# taz.de -- Autobauer in der Krise: Wie die Volksrepublik Volkswagen abhängte
       
       > Mein Vater hat das China-Geschäft von VW mit aufgebaut. Damals waren die
       > deutschen Autobauer Vorbild für China. Nun kehrt sich das Verhältnis um.
       
 (IMG) Bild: Wenpo Lee und Sohn Felix Lee im Juni 2025 in einem VW T-Roc. Volkswagen rockt den chinesischen Markt aber längst nicht mehr
       
       Er kommt. Tagelang ist in Peking spekuliert worden, ob Martin Winterkorn
       zur Automesse persönlich erscheinen wird. Nun macht die Nachricht sofort
       die Runde: Der VW-Chef reist an. Eine Polizeieskorte geleitet ihn im April
       2008 durch die Stadt, darauf hat er bestanden. Ganze Straßenzüge vom
       Flughafen in die Pekinger Innenstadt und raus zum Messegelände werden für
       seinen Konvoi abgeriegelt. Für Winterkorn rollen die Veranstalter mehr rote
       Teppiche aus als für den chinesischen Parteichef.
       
       Auf der Messe betritt Winterkorn in dunklem Anzug unter lautem Applaus die
       Bühne. Er präsentiert „eine Weltneuheit“, wie er sagt, die
       Stufenheck-Limousine Lavida, die nur für den chinesischen Markt vorgesehen
       ist. Während in Deutschland die Forderung laut wird, die anstehenden
       Olympischen Sommerspiele in Peking wegen des brutalen Vorgehens gegen
       Tibeter zu boykottieren, kündigt Winterkorn an, die Spiele mit rund 1.000
       Fahrzeugen von VW und Audi zu sponsern.
       
       Sein Aufenthalt wird zum Spektakel. Zwanzig Chauffeure zählen zu seiner
       Entourage und harren bis tief in die Nacht aus, wenn der Chef noch durch
       die Bars [1][im angesagten Pekinger Viertel Sanlitun] zieht.
       
       Unter den deutschen Automanagern in China herrscht in dieser Zeit eine
       Atmosphäre großer Selbstherrlichkeit. Sie feiern ein rauschendes Fest nach
       dem anderen, so glänzend laufen die Geschäfte. Zehntausende Deutsche –
       darunter viele VW-Mitarbeiter – leben, arbeiten und genießen das Leben in
       den neu entstandenen Szenevierteln von Peking und Shanghai. Die Gewinne
       sprudeln, und manch ein Manager wird mit Boni belohnt, die dem doppelten
       Jahresgehalt entsprechen.
       
       Das war 2008. Heute ist die große Party vorbei. VW steckt tief in der
       Krise, [2][auch wegen des China-Geschäfts]. In den Nullerjahren hatte
       Volkswagen dort einen Marktanteil von zeitweilig über 50 Prozent, er ist
       inzwischen auf unter 12 Prozent gefallen. Die Deutschen spielen auf dem
       größten Automarkt der Welt nur noch eine Nebenrolle. Inzwischen müssen sie
       froh sein, wenn sie in chinesischen Automagazinen überhaupt noch erwähnt
       werden. Dabei ist kein Auslandsmarkt für deutsche Automobilhersteller
       wichtiger als China, mehr als eine Million deutsche Arbeitsplätze hängen an
       diesem Industriezweig.
       
       Wo zuvor Selbstherrlichkeit herrschte, regiert nun Angst. Früher haben die
       Chinesen von Deutschen gelernt, was es heißt, erfolgreich Autos zu bauen.
       Nun könnte sich dieses Verhältnis umkehren.
       
       Ich bin von 2010 bis 2019 China-Korrespondent verschiedener Medien, auch
       der taz. Wie alle deutschen Korrespondenten beobachte ich den
       chinesischen Automarkt. Was Technik und Design betrifft, kann die
       chinesische Konkurrenz mit den deutschen Autobauern zu keinem Zeitpunkt
       mithalten. Allerdings schauen wir nur auf den Verbrenner, nicht auf das
       Elektrosegment. Da gibt es damals schon Anzeichen, dass sich etwas
       verändert.
       
       Der chinesische Automobilmarkt hat nicht nur beruflich mit mir zu tun,
       sondern auch persönlich. Ich bin wahrlich kein Autofan. Aber ich bin in
       Wolfsburg geboren und habe einen Großteil meiner Kindheit und Jugend in der
       Volkswagenstadt verbracht. Vor allem ist die Geschichte von VW in China eng
       mit meiner Familie verbunden. [3][Denn es war mein Vater, der einst
       Volkswagen nach China brachte].
       
