# taz.de -- Britische Internierungslager auf Zypern: Nur frei waren sie noch lange nicht
       
       > Die Briten internierten nach dem Zweiten Weltkrieg Zehntausende Jüdinnen
       > und Juden auf Zypern, in Lagern hinter Stacheldraht. Was ist davon
       > geblieben?
       
 (IMG) Bild: Britische Soldaten patrouillieren in einem Internierungslager bei Famagusta, Mai 1947
       
       Der rot gefärbte Boden mit seinen frischen Ackerfurchen glänzt vom letzten
       Winterregen. Im Süden von Zypern wachsen auf diesen Feldern die dicksten
       Kartoffeln, die man sich denken kann. Mächtige Trumms, viel größer als eine
       geschlossene Männerfaust, ideal zur Verarbeitung zu Pommes frites, gedeihen
       rund um das Bauerndorf Xilotimbou. Die Felder reichen weit in das
       umliegende britische Militärgebiet hinein, bis zum nahen Mittelmeer. Die
       Bauern sind ob ihrer dicken Erdäpfel wohlhabend geworden, was sich in
       großzügigen Einfamilienhäusern widerspiegelt.
       
       Es ist beinahe 80 Jahre her, da lebten in der Nähe von Xilotimbou nicht nur
       zypriotische Bauern, sondern auch Fremde. Es waren keine sonnenhungrigen
       Touristen, so wie die Menschen, die heute die Strände in der Umgebung
       bevölkern. Sie waren auch nicht freiwillig gekommen. Sie lebten hinter
       Stacheldraht am Meer. Baden durften sie nicht. Lange waren diese Menschen
       vergessen.
       
       Doch seit Kurzem steht am Ortsrand von Xilotimbou in einem Park ein
       Gedenkstein. „Meine eine Hälfte, die linke, da wo das Herz schlägt, ist
       israelisch. Aber die andere Hälfte ist zypriotisch“, steht da auf Englisch
       geschrieben, und darunter in kleinerer Schrift: „Eines der 2.000 Babys, die
       in den jüdischen Internierungslagern auf Zypern geboren wurden.“
       
       Walter Frankenstein war damals im Lager schon ein junger Mann. Heute ist er
       100 Jahre alt. Er kann sich noch gut an die Zeit erinnern, als die Briten
       ihn eingesperrt hatten. Bis heute, so sagt er, habe er ihnen das nicht ganz
       verzeihen können. „Nie hat sich einer entschuldigt“, sagt er in seiner
       Wohnung in einem Altersheim in der schwedischen Hauptstadt Stockholm.
       
       Dabei war Zypern nur eine Zwischenstation in seinem langen Leben. Aber
       eine, die bis heute wehtut.
       
       Der deutsche Jude Frankenstein, seine Frau Leonie und die beiden Kinder
       hatten 1945 die Zeit der Verfolgung durch die Nationalsozialisten mit Mut,
       Energie und einer großen Portion Glück überlebt. Ihr erstes Kind war 1943
       gerade geboren, da ließ die SS fast alle Berliner Jüdinnen und Juden nach
       Auschwitz deportieren. Walter und Leonie nicht, denn sie gingen in den
       Untergrund, ohne Papiere und Lebensmittelkarten, hoffend auf Hilfe von
       Hitler-Gegnern.
       
       Sechs Millionen Jüdinnen und Juden wurden von den Nazis umgebracht. Die
       Frankensteins zählten zu den wenigen, die die Zeit der Verfolgung
       überlebten. Danach stand für sie fest, dass sie Deutschland verlassen
       würden, das Land, in dem ihre Verwandten und Freunde ermordet worden waren.
       Ihr Ziel war Palästina. Zwei Brüder von Walter lebten dort. Leonie gelangte
       zusammen mit ihren beiden Kindern legal nach Tel Aviv. Aus Rücksicht auf
       die arabische Bevölkerung limitierten die Briten nach dem arabischen
       Aufstand 1936 die Einreiseerlaubnisse für Juden nach Palästina. Das blieb
       auch nach dem Zweiten Weltkrieg so.
       
       Walter Frankenstein erreichte statt des Gelobten Landes nur die Insel
       Zypern. „Wir wurden mit Landungsbooten in den Hafen von Famagusta gebracht.
       Da stand der britische Gouverneur. Zu meiner Gruppe zählte ein Mädchen, das
       hatte als Partisanin bei den Russen den Krieg überlebt. Sie stellte sich
       vor den Gouverneur hin und beschimpfte ihn. Dann spuckte sie ihn an. Er hat
       die Spucke nicht von seinem Gesicht entfernt.“
       
       Das Verbrechen der Holocaust-Überlebenden wie Frankenstein bestand darin,
       dass sie ohne Erlaubnis der britischen Mandatsmacht nach Palästina
       einreisen wollten. Großbritannien ließ aber nur 1.500 Neuankömmlinge im
       Monat zu. Dagegen begehrten die Überlebenden, aber auch die jüdische
       Vertretung in Jerusalem auf. Sie organisierten mit der „Bricha“ (Hebräisch
       für Flucht) den Transport aus