sagen. Was ich verheerend
       finde: Weil die Debatte schon lange so erhitzt ist, fällt jetzt viel
       weniger auf, was für krasse Sachen die AfD sagt und tut. Die Empörung hat
       sich abgenutzt.
       
       taz: Die Frage ist, wie wir es schaffen, wieder besser miteinander zu
       reden. 
       
       Kreienbrink: Darauf gibt es keine einfache Antwort. Ein Ansatzpunkt wäre,
       die sozialen Medien zu regulieren. Mit Hass und beschämenden Posts
       generiert man bislang die meisten Klicks. Vielleicht brauchen wir
       öffentlich-rechtliche soziale Medien. Ich glaube aber, die stärkste Waffe
       gegen die Polarisierung ist der Zweifel. Wir alle können mal irren. Wir
       sollten nachsichtiger sein, mit anderen und mit uns selbst.
       
       taz: Sie haben sich lange intensiv mit der Scham auseinandergesetzt. Können
       Sie sie heute besser steuern? 
       
       Kreienbrink: Ich habe sicher Antennen entwickelt für schamvolle Momente und
       nehme sie viel bewusster wahr. Aber ob ich sie besser im Griff habe? Ich
       würde sagen, im Gegenteil. Ich lasse die Scham zu. Wenn ich merke, ich
       schäme mich gerade, dann sage ich mir: Okay, das ist jetzt so. Dieses: Ich
       bin doch ein emanzipierter queerer Mann, wieso schäme ich mich denn jetzt
       für meinen Körper? Das macht es nur schlimmer. Ich schäme mich nicht mehr
       für die Scham.
       
       27 Jul 2025
       
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