# taz.de -- Der Hausbesuch: Im Zwiegespräch mit Puppen
       
       > Sie lernte Dekorateurin, noch in der DDR. Später widmete sich Simone
       > Dietl „Sachen, die eine Geschichte haben“. Vor allem Puppen haben es ihr
       > angetan.
       
 (IMG) Bild: Simone Dietl mit Puppe Matilda, die der verstorbenen Frau eines Kunden gehörte
       
       Sie nennt sich „Puppendoktorin“. Sie ist eine der letzten ihrer Art in
       Deutschland. In der Altstadt von Halle hat sie ihre Praxis.
       
       Draußen: Auf dem Hallmarkt in [1][der Altstadt von Halle an der Saale] ist
       Frühjahrskirmes mit Schlagermusik und schreienden Kindern, es riecht nach
       Würstchen. „Alberich“, der Laden von Simone Dietl, befindet sich hundert
       Meter weiter, in einer ruhigen Gasse. Gegenüber: eine Pizzeria, ein
       Handyladen und eine Fleischerei, die es seit 1903 gibt. „Puppendoktor“
       steht auf dem Schaufenster von Dietls Geschäft. Zu sehen: antikes
       Spielzeug, ein paar Möbel und Hunderte Puppen, alte und neue. Sie sitzen
       mit ausgestreckten Armen, als wollten sie die Vorbeischlendernden umarmen.
       Diese bleiben immer wieder stehen. Sie staunen, fotografieren.
       
       Drinnen: Die Sonne schafft es kaum in den Raum. Auf dem Tisch steht eine
       antike Porzellankanne mit Kaffee, dazu Porzellantassen und Spitzendeckchen
       – aus eigenem Fundus. Drei Stühle sind bereits besetzt: Von einem
       Teddybären, einer Dekofigur namens „Herr Herbst“ und der Puppe Matilda, die
       der verstorbenen Frau eines Kunden gehörte. Simone Dietl brachte es nicht
       übers Herz, sie für Ersatzteile auszuschlachten. Sie entschuldigt sich bei
       den Puppen, bevor sie sie umsetzt. Eine 120 Jahre alte Standuhr schmückt
       den Raum, auch sie trägt einen Namen: Charlotte. Sie schlägt die halbe und
       volle Stunde und tickt wie alle anderen Wanduhren im Raum. In Vitrinen und
       Biedermeierschränken finden sich unzählige Puppenhäuser, Miniaturgeschirr,
       altes Spielzeug, Postkarten, Keramikfiguren, Bücher. Im Hinterraum ist eine
       kleine Werkstatt eingerichtet. Am Türrahmen hängen einige Zeitungsartikel
       über die Puppendoktorin, darüber ein Schild „Privat“.
       
       Damals: Simone Dietl ist „am Rand im Süden“ von Halle aufgewachsen, sagt
       sie. „Da, wo es schlecht gerochen hat, zu viel Chemie und viel Dreck gab“,
       erklärt sie und lacht. Die Häuser aus den 1920er Jahren waren grau, der
       Himmel an manchen Tagen gelb von der schlechten Luft. Dort war sie trotzdem
       glücklich, spielte auf der Straße, lief gern Rollschuh und liebte es, mit
       ihren Puppen zu spielen. Wenn eine kaputt war, versuchte Dietl, sie selbst
       zu reparieren. Klappte es nicht, gab es damals zwei oder drei
       Puppendoktor*innen in Halle, erzählt sie. Heute sei sie die einzige.
       