       ## Wie alles begann
       
       An einem Morgen in Wolfsburg, im April 1978. Mein Vater ist
       Forschungsingenieur bei Volkswagen, als plötzlich das Telefon klingelt.
       „Wenpo“, so heißt mein Vater, „sprichst du Chinesisch?“, fragt ihn der
       Leiter der Öffentlichkeitsabteilung. Vor dem Werkstor stehe eine Gruppe
       Chinesen und einer behaupte, er sei der Maschinenbauminister.
       
       Mein Vater, in jungen Jahren vor Maos Kommunisten [4][nach Taiwan
       geflohen], ist zu der Zeit der einzige Chinese im VW-Werk in Wolfsburg. Er
       glaubt in jenem Moment nicht, dass es sich bei der Gruppe um Chinesen aus
       der Volksrepublik handelt, das Land ist abgeschottet, vergleichbar mit dem
       heutigen Nordkorea. Als er die Delegation vor dem Werktor sieht, erkennt er
       auf einen Blick: Doch, das sind Chinesen. Etwas verloren stehen sie in
       ihrer Einheitskleidung da. Sie haben nicht einmal einen Dolmetscher dabei –
       und sind dankbar, dass sie sich mit meinem Vater unterhalten können.
       
       Diese erste Begegnung ist dem Zufall geschuldet, verändert aber alles.
       Eigentlich hatte sich der chinesische Minister die Nutzfahrzeugsparte von
       Mercedes anschauen wollen. Als er in Stuttgart mit dem Taxi unterwegs ist,
       sieht er den T2, im Volksmund auch bekannt als Bulli, mit dem großen
       VW-Zeichen darauf. Der Taxifahrer erzählt, dass dieses Fahrzeug aus
       Wolfsburg komme. Prompt setzt sich die Gruppe in den Zug und steht einige
       Stunden später vor dem Werktor von VW.
       
       Noch am selben Abend lädt Produktionschef Günter Hartwich die Gäste ins
       offizielle Gästehaus des Konzerns ein. Erst nach dem Essen am Kamin kommen
       sie mit Hilfe meines Vaters ins Gespräch. Die Chinesen wollen sich
       Nutzfahrzeuge anschauen, doch in Wolfsburg werden nur Pkws gebaut, an denen
       ist der chinesische Minister nicht interessiert. Zu teuer für sein völlig
       verarmtes Land, sagt er. Es gebe in China nicht einmal ausreichend
       asphaltierte Straßen, geschweige denn Parkplätze. Produktionschef Hartwich
       wittert eine Chance und überzeugt den Minister, sich die Pkw-Produktion von
       VW in Wolfsburg dennoch anzusehen – mit dem Argument, dass sich auch im
       Nachkriegsdeutschland niemand vorstellen konnte, wie wichtig Autos für den
       wirtschaftlichen Aufschwung werden würden. Der chinesische Minister lässt
       sich darauf ein. So beginnen die Verhandlungen.
       
       Bei einem der nächsten Besuche ist es ein Mitarbeiter der
       VW-Finanzabteilung, der sich skeptisch zeigt. Sie haben sich in der
       Abteilung Chinas wirtschaftliche Kennzahlen angeschaut. Der
       Durchschnittslohn eines städtischen Angestellten liegt damals bei
       umgerechnet 100 D-Mark im Jahr – nach heutigen Maßstäben wären das 100
       Euro. Selbst wenn jemand sein Leben lang arbeite, ohne zu essen und Miete
       zu zahlen, könne er sich keinen VW leisten, rechnet er vor. Ob China sich
       überhaupt Autos leisten könne, geschweige denn eine ganze Fabrik? Ohne die
       Frage zu übersetzen, antwortet ihm mein Vater. China sei zwar arm, aber
       zugleich sehr groß. Allein für den Taximarkt und die Parteikader würde sich
       für VW der Bau eines Werks schon lohnen.
       
       Der Finanzvorstand gibt schließlich grünes Licht. Und so nimmt die
       deutsch-chinesische Zusammenarbeit ihren Lauf, auch wenn es noch Jahre
       dauert, bis 1984 der erste VW Santana in Shanghai vom Band läuft. An
       Verkäufe an Privatkunden ist zunächst tatsächlich nicht zu denken. Die
       Kalkulation meines Vaters geht aber auf. Ab Mitte der 1980er prägen
       rot-gelbe Santanas das Straßenbild von Peking und Shanghai. Der gesamte
       Taximarkt ist komplett in der Hand von VW, ebenso die Regierungsfahrzeuge.
       Das schafft eine Verbundenheit, die bei der älteren Generation bis heute
       anhält. Wie einst der Käfer in der Bundesrepublik für viele das erste Auto
       war, entwickelt sich auch der Santana im Bewusstsein der Chinesen zu einem
       „Volks“-Wagen.
       
