# taz.de -- Die Malerei der New Yorkerin Amy Sillman: Die Amateurfunkerin
       
       > US-Künstlerin Amy Sillman holt mit ihren ungebändigten Formen und Farben
       > Gegenwart ins Ludwig Forum Aachen und sprengt die Sammlung des Hauses.
       
 (IMG) Bild: Amy Sillman umzirkelt Igor Obrosov, Gerhard Richter, Gottfried Helnwein und Roy Lichtenstein (v.l.n.r.) in der Schau „Oh, Clock!“
       
       Aachen taz | Malerei, vor allem wenn sie abstrakt wird, fordert Sprache
       heraus. Wie lassen sich diese sprudelnden, unfertigen Formen, Figuren und
       Farben begrifflich fassen, mit denen die US-Künstlerin Amy Sillman die
       gesamten Säle des Ludwig Forum Aachen flutet?
       
       Wie Sillman einen türkisfarbenen – ja was? – Balken auf eine Wand legt, die
       sie quer in die einstige Fabrikhalle im Bauhausstil der 1920er Jahre
       stellt, aus der auch einmal täglich rund 10.000 Schirme in die ganze Welt
       verschifft wurden. Im reinen Farbton sauber aufgetragen, so perfekt und
       industriell wie hier einst industriell Regenschirme fabriziert wurden,
       wellt sich die eine Seite des Balkens hinter ein Gemälde.
       
       Dieses ist gänzlich in das gleiche Türkis getaucht, auf dessen Leinwand in
       melancholischer Sachlichkeit eine strickende Frau an einem Tisch abgebildet
       ist, wohl darauf wartend, dass sich jemand an das volle Gedeck neben ihr
       setzt. „Veranda“ heißt das Bild von 1983 des belarussischen Künstlers Ivan
       Lubennikov.
       
       ## Pop Art, Fluxus und Osteuropäische Kunst
       
       Eine Größe im sowjetischen und postsowjetischen Moskau, gesammelt von der
       staatlichen Tretjakow-Galerie – und auch vom rheinischen Sammlerpaar Irene
       und Peter Ludwig. Das hatte neben Pop Art, Expressionismus und [1][Fluxus
       aus dem Westen] auch Kunst aus dem ehemaligen Ostblock nach Aachen geholt.
       
       Sillman hielt sich lange in den Depots des [2][Ludwig Forums] auf, holte
       heraus, was ihr gefiel – das tat sie übrigens schon einmal im MoMA New York
       und kürzlich im Kunstmuseum Bern – und versammelt nun für ihre Schau „Oh,
       Clock!“ die kunsthistorisch ziemlich wilde Auswahl von 80 Werken vor einer
       selbst angefertigten, mindestens ebenso wilden Kulisse.
       
       Neben jenen türkisen Balken, zum Beispiel, pinselte sie eine monumentale
       Hand, deren Zeigefinger gleichsam eine glühende Zigarette ist. Daneben noch
       flüchtige Striche, dreckig gepinselte Kurven, klare, monochrome Flächen, in
       fein abgestuften Blau- und Orangetönen. Etwas sieht aus wie ein Metallrohr,
       oder ist es doch Zigarettenasche? Dann das nächste Stück aus der Aachener
       Sammlung: Andy Warhols „Saturday’s Popeye“.
       
       ## Popeyes Spinat
       
       Den Spinat hat die Comicfigur Popeye darauf schon verschluckt, man sieht
       nur in Warhol'scher Wiederholung den kugelig angespannten Oberarmmuskel,
       bereit zum Schlag. Es könnte sein, dass Sillman hier einen klassischen
       Antagonismus aufmacht, eine US-amerikanische Alltags- und Medienkultur der
       künstlerischen Zurückgezogenheit in der Sowjetunion gegenüberstellt.
       
       Doch um solch Deutungen geht es nicht. Die 70-jährige Sillman bringt hier
       vielmehr einfach alles zum Schwingen, lässt Popeyes Spinat über die
       politischen Regime, Genres und Zeiten hinweg auf Lubennikovs unangetasteten
       Teller springen. Ihre Kunst sei wie eine „Polaroidkamera, die Licht zutage
       treten lässt“, kann man sie aus dem Katalog zur Ausstellung zitieren, oder
       wie ein Piratensender, der Schallwellen aus der Umgebung auf die richtige
       Frequenz bringt, sie sei als Künstlerin eine Art „Amateurfunkerin“.
       
