# taz.de -- Protestwelle gegen Rechtsruck: Die (Ohn-)Macht der Straße
       
       > Berlin ist die Stadt der Massendemonstrationen. Ein Blick in die
       > Stadtgeschichte zeigt: Wer behauptet, die Mehrheit stünde hinter
       > Ausgrenzung, lügt.
       
 (IMG) Bild: Selten waren so viele Menschen auf Berlins Straßen wie am vergangenen Sonntag
       
       Berlin taz | 160.000, womöglich gar 250.000 Menschen waren am Sonntag auf
       der Straße, um sich dagegenzustellen, dass die CDU die Brandmauer zur
       rechtsextremen AfD eingerissen hat. Die Demo gehört zu den größten in der
       Geschichte der Stadt.
       
       Während CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz sich als Vertreter eines einzig
       wahren Volkswillens inszeniert, zeigt sich: Die mobilisierbare Masse steht
       nicht hinter ihm. Es sind keine Hunderttausende, die für Flüchtlingsabwehr
       demonstrieren. Rein selektiv ist zudem der Verweis auf Umfragen, die ein
       solches suggerieren. Denn breite Mehrheiten gibt es auch für
       Vermögensbesteuerungen oder Klimaschutz.
       
       Wie progressiv die Forderungen der Massen in Berlin sind, zeigt die
       Geschichte der größten Proteste der Stadt. Zeit, dass diese Stimmen ernst
       genommen werden.
       
       28. Januar 1918: Generalstreik gegen den Krieg 
       
       Das erste Kernthema unserer Liste: Frieden. Allem nationalistischen Taumel
       zum Trotz gab es auch vor dem Ersten Weltkrieg viele Berliner:innen, die
       gar kein Bock auf Schützengraben und Fremdenhass hatten. Nur Tage vor dem
       Beginn des Ersten Weltkriegs mobilisierte am 28. Juli 1914 die SPD trotz
       Demoverbots am 25. Juli 100.000 Menschen gegen den Krieg. Am 28. Januar
       1918 traten rund 400.000 Arbeiter:innen in den Streik – was in der
       ersten deutschen Demokratie mündete.
       
       17. Juni 1953: [1][Volksaufstand in der DDR] 
       
       Nachdem sich der Realsozialismus zur Parteidiktatur gewandelt hatte, wagten
       die Arbeiter:innen der DDR den Aufstand: Am 17. Juni 1953 gingen in
       Ostberlin und der ganzen DDR eine Million Menschen auf die Straße – gegen
       Staatsrepression, soziale Probleme und Bevormundung. Es war das letzte
       Aufbäumen der autonomen Arbeiter:innenbewegung, die nur durch sowjetische
       Panzer erstickt werden konnte.
       
       1. Mai 1965: Tag der Arbeit in Westberlin 
       
       Mit Klassenkampf ging es auch in Westdeutschland weiter. Aller
       Eingliederung der Sozialdemokratie in den deutschen Korporatismus zum Trotz
       war die Arbeiter:innenbewegung immer noch eine Macht, mit der zu
       rechnen war: Am 1. Mai 1965 versammelten sich etwa 400.000 Menschen vor dem
       Reichstag.
       
       4. November 1989: Für Meinungsfreiheit in der DDR 
       
       Der Parteisozialismus bröckelt: Am 4. November 1989 versammeln sich eine
       500.000 Menschen zur größten systemkritischen Demonstration in der
       DDR-Geschichte. Das Ziel: Die Demokratisierung des Sozialismus. Kurz darauf
       fällt die Mauer und die DDR wird vom kapitalistischen Ausland einverleibt.
       Statt demokratischen Sozialismus gibt es die Treuhand und
       Massenarbeitslosigkeit.
       
       8. November 1992: Gegen Ausländerhass und Fremdenfeindlichkeit 
       
       Mit der Wiedervereinigung entsteht ein nationalistischer Taumel, die
       Nazigewalt grassiert. In Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen brennen
       Asylunterkünfte. Doch die Massen lassen sich nicht einnehmen. 350.000
       Menschen demonstrieren am 8. November 1992 gegen Ausländerhass und
       Fremdenfeindlichkeit.
       
       9. November 2000: Für Menschlichkeit und Toleranz 
       
       Nach einem Brandanschlag auf eine Düsseldorfer Synagoge rief Gerhard
       Schröder, Kanzler der ersten rot-grünen Bundesregierung, den „Aufstand der
       Anständigen“ aus – 200.000 folgten. Der Staat implementierte infolge
       einiges von dem, was eine Autonome Antifa lange forderte – vom staatlich
       geführten Kampf gegen Rechts bis zu einer sensibleren Erinnerungskultur.
       Was anständig war, raubte der radikalen Bewegung die Kraft.
       