       Als ich den Santana zum ersten Mal auf Shanghais Straßen sehe, wundere ich
       mich. Warum ausgerechnet dieses altbackene Auto? In Wolfsburg fährt es kaum
       jemand, andere Modelle kommen mir moderner vor. VW wollte eigentlich auch
       in China den Golf verkaufen. Aber die chinesische Seite mag ihn nicht. Wenn
       ein Auto, dann ein richtiges Auto, finden sie. Und ein richtiges Auto ist
       für sie eins mit Stufenheck – auch wenn in den Kofferraum weniger
       hineinpasst als beim Golf.
       
       Mein Vater wird in den darauffolgenden Jahren zum Mittler zwischen den
       Kulturen. Er hilft, deutsche Standards – etwa beim Patentrecht – nach China
       zu bringen. Das erleichtert später auch anderen deutschen Firmen den
       Markteintritt. Die Eröffnung des VW-Werks markiert den Beginn der engen
       deutsch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen – es ist das erste europäische
       Großunternehmen, das in China einen Produktionsstandort aufbaut. Es folgen
       rasch auch deutsche Zulieferer, die wiederum weitere deutsche Unternehmen
       anlocken.
       
       ## Aufbruchstimmung
       
       Als Generalbevollmächtigter des Volkswagen-Konzerns wird mein Vater ab
       Mitte der 1980er-Jahre nach Peking entsandt, um dort die Verhandlungen mit
       der chinesischen Führung über den Bau weiterer Werke voranzutreiben. In
       dieser Zeit wohne auch ich für einige Jahre dort. Im Vergleich zu meinem
       Leben in Wolfsburg erlebe ich das Land als arm und rückständig. Die
       Behausungen vieler Chinesen sind eng und karg eingerichtet. Reis,
       Schweinefleisch und Klopapier werden rationiert, man bekommt sie nur gegen
       Lebensmittelkarten, die der Staat verteilt.
       
       Und dennoch liegt Aufbruch in der Luft. Unter Mao waren private
       wirtschaftliche Aktivitäten verpönt, sie spielten kaum eine Rolle. Nun
       werden die Geschäfte wieder mehr und bunter. Auf den Straßen gibt es
       Marktstände und Garküchen. Und auch die Menschen tragen immer seltener
       Einheitskleidung – dunkelblaue, graue und olivgrüne Arbeiteroveralls. Die
       ersten Cafés entstehen, in denen Rockmusik läuft und Nescafé angeboten
       wird. Überall spürt man Optimismus. Die Zuversicht ist groß, dass die
       Zeiten bessere werden.
       
       Das erste Büro von VW richtet mein Vater im Peking-Hotel ein. Die Betten
       werden durch Schreibtische ausgetauscht, das restliche Hotelmobiliar
       bleibt drin. Bürogebäude nach westlichem Maßstab, also mit
       Telefonanschlüssen und Faxgeräten, gibt es noch nicht.
       
       Ich bin 10 Jahre alt und gehe auf die Schule der deutschen Botschaft. Als
       ich 1985 dort ankomme, zählt die Schulgemeinschaft weniger als 30 Schüler,
       die meisten von ihnen Kinder von Diplomaten. Unsere Klassenzimmer befinden
       sich in einer Diplomaten-Wohnung. Meine Klasse ist mit 8 Schülern die
       größte. Wir werden im Wohnzimmer unterrichtet.
       
       Wir führen zu dieser Zeit ein privilegiertes Leben. Es gibt ein spezielles
       Geschäft nur für Ausländer, erste westliche Hotels und Restaurants, die
       Chinesen nur in Ausnahmefällen betreten dürfen. Die Regierung heißt
       westliche Ausländer ausdrücklich willkommen, schließlich sollen sie zum
       wirtschaftlichen Aufbau des Landes beitragen. Ich erinnere mich, dass mein
       Vater regelmäßig von hohen Regierungsbeamten eingeladen wird, auch wir als
       Familie. Mir sagen die Namen erst Jahrzehnte später etwas, als mir klar
       wird, dass aus den Gastgebern von damals Minister und Parteichefs wurden.
       
       Nach drei Jahren in Peking kehren wir nach Wolfsburg zurück. Die Zahl der
       Schüler auf der Deutschen Schule Peking ist in dieser Zeit auf über 100
       angewachsen, die Klassen werden nun auf zwei Wohnungen verteilt. Viele
       meiner Mitschüler sind nicht mehr Kinder von Diplomaten, sondern deutscher
       Geschäftsleute – und die deutsche Community wächst stetig weiter.
       