       Solch Metaphern braucht man, um sich dieser Malerei auch begrifflich zu
       nähern. Amy Sillman nutzt davon viele, vergleicht in ihren Texten, die sie
       auch in eigenen Fanzines veröffentlicht, etwa den Abstrakten
       Expressionismus mit Hausbesetzungen oder das Malen damit, in New York City
       einen Parkplatz zu finden: „endlos, improvisiert und quälend“.
       
       ## Eher zufällig
       
       Eher zufällig sei sie im New York der 1970er zur Malerei gekommen. Und so
       richtig Malerei ist es auch nicht, was man in Aachen sieht. Obwohl bei ihr
       so viel von den karikaturenhaften Figuren eines [3][Philip Guston], von der
       Flächigkeit einer Etel Adnan, von dem Händischen eines Robert Rauschenberg
       zu finden ist, bleiben ihre Leinwände und Blätter doch immer skizzenhaft,
       unfertig, wie Notizen. Und von denen legt sie große Reihen an und füllt
       ganze Wände.
       
       Wie bei einem Comicstrip kann man dann über mehrere Blätter hinweg der
       Genese einer rosafarbenen Strichansammlung hin zu einer sich krümmenden
       Frauenfigur zusehen, schält sich aus der abstrakten Form eine konkrete
       Gestalt heraus. Woanders verfolgt man ein kotzendes Männchen. Spontan nach
       Trumps ersten Wahlsieg 2016 habe sie es gemalt. Sillman formuliert durch
       ihre Malerei Gegenwart, ein Hier – und das ist auch ziemlich witzig.
       
       Und wann sind ihre unfertigen Werke öffentlich zeigbar? [4][Edgar Degas]
       ließ seine Gemälde regelmäßig von seinen Sammlern zurückholen, weil er sie
       als noch verbesserungswürdig empfand. Wenn sich ein Bild irgendwie „auf
       eine nächste Ebene hin entwickelt“, sagt sie. Dahinter stecke auch ein
       Risiko. Das Unfertige zu zeigen, macht schließlich auch angreifbar.
       
       Heute, wo wir in den digitalen Medien aber so sehr mit perfekten, genormten
       Bildern und eindeutigen visuellen Botschaften umgeben sind, kriegt Amy
       Sillmans unvollendete Malerei dann etwas tief Widerspenstiges. Und darin
       wird ihre Kunst dann auch politisch.
       
       27 Jun 2025
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Fluxuskuenstlerin-Alison-Knowles/!6037945
 (DIR) [2] /Wiederentdeckte-Kuenstlerin-Katalin-Ladik/!5997946
 (DIR) [3] /Philip-Guston-in-London/!5977829
 (DIR) [4] /Victoria-and-Albert-Museum-in-London/!5463915
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Sophie Jung
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Ausstellung
 (DIR) Aachen
 (DIR) Pop Art
 (DIR) Abstrakte Malerei
 (DIR) Zeitgenössische Malerei
 (DIR) Musikkultur
 (DIR) New York
 (DIR) Fluxus
 (DIR) taz Plan
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Berliner Kunstraum CCA im Portrait: Ein Ort, der bleibt
       
       Das von Fabian Schöneich gegründete CCA Berlin hat sich zum progressiven
       Kunstort entwickelt. Nun ist eine Ausstellung für den Turner Prize
       nominiert.
       
 (DIR) Performancekünstler John Giorno: Das bedingungslose Gefühl im Zentrum
       
       Was macht seine flüchtige Spoken-Word-Kunst wieder aktuell? Der New Yorker
       Warhol-Muse John Giorno gelten gerade eine Ausstellung und
       Buchneuerscheinung.
       
 (DIR) Fluxuskünstlerin Alison Knowles: Zum Glück darf man klauen
       
       Erfrischend überschreitet New Yorkerin Alison Knowles die Genres der Künste
       und ist auch sonst nah am Alltag, zeigt ihre Retrospektive in Wiesbaden.
       
 (DIR) Ausstellungsempfehlungen für Berlin: Unbekannten Formen auf der Spur
       
       Kirsi Mikkolas Malerei verschafft sich bei Nagel Draxler Raum. Gleich in
       zwei Galerien zu sehen ist Amy Sillman: bei Hetzler und Capitain Petzel.