       15. Februar 2003: [2][Gegen den Irak-Krieg]
       
       Als die BRD drohte, in den Irakkrieg hineingezogen zu werden, zieht es die
       Massen auf die Straße. 500.000 Menschen wollen sich in Berlin von keinen
       Lügen über Massenvernichtungswaffen, nicht von einem Krieg für Öl und
       keiner Instrumentalisierung von Terrorgefahr für rassistische Hetze
       einlullen lassen. Mit Erfolg: Deutschland beteiligte sich nicht an der
       „Koalition der Willigen“.
       
       3. November 2003: Gegen die Agenda 2010 
       
       Der wahrscheinlich größte Sozialprotest in der BRD: Am 3. November 2003
       gehen 100.000 Menschen gegen Gerhard Schröders neoliberales Spardiktat auf
       die Straße. Schon damals schimpften grüne Realos die Bewegung als
       „Besitzstandswahrer“ – dabei war es nur die Bewegung, die sich nicht unter
       dem Druck der Realpolitik dazu treiben ließ, die Ärmsten gegen die Armen
       auszuspielen.
       
       6. Juni 2004: Fahrradsternfahrt für eine Mobilitätswende 
       
       Als deutlich wurde, dass es der fossile Kapitalismus die Lebensgrundlagen
       unseres Planeten zerstört, nimmt auch die Bewegung für eine andere
       Verkehrspolitik an Fahrt auf. Bis zu 250.000 Menschen nehmen am 6. Juni
       2004 an [3][einer Sternfahrt des ADFC] für die Verkehrswende teil. Deutlich
       gemacht wurde auch hierbei: Die Menschen wollen Veränderung. Nur die
       Politik reagiert nicht.
       
       10. Oktober 2015: Berlin gegen TTIP 
       
       Unter dem Kampfbegriff des Freihandels soll das neoliberale „Race to the
       Bottom“ der gesetzlichen Regulierung vertraglich verankert werden – doch
       wieder stellen sich die Berliner:innen und ihre Gäste dem entgegen.
       Zwischen 100.000 und 250.000 Menschen demonstrieren gegen das
       Freihandelsabkommen TTIP und CETA.
       
       13. Oktober 2018: [4][Unteilbar gegen Ausgrenzung]
       
       Nach den rechten Hetzdemos im Sommer 2018 in Chemnitz und Köthen schließt
       sich die Zivilgesellschaft zum #Unteilbar-Bündnis zusammen. Den Auftakt
       bildete am 13. Oktober 2018 eine Demo in Berlin, an der bis zu 250.000
       Menschen auf die Straße gingen. Die CDU Berlin stellt unter Beweis, dass
       sich spalterisches Potenzial auch bei ihr finden lässt, als sie dem Bündnis
       eine Zusammenarbeit mit „Linksextremisten“ unterstellten.
       
       20. September 2019: Globaler Klimastreik 
       
       Der 3. von nun mehr 14 globalen Streiks für Fridays for Future war der
       gewaltigste – mit bis zu 270.000 Teilnehmer:innen allein in Berlin. Am
       selben Tag hat die Groko ein Klimapaket vorgelegt, dessen Maßnahmen dem
       eigenen Ziel nicht gerecht wurde.
       
       7. Februar 2022: Gegen Russlands Invasion der Ukraine 
       
       Ganz ohne Sahra Wagenknecht gingen gegen Russlands Angriffskrieg in der
       Ukraine mehr als 100.000 auf die Straße, laut Veranstalter:innen gar
       eine halbe Million. Organisiert von Campact und den Gewerkschaften war der
       Dreh für die Friedensbewegung ein neuer: Der Ruf nach Waffenlieferungen war
       laut, wenn auch nicht einhellig. Die Meinungen auf dem Protest gingen stark
       auseinander, geeint war der Protest aber in seinem Willen nach Frieden.
       
       21. Januar/ 3. Februar 2024: Gegen die AfD 
       
       Die Protestwelle, die sich heute gegen die CDU richtet, erhob sich ganz
       ähnlich vor Jahresfrist gegen die AfD und ihre Remigrationspläne. Die zwei
       größten Demos versammelten je bis zu 300.000 Menschen. Die AfD verlor
       infolge 5 Prozent in den Umfragen, rappelte sich aber nach den Protesten
       auf, als die anderen Parteien wieder begannen, Migration als Mutter aller
       Probleme zu behandeln.
       
       3 Feb 2025
       
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