       Heute: Wenn sie abends zu Hause auf der Couch sitzt und ein guter Film im
       Fernsehen läuft, repariert Simone Dietl nebenbei Puppen oder näht Kleider
       für sie. Das gehört zu ihren Aufgaben als Puppendoktorin, wie sie sich
       nennt. Wenn ihr Mann und ihr jüngster Sohn, 15 Jahre alt (die anderen zwei
       sind schon längst aus dem Haus), etwas mit ihr unternehmen wollen, sagt
       sie: „Och nee, Leute, ich muss mal damit fertig werden.“
       
       Geschichten: „Das Leuchten in den Augen der Menschen, die ihre Reparaturen
       abholen“ – alleine deshalb lohne es sich, sagt Dietl. Das gefalle ihr an
       ihrer Arbeit. Und die Geschichten über Puppen, Kuscheltiere und Spielzeug,
       die die Leute erzählen. „Es gab diesen 95-jährigen Herrn, der mir seinen
       Bären brachte. Er hatte ihn zur Geburt als Geschenk von seiner Mutter
       bekommen und wollte, dass er repariert in den Sarg mit ihm geht, wenn er
       stirbt.“
       
       Seele: Wenn jemand Simone Dietl etwas „völlig Ramponiertes“ bringt, merkt
       sie sofort, ob es sich reparieren lässt – aber vor allem, ob es „eine Seele
       hat“. Es liege daran, dass die Menschen es so sehr lieben, dass es egal
       sei, ob das Stück mal fünf Mark oder fünfhundert Euro gekostet hat. Wenn es
       ihnen ans Herz gewachsen ist, tut Dietl ihr Bestes. „Sie vertrauen mir das
       an, und ich habe eine große Verantwortung. Ich muss mich bemühen, dass die
       Reparatur gut wird und niemand unglücklich aus dem Laden geht.“ Fast alles
       sei möglich, außer moderne Modelle wieder hinzubekommen, „wie Puppen, die
       weinen oder pullern. Die sind verplombt, verschweißt – da kommst du nicht
       dran.“
       
       Fertigkeiten: „Du musst nicht nur Freude [2][an der Handwerksarbeit] haben,
       sondern auch technisches Können“, sagt Dietl. Farbkenntnisse, wie man Farbe
       aufträgt, welcher Klebstoffe für was am besten ist, Werkstoffkunde,
       Verbindungs- und Bearbeitungstechniken sind nur einige der Fertigkeiten,
       die Dietl besitzt. Da diese Teil ihrer Ausbildung waren, sei es ihr nicht
       schwergefallen, mit der Puppenreparatur anzufangen.
       
       Gebrauchswerberin: Gelernt hat Simone Dietl „Gebrauchswerberin“, sie war
       also für das Dekorieren von Schaufenstern und Läden zuständig. Heute heißt
       dieser Beruf „Gestalter*in für visuelles Marketing“. Dietls Traumberuf war
       eigentlich Fotografin, erzählt sie. Seit der 5. Klasse fotografierte sie
       und hatte sogar ein Fotolabor. Weil sie keinen Platz für diese Ausbildung
       fand, bewarb sie sich für die Ausbildung zur Gebrauchswerberin. Da hatte
       sie Glück: „Ein anderes Mädchen hat abgesagt, und ich bin eingesprungen. Es
       ist ein super Beruf, den ich nie bereut habe.“
       
       Selbstständig: Später arbeitete Simone Dietl selbst als Ausbilderin für
       Gebrauchswerber*innen. Zudem war sie zwei Jahre in einer Tischlerei tätig
       und brachte sich auch das Schweißen bei. Für die Stadt Halle baute sie
       lebensgroße Märchenfiguren: Schneewittchen, die sieben Raben, das tapfere
       Schneiderlein. Bis 2004 machte sie das, bis sie ihr letztes Kind bekam. „Da
       war ich schon ziemlich durch, stieg aus der ganzen Geschichte aus und
       machte mich selbstständig.“
       
       Heilen: Simone Dietl steht auf alte, schöne Dinge. Als sie damals, vor 15
       Jahren, überlegte, wie es weitergehen soll – mit einem kleinen Kind –,
       sagte sie zu ihrem Mann: „Ich eröffne einen Laden, kaufe an, verkaufe und
       mache Reparaturen.“ Er unterstützte sie. „Er ist Arzt für Menschen, also
       versteht er mich“, sagt sie und lacht. „Ich bin handwerklich geschickt und
       leidenschaftlich. Und dann kam meine Liebe zu Figuren dazu – zu Puppen,
       Bären, Zwergen. Es hat sich einfach so ergeben.“
       