       Viele westliche Länder entdecken China in den 1980er-Jahren für sich.
       Investoren aus Japan, Taiwan, Hongkong oder den USA sehen die Volksrepublik
       in erster Linie als Werkbank für günstige Arbeitskräfte zur Produktion von
       Turnschuhen, Haushaltswaren und Elektronik. Die deutschen Unternehmen gehen
       einen anderen Weg. Sie sind für China mehr als nur ein Handelspartner, sie
       prägen den Aufstieg des Landes zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt
       maßgeblich mit. Denn sie bringen genau jene Industrien ins Land, die China
       benötigt: chemische Vorprodukte wie zum Beispiel Kunststoffe sowie
       Maschinen und Autos.
       
       Dabei verfolgt die kommunistische Führung unter ihrem Machthaber Deng
       Xiaoping von Beginn ihrer Öffnungspolitik Ende der 1970er-Jahre an ein
       Ziel: das Land wirtschaftlich zu modernisieren und von westlichem Know-how
       zu profitieren, ohne dabei die Kontrolle über zentrale Bereiche der
       Wirtschaft aus der Hand zu geben. Dengs Strategie besteht darin,
       ausländisches Kapital und Expertise ins Land zu holen. Jedes ausländische
       Unternehmen muss aber in Form eines Joint Ventures mit einem chinesischen
       Staatsunternehmen als Partner zusammenarbeiten. So will Deng
       sicherstellen, dass Technologie und Managementmethoden möglichst schnell
       auf chinesische Unternehmen übergehen. Der Wissenstransfer ist also
       explizit Teil der Bedingungen. Die chinesische Führung lässt ihre Ziele
       zwar nicht offiziell verlauten, aber es ist ein offenes Geheimnis, dass man
       die ausländischen Unternehmen, sobald sie ihren Zweck erfüllt haben, wieder
       loswerden will.
       
       Für die Deutschen entwickelt sich China in den Nullerjahren zum wichtigsten
       Absatzmarkt außerhalb Europas. Sie reisen als Lehrmeister ins Reich der
       Mitte und genießen sichtlich ihre Rolle als Überlegene. Nicht nur Martin
       Winterkorn, auch andere von VW vor und nach ihm. Die Chinesen begegnen den
       Deutschen mit Dankbarkeit und Respekt. „Made in Germany“ gilt als begehrtes
       Qualitätssiegel, deutsche Produkte erfreuen sich höchster Wertschätzung –
       allen voran deutsche Autos, die als Inbegriff technischer Perfektion
       gelten.
       
       VW steht an der Spitze dieser Entwicklung. Erst der Santana, dann der
       Jetta, der City Golf, der Polo, der Lavida und die eigens für China
       verlängerten Karosserien des Audi 100 – die Fahrzeuge des VW-Konzerns
       prägen das Straßenbild chinesischer Städte. Mein Vater hat daran seinen
       Anteil, zwei VW-Werke entstehen in seiner Zeit in China, ein drittes wird
       geplant. 1997 geht er in den Ruhestand und scheidet offiziell aus dem
       Unternehmen aus, bleibt aber für einige Jahre beratend für VW und andere
       deutsche und chinesische Unternehmer tätig, zunächst in Peking, ab 2000
       dann in Shanghai.
       
       Gewissermaßen hat mein Vater mit die Grundlage für den Boom gelegt, der in
       den Jahren danach erst richtig losgeht. Bis 2019 ist Volkswagen an 39
       Werken in der Volksrepublik beteiligt, der Marktanteil liegt da bei 14,4
       Prozent. Er sinkt nur, weil auch andere westliche Autobauer in China
       investieren, die Stückzahl steigt aber in rasantem Tempo weiter – bis ab
       2012 ungefähr jedes dritte Auto von VW in China verkauft wird, bei BMW und
       Mercedes-Benz ist es ebenso. Von 2014 bis 2019 überweisen die VW-Werke in
       China jährlich zwischen vier und acht Milliarden Euro an die deutschen
       Zentralen von Audi und Volkswagen – Ingolstadt und Wolfsburg entwickeln
       sich zu den reichsten Städten der Bundesrepublik.
       
       „Mit einer solchen Größenordnung haben wir nie gerechnet“, sagt mein Vater
       rückblickend. Es ist eines der vielen Gespräche am Esstisch in seiner
       Wohnung in Berlin, die ich in jüngerer Zeit öfter mit ihm habe, seit VW in
       der Krise steckt und das China-Geschäft ganz besonders. Hat es keine
       Warnungen vor zu großen Abhängigkeiten gegeben?“, frage ich ihn. „Doch“,
       sagt er. Die habe es gegeben. Aber niemand habe sie hören wollen. „Wer
       will schon der Miesepeter sein?“
       
       Als ich 2010 als Korrespondent nach Peking ziehe, erinnert nichts mehr an
       die Armut, die ich als Zehnjähriger in den 1980er-Jahren noch gesehen habe.
       Peking, Shanghai und die vielen anderen Metropolen haben Skylines, die
       sich mit denen von New York und Chicago messen können. Garküchen sind
       hochpreisigen Restaurants gewichen. In den Shopping-Malls von Shanghai
       finden sich Flagship Stores französischer und italienischer Luxusmarken.
       
