# taz.de -- Utopien zweier Visionäre: Zwei verkannte Künstler, eine Utopie
       
       > Friedrich Kiesler und Walter Pichler haben auf ihrem Gebiet jeweils
       > utopische Lebenswelten entworfen. Eine Ausstellung in Krefeld bringt sie
       > zusammen.
       
 (IMG) Bild: Immersiv avant la lettre: Werke von Friedrich Kiesler und Walter Pichler, zusammengedacht in Krefeld
       
       Bei der Internationalen Ausstellung neuer Theatertechnik 1924 in Wien
       präsentierte der Architekt Friedrich Kiesler den Entwurf einer „Raumbühne“.
       Vor rund 100 Jahren war seine Idee ein radikaler Beitrag zu einer
       Diskussion, in der es darum ging, das Theater zu modernisieren und die
       herkömmliche [1][Guckkastenbühne] zugunsten eines Inszenierungserlebnisses
       aufzubrechen, das man heute als „immersiv“ bezeichnen würde.
       
       Der Entwurf war Kernstück von Kieslers „Railway Theater“, seine Antwort auf
       die damals zunehmende Dynamisierung des Alltags. [2][Nach Kieslers
       Vorstellung] sollte sich die Bühne selbst in Bewegung setzen, der
       Zuschauerraum sollte um die schwebende Bühne kreisen.
       
       Bald 40 Jahre später beschäftigte sich der Wiener Architekt, Künstler und
       Möbeldesigner Walter Pichler mit radikalen Raum-, Wohn- und
       Städtebau-Utopien und präsentierte 1963 seine Vision einer „Kompakten
       Stadt“, die seinerzeit als Modell in der Wiener Galerie nächst St. Stephan
       zu sehen war.
       
       ## Höhnische Urteile
       
       Die historischen Reaktionen fielen überwiegend verständnislos aus, Kritiker
       urteilten höhnisch: „ein schwangerer Motorradrahmen mit Grabstein“. Pichler
       zog wenige Tage nach der Ausstellungseröffnung resigniert in die USA,
       genauer nach New York, wo sein langjähriges Vorbild Friedrich Kiesler schon
       geraume Zeit lebte und arbeitete.
       
       Die Raumbühne war nicht die einzige Utopie des
       österreichisch-amerikanischen Architekten Friedrich Kiesler, die niemals zu
       gebauter Realität wurde. Fotos des Modells seines Raumtheaters, das einst
       im Wiener Konzerthaus aufgebaut wurde, sind nun im Krefelder Kaiser Wilhelm
       Museum erneut zu sehen und Teil der ein gutes Jahrhundert überspannenden
       Ausstellung „Visionäre Räume. Walter Pichler trifft Friedrich Kiesler in
       einem Display von raumlaborberlin“. Sie bringt das in die Zukunft
       gerichtete Denken der beiden erneut zusammen.
       
       Durch die kongeniale Installation des Berliner Architekturkollektivs
       raumlabor werden die beiden Visionäre von einst aktualisiert und
       weitergedacht in Richtung Nachhaltigheit. Objekte, Möbel und Modelle beider
       Vordenker [3][präsentiert raumlabor] zwischen gebrauchten Raumtrennern oder
       auf Sockeln aus dem Depot des Museums. Auch aussortierte Stoffe aus der
       Krefelder Textilproduktion nahmen sie ins Ausstellungsdesign mit auf.
       
       ## Die Raumstadt
       
       Im zentralen Saal des Museums ist Kieslers „Raumstadt“ aufgebaut, ein
       riesiges rechtwinkliges Gebilde, das nach allen Seiten hin offen ist. 1925
       hatte Kiesler damit an der Messe für Industriedesign in Paris teilgenommen
       und sorgte damit für Furore, aber auch sie blieb Utopie. Auch dem
       Künstler-Architekten Walter Pichler blieb ein breites Verständnis versagt,
       seine skurrilen, skulpturalen Entwürfe der 1960er wurden eher als Kunst
       denn als [4][utopische Ideen für Lebenswelten] begriffen.
       