       Aussterbender Beruf: Es gebe immer weniger Puppendoktorinnen, sagt Dietl.
       Eine Ausbildung dafür gebe es nicht, auch keine Prüfungen bei der
       Handwerkskammer. Geduld und Liebe müsse man für den Beruf mitbringen. Die
       Sammlerinnengemeinde sei mittlerweile kleiner geworden. „Früher waren
       Puppen etwas Besonderes, echte Familienerbstücke“, sagt Dietl. „Oder etwas,
       das sich Menschen später gegönnt haben, wenn sie es als Kind nicht hatten.“
       Es gäbe allerdings auch Sammler*innen, „die schließen ihre Puppen sogar im
       Tresor als Anlageobjekt ein, was ich sehr traurig finde“.
       
       Pinocchio: Ein bisschen unheimlich sei das mit den Figuren schon, sagt
       Simone Dietl. Zum Beispiel Herr Herbst, der vorher am Tisch saß, habe
       „etwas Hinterhältiges im Blick“. Dietl habe im Laden selbst noch nie
       Merkwürdiges erlebt. „Aber wer weiß, was passiert, wenn ich gehe?“ Solange
       sie da sei, blieben jedenfalls alle Puppen auf ihrem Platz und schauten
       geradeaus. Ihr Lieblingsfilm sei nach wie vor „Pinocchio“, nach dem Buch
       von Carlo Collodi, in dem eine Figur aus Holz lebendig wird.
       
       Barbie: Den Film „Barbie“ habe sie dagegen nicht gesehen. „Barbie ist nicht
       meine Puppe“, sagt sie. Aber weil sie besonders berührt ist, wenn Menschen
       spürbar an ihren Puppen hängen, habe sie bereits eine Barbie „geheilt“. „Es
       kam eine junge Frau, die ihre Barbie seit ihrer Kindheit immer in der
       Handtasche dabeihat. Die Puppe hatte die Haare verloren, und sie fragte
       mich: ‚Machen Sie Perücken?‘“ Dietl lacht. „So ein kleiner Kopf! Aber sie
       war so unglücklich, dass ich eine Perücke gebastelt habe.“
       
       Lieblingspuppe: Simone Dietl mag am liebsten Puppen aus ihrer Kindheit.
       „Sie waren einfache Nuckelpuppen mit Stoffkörper und Gummigesicht, die den
       Daumen im Mund hatten. Typische DDR-Puppen.“ Am meisten bedeutete ihr
       jedoch ein Stofftier namens Monito, ihr Lieblingsbär. Er sei etwas
       abgenutzt, aber immer noch vollständig. Monito sei mit ihr um die halbe
       Welt gereist. „Inzwischen zieht es mich nicht mehr so in die Ferne wie
       früher.“ Aber zu ihren Eltern nach Südfrankreich fahre sie noch. Sie sei
       „absolut“ ein Familienmensch. Aber auch ein Arbeitsmensch.
       
       Quarkbrot: „Ich kann mir nicht vorstellen, in Rente zu gehen“, sagt Simone
       Dietl. Sie hoffe, noch lange als Puppendoktorin arbeiten zu können. Und
       wenn der Laden nicht mehr zum Leben reicht? „Dann schmiert mir mein Mann
       ein Zwiebel-Quark-Bot, und ich muss nicht verhungern.“
       
       Die Merz-Frage: Was halten Sie von ihm? „Ob der sich nicht nur für die
       Wirtschaft, sondern auch für die sozial Schwachen einsetzt, bleibt
       abzuwarten“, antwortet sie. „Und was mir Angst macht, ist sein Engagement
       für die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern in die Ukraine.“
       
       14 May 2025
       
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