       Die größte Veränderung im Straßenbild aber betrifft den Verkehr. In meiner
       Kindheit waren in Peking Millionen Menschen auf zwei Rädern unterwegs.
       Statt Klingelgeräuschen und dem gleichmäßigen Fluss der Radfahrer
       dominieren nun Motorlärm und dichter Autoverkehr das Stadtbild. Die
       Fahrradstadt von einst ist zu einem automobilen Moloch geworden.
       
       2010 leben Zehntausende Deutsche in Peking. Nicht nur in den großen
       Städten, auch in den aufstrebenden Industrieparks der Provinzen bilden sie
       rasch die mit Abstand größte Gruppe westlicher Ausländer. Für ihre
       Bedürfnisse entstehen eigene Schulen, Geschäfte und Biergärten – kleine
       Inseln deutscher Lebensart inmitten des chinesischen Aufstiegs.
       
       Die Deutschen verdienen meist gut und treten nicht selten arrogant auf,
       besonders die deutschen Autobauer. Chinesische Mitarbeiter werden
       herumkommandiert, die Ehefrauen der meist männlichen Manager beklagen sich
       lautstark über die angebliche Rückständigkeit ihrer chinesischen
       Hausangestellten. Ich erinnere mich an einen Restaurantbesuch in Peking. Am
       Nebentisch sitzt ein deutsches Ehepaar. Weil die Angestellte etwas
       serviert, was das Ehepaar nicht bestellt hat, brüllt die Frau sie an, wie
       sie es in Deutschland in der Öffentlichkeit sicher nie wagen würde. Die
       junge Angestellte erträgt den Wutanfall mit gesenktem Kopf und ohne
       Widerworte.
       
       ## Es tut sich was
       
       Mit der Zeit verändert sich das Verhältnis von Deutschen und Chinesen. Die
       chinesischen Mitarbeiter verlangen Jahr für Jahr höhere Löhne. Mit dem
       Wohlstand wächst auch ihr Selbstbewusstsein. Immer deutlicher wird, dass
       auch die chinesische Führung sich mit der Situation nicht zufriedengibt.
       China wollte nie der ewige Schüler sein. Das ursprüngliche Ziel, von
       ausländischen Unternehmen zu lernen, um sie später durch eine starke
       heimische Industrie zu ersetzen, gelingt in einzelnen Branchen, etwa in der
       Textilindustrie, in der Elektronik oder in der Solarindustrie. Beim
       klassischen Verbrennungsmotor allerdings tun sich chinesische Unternehmen
       schwer, die deutschen Autobauer sind zu überlegen.
       
       Es ist schließlich Wan Gang, ein stets freundlich blickender und lächelnder
       Mittfünfziger, der als chinesischer Minister für Wissenschaft und
       Technologie eine neue Richtung vorgibt. Wan Gang hat in
       Clausthal-Zellerfeld in Niedersachsen studiert und mehrere Jahre bei Audi
       gearbeitet, er spricht sehr gut Deutsch. Im Frühjahr 2010 trifft sich die
       Nationale Reform- und Planungskommission, die im kommunistischen Apparat
       eine wichtige Rolle spielt. Bei der Sitzung teilt Wan Gang den Anwesenden
       mit, China solle nicht mehr länger von deutschen Herstellern abhängig sein.
       Er kündigt eine neue Antriebstechnologie an: den Elektromotor.
       
       Genau genommen ist der Elektromotor keine neue Erfindung, die Technik ist
       sogar älter als der Verbrennungsmotor. Rückblickend wird man es wohl als
       eine der größten industriepolitischen Fehlentwicklungen betrachten, dass
       über 150 Jahre hinweg beim Automobil eine umweltschädliche Technologie
       bevorzugt wurde, anstatt den Elektromotor weiterzuentwickeln. Wie anders
       hätte sich die Geschichte der Mobilität entfalten können, hätte man schon
       früher auf diese saubere und effiziente Antriebstechnik vertraut?
       
       Wan Gang tut genau das. Schon früh entwickelt er eine umfassende
       Batteriestrategie, die nicht nur eine gezielte Förderung chinesischer
       Batteriehersteller wie BYD oder CATL vorsieht, sondern China auch den
       Zugang zu Rohstoffen in Afrika und Südamerika sichert.
       