       Verblüffend sind die Parallelen im Denken und Schaffen beider in Österreich
       geborener Multitalente, die fast 50 Jahre trennten. Beide waren Visionäre
       und ihrer Zeit weit voraus. Bei beiden durchdrangen sich Kunst, Architektur
       und Design auf unentwirrbare Weise, was die Krefelder Ausstellung von
       raumlaborberlin noch unterstreicht. Sie verbindet die einzelnen Objekte zu
       Installationen. In dieser Präsentation werden sie mitunter erheiternd
       überhöht.
       
       Da gibt es beispielsweise Walter Pichlers „Glücksanzug“, eine utopische
       Maschine, die den menschlichen Körper umgibt, etliche futuristische
       Sitzmöbel im Geiste der Popart, biomorphe Möbel der 1930er Jahre, mit denen
       Kiesler die Nierentisch-Ära schon vorausahnte. In vielfacher Ausführung und
       sogar in einem alten Film ist Kieslers „Endless House“ zu sehen, das er
       seit 1950 in diversen Zeichnungen und Plastiken darstellte, jedoch wiederum
       nie im Maßstab 1:1 bauen konnte. Die eiförmige Architektur experimentiert
       mit Licht, Raumfluss und organischen Texturen.
       
       ## Durchlässiges Wohnen
       
       Berührungspunkte zwischen Kiesler und dem [5][46 Jahre jüngeren Walter
       Pichler] gab es nicht nur in ihrer Durchlässigkeit zwischen Stadt, Wohnen
       und Skulptur, sondern auch in ihrem gemeinsamen Interesse für Sensorik,
       Performance, für spirituelle Themen, organische Materialien, Morphologien
       und ihrem gewitzten Sinn für Funktionalität.
       
       Die Ausstellung ist in sechs Kapitel unterteilt, von „archiplastisch“ bis
       „funktional“, die Objekte und Ideen wirken ungemein anregend und aktuell.
       Beide rückten das menschliche Maß, die organische Form und eine
       Wohnsituation in den Mittelpunkt, in der ein Innenraum nicht mehr von der
       Umwelt abgeschottet ist. Kiesler lieferte zu diesem Denken auch die Theorie
       des „Correalismus“, anhand derer er die Wechselwirkung zwischen Mensch und
       Umgebung beobachtete. Und das bereits in den 1930er Jahren!
       
       10 Feb 2025
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Theater-ueber-Gesellschaft-ohne-Zukunft/!6036893
 (DIR) [2] /Werkschau-eines-Visionaers-in-Berlin/!5442589
 (DIR) [3] /Ausstellung-ueber-Bauen-mit-Bestand/!5879545
 (DIR) [4] /Luft-als-Baustoff/!5856611
 (DIR) [5] /Neu-auf-der-Museumsinsel/!5191820
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Regine Müller
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Architektur
 (DIR) Städtebau
 (DIR) Möbeldesign
 (DIR) Glück
 (DIR) Kunst
 (DIR) DDR
 (DIR) Ausstellung
 (DIR) Kunst
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Wenn das Leben quietschharmonisch wäre: Kein Sex im Lande des Glücks
       
       Das Land des Glücks ist irgendwie lauwarm. Aber über Träume zu sinnieren,
       ist viel schöner als über die Weltlage.
       
 (DIR) Ausstellung von israelischer Künstlerin: Ausgeliefert ans Diffuse
       
       Die Shoah bleibt stets präsent: Das Düsseldorfer K21 zeigt Werke der
       Künstlerin, Psychoanalytikerin und Friedensaktivistin Bracha Lichtenberg
       Ettinger.
       
 (DIR) Revival der DDR-Moderne und Städtebau: Verwegen und einnehmbar
       
       Wie gut, dass öffentliche Bauten und Kunst der DDR-Moderne jetzt wieder
       wahrgenommen werden. Doch ihre Anerkennung sollte nicht in Nostalgie
       kippen.
       
 (DIR) Ausstellung zu Wiener Architekten: Vergessene Avantgardisten
       
       Von den Nazis verfemt, jetzt wiederentdeckt: Dicker und Singer. In Wien ist
       das vom Bauhaus beeinflusste Werk der beiden Architekten nun zu sehen.
       
 (DIR) Kunst-Avantgarde-Schule Black Mountain: Feuer einer anderen Bildung
       
       Das Black Mountain College ist oft mit dem Bauhaus verglichen worden. Eine
       Berliner Ausstellung räumt mit der irrigen Annahme auf.