       Ich erlebe Wan Gang zu jener Zeit bei einer Veranstaltung mit deutschen und
       chinesischen Automanagern in Peking. Auch hier erzählt er, wie er sich die
       neue Ära der Elektromobilität vorstellt. Für diese Vision wird er
       belächelt, von Deutschen und Chinesen. Zwar boomen Elektromotoren
       seinerzeit, allerdings nur in Mopeds und Treträdern. Dass ganze Limousinen
       mit Batterien betrieben werden sollen, erscheint auch vielen Chinesen kaum
       vorstellbar. Wan Gang lässt sich nicht beirren, die vorgetragenen Bedenken
       lächelt er freundlich weg.
       
       In den folgenden Jahren bekommt die Elektromobilität mehrere Schübe.
       [5][Elon Musk entdeckt China.] Mit dem Eintritt Teslas auf dem chinesischen
       Markt ab 2013 und dem Bau einer Gigafactory ab 2018 in Shanghai wandelt
       sich Tesla in China vom Nischenanbieter zum Massenhersteller und wird in
       kurzer Zeit zum Maßstab für Elektromobilität.
       
       Die deutschen Autobauer haben diese Entwicklung nicht kommen sehen. Ich
       erinnere mich, wie VW-Vorstandschef Matthias Müller im Oktober 2017 über
       die US-Konkurrenz – ohne Tesla beim Namen zu nennen – sagt: „Es gibt
       Unternehmen, die kaum 80.000 Autos im Jahr verkaufen. Dann gibt es Firmen
       wie Volkswagen mit 11 Millionen Einheiten.“ Und weiter: „Wir sollten nicht
       Äpfeln mit Birnen vergleichen.“
       
       Musks Erfolg zeigt wiederum den Chinesen, dass auch ein Newcomer es
       schaffen kann, den traditionellen Autoriesen Konkurrenz zu machen. Warum
       dann nicht auch sie? Im ganzen Land entstehen bald Hunderte chinesische
       Start-ups, die Elektroautos bauen.
       
       Für einen weiteren Schub sorgen die Chinesen selbst mit einer Lockerung
       bestehender Regeln. Wer in den von Smog und Staus geplagten Metropolen
       Peking und Shanghai ein Nummernschild haben will, erhält sie bis dahin nur
       im Losverfahren. So soll die Zahl der Autos begrenzt werden. Die Chance,
       ein Nummernschild zu ergattern, liegt bei 1 zu 80. Nun gibt es eine
       Ausnahme: Elektroautos werden mit der neuen Regulierung von der
       Verlosungspflicht befreit.
       
       Die Regierung führt zudem eine Quote ein: Jedes zehnte in China verkaufte
       Auto soll ein sogenanntes New Energy Vehicle sein, also ein Elektroauto
       oder Plug-in-Hybrid. Diese Quote soll Jahr für Jahr sukzessive angehoben
       werden.
       
       Die Klagen sind groß – bei den deutschen, aber auch bei den chinesischen
       Autobauern. Sie klingen genauso, wie sie heute in Deutschland noch immer zu
       hören sind: Die Batterien seien zu leistungsschwach, es gebe viel zu wenig
       Ladestationen. Und überhaupt: Wer wolle schon elektrisch fahren? Die
       chinesische Regierung rudert zurück und lockert die Quote etwas, hält
       grundsätzlich aber an ihrem Kurs fest.
       
       Im Januar 2018 treffe ich gemeinsam mit Kollegen anderer Medien den
       China-Chef von Volkswagen, Jochem Heizmann, in einem Tagungsraum eines
       Pekinger Luxushotels. Dass er sich überhaupt mit Journalisten trifft, ist
       eher selten. Heizmann redet sachlich, auf kritische Nachfragen reagiert er
       gereizt. Heizmann ist in seiner Zeit als Vorstandsmitglied zuständig für
       das China-Geschäft, persönliche Nähe zu China und seine Kultur entwickelt
       er nicht. Anders als seine Mitarbeiter lebt er nicht einmal in Peking,
       sondern fliegt teilweise wöchentlich hin und her. Wir fragen ihn, wie sich
       VW angesichts der zusätzlichen Regularien neu aufstellen werde, der Kurs
       der chinesischen Führung sei ja eindeutig. Die Pläne für E-Autos lägen alle
       in der Schublade, antwortet Heizmann. Aber VW wäre ja schön blöd sie
       herauszuholen, solange Verbrenner sich noch so blendend verkauften.
       
       Im Frühjahr 2019 sehe ich von meiner Wohnung in Peking aus einen Bautrupp
       anrücken. Es dürften um die 100 Bauarbeiter sein. Binnen weniger Stunden
       haben sie mit Presslufthämmern und kleinen Baggern die gesamte Straße
       aufgerissen. Als ich einen Bauarbeiter frage, was hier gemacht wird,
       antwortet er, sie verlegten Fernwärmeleitungen, Glasfaser und Leitungen für
       Ladestationen – gleichzeitig. Fünf Tage später ist die Straße wieder
       zugebuddelt, die alten Bäume stehen wieder, neue Blumen und Sträucher
       werden gepflanzt. Und an jedem Parkplatz steht eine Ladesäule. Nicht nur in
       meiner Straße, im gesamten Stadtteil.
       
       Einige Monate später kehre ich nach Berlin zurück. In den nächsten Jahren
       wird vor meiner Wohnung mehrfach die Straße aufgerissen. Jedes Mal dauert
       es Monate. Fernwärmeanschluss hat meine Wohnung inzwischen, Glasfaser nach
       fast anderthalbjähriger Bauzeit auch. Die Ladestationen lassen immer noch
       auf sich warten.
       
       ## Der Schock
       
       Wegen der Pandemie vergehen Jahre, bis ich wieder nach China reisen kann.
       Erst im April 2023 findet die Automesse in Shanghai wieder statt. Wie viel
       in der Zwischenzeit passiert ist, merke ich erst dort.
       
       In einer der Messehallen drängt sich eine Menschenmenge vor einem Stand.
       Aus den Lautsprechern ertönt sanftes Wellenrauschen. Der chinesische
       Autobauer BYD inszeniert hier seine neue „Ozean“-Reihe: drei
       vollelektrische SUVs. Besonders der Seagull – Möwe –, das kleinste Modell
       der Serie, begeistert das Publikum. Mit seiner abgerundeten Form und dem
       auffälligen Zitronengelb erinnert es an den VW-Käfer. Die Batterie hat eine
       Reichweite von bis zu 400 Kilometern, was für diese Fahrzeugklasse viel
       ist. Umgerechnet rund 10.000 Euro kostet die Basisversion – das entspricht
       einem Viertel des Preises für den VW ID.3 Pro, dem Einstiegsmodell von
       Volkswagen.
       
       Auch das Spitzenpersonal der deutschen Autobauer ist zur Shanghai Motor
       Show angereist. Die Manager von Volkswagen stehen an diesem Vormittag vor
       dem BYD-Stand. Staunen und Entsetzen zeichnen sich in ihren Gesichtern ab.
       Mit dem Seagull bietet BYD das, was die deutschen Hersteller all die Jahre
       versäumt haben zu entwickeln – oder leichtfertig in der Schublade liegen
       ließen: ein vollwertiges Elektroauto für die breite Masse.
       
       2023 muss VW erstmals seit dem Markteintritt die Spitzenposition an den
       chinesischen Konkurrenten BYD abgeben. Besonders alarmierend für die
       deutschen Autobauer: Im Segment der Elektroautos kommt VW nur auf einen
       Marktanteil von rund 2 Prozent. BMW, Mercedes und Porsche spielen hier
       praktisch gar keine Rolle. Die deutsche Fachpresse spricht vom
       „Shanghai-Schock“. Während die deutschen Autobauer ihre neuesten
       Verbrennermodelle zur Schau stellen, zeigt die chinesische Konkurrenz
       ausschließlich Autos mit batteriebetriebenen Elektromotoren. Ihre Stände
       sind überlaufen. Für die Ausstellungsflächen von Mercedes, BMW, Porsche,
       Audi und VW interessieren sich trotz viel Lichts und riesiger LED-Wände
       nur wenige.
       
       Die deutschen Automanager, die in Peking und Shanghai stationiert sind,
       waren in den Jahren zuvor offenbar so sehr mit der Pandemie beschäftigt,
       dass sie annahmen, auch bei den chinesischen Wettbewerbern passiere nicht
       viel. Doch während in Deutschlands Chefetagen Pandemiepläne diskutiert
       wurden, haben sich Chinas Megastädte gewaltig verändert. Vor Corona
       prägten in Shanghai Smog, Lärm und endlose Staus das Bild. Nach der
       Pandemie rollen leise surrende Elektroautos durch die Stadt, und an nahezu
       jedem Parkplatz steht eine Ladesäule.
       
       Heute, im Jahr 2025, ist mangelnde Ladeinfrastruktur in Chinas Großstädten
       kein Thema mehr. Sie ist überall vorhanden. Nicht nur vor der eigenen
       Haustür, sondern auch auf Parkplätzen vor großen Einkaufszentren, wo
       selbstfahrende Laderoboter ihren Service anbieten. Einstige Tankstellen
       haben Batterieaustausch-Netzwerke und Schnellladesysteme, bei denen die
       Batterie nach weniger als 10 Minuten zu 80 Prozent wieder aufgeladen ist.
       CATL, Chinas führender Batteriehersteller, der auch weltweit an der Spitze
       steht, bietet Batterien für Reichweiten von über 1.000 Kilometern an, BYD
       und Nio bauen sie in ihre Fahrzeuge ein.
       
       Seit vergangenem Jahr ist in China jedes zweite verkaufte Auto
       elektrifiziert – und das ganz ohne eine deutliche Verschärfung der
       staatlichen Elektroauto-Quote. Der Markt hat sich längst verselbstständigt.
       Immer mehr Menschen entscheiden sich aus eigener Überzeugung für ein
       E-Auto.
       
       ## Und nun?
       
       Der Elektroboom in China hat für gewaltige Überkapazitäten gesorgt. 22
       Millionen Autos werden in China derzeit im Jahr verkauft, Kapazitäten
       geschaffen haben die Autobauer für über 50 Millionen Autos. Die
       Hunderttausende Autos, die auf gigantischen Flächen vor den Autofabriken
       oder vor Hafenanlagen stehen, sollen aber irgendwohin. Die USA haben schon
       unter Joe Biden als Präsident ihren Automarkt dicht gemacht und Zölle auf
       chinesische E-Auto-Importe von pauschal 100 Prozent erhoben. So drängen die
       Hersteller nach Südamerika, Russland, Afrika und Südostasien. Die
       EU-Kommission befürchtet zwar – ähnlich wie die USA – eine Schwemme von
       billigen chinesischen E-Autos. Doch insbesondere die Deutschen sind gegen
       Strafzölle, sie wollen Vergeltungsmaßnahmen der Chinesen auf deutsche
       Autoverkäufe in China vermeiden.
       
       Anders als beim Verbrenner liegt die Wertschöpfung eines chinesischen
       Elektroautos, von der Batterie bis zur Software, komplett in chinesischer
       Hand. Die deutschen Autobauer hingegen sind beim Herzstück des E-Autos, der
       Batterie, auf chinesische Lieferanten angewiesen.
       
       Der Rückstand Europas lässt sich kaum noch aufholen, sagt auch mein
       inzwischen 89-jähriger Vater an seinem Esstisch in Berlin. Ich berichte
       ihm, was ich über die Krisenstimmung in Wolfsburg weiß. Er informiert mich,
       was er aus chinesischen Medien über den Automarkt erfährt. Fast täglich
       bekommt er von ehemaligen Kollegen aus Changchun, Shanghai und Nanjing die
       Berichte über die Entwicklungen des chinesischen Automarkts geschickt, aus
       deutscher Sicht sind es Schreckensmeldungen.
       
       Wir sprechen auch darüber, wie es für VW weitergehen könnte. Auch wenn das
       noch vor Kurzem unvorstellbar war: Angesichts der technologischen
       Überlegenheit der Chinesen könnte ein Teil der Lösung sein, chinesische
       Hersteller von Batterien und Fahrzeugen für die Ansiedlung in Europa –
       möglichst in Deutschland – zu gewinnen. Warum das unrentable VW-Werk in
       Osnabrück nicht mit einem Partner aus der Volksrepublik betreiben? Das wird
       in Beraterkreisen des Wirtschaftsministeriums unter Robert Habeck Anfang
       des Jahres ernsthaft in Erwägung gezogen. So könnten Arbeitsplätze
       gesichert werden, Technologietransfer stattfinden – wir lernen von den
       Chinesen. VW selbst äußert sich auf Anfrage offiziell dazu nicht.
       
       Derartige Formen der Zusammenarbeit kennen deutsche Konzerne aus China, wo
       Joint Ventures einst die Eintrittskarte in den chinesischen Markt waren.
       Jetzt könnte es umgekehrt laufen: Die Chinesen sind die Lehrer, die
       Deutschen müssen auf die Schulbank.
       
       Mein Vater sagt, es brauche einen Mentalitätswechsel in Wolfsburg, und das
       werde nicht leicht. Noch immer hätten viele VW-Manager die Arroganz
       gegenüber China nicht abgelegt, noch immer wüssten sie nicht, wie man mit
       den chinesischen Partnern verhandeln soll. Von „Überforderung in Wolfsburg“
       spricht er, auch von „Gier“.
       
       Als er noch für VW arbeitete, ging es um ganze zwei Werke in China. Heute
       sind es 37.
       
       Ob er sein Lebenswerk bedroht sieht? „Ja“, sagt er, „natürlich.“
       
       14 Jun 2025
       
       ## LINKS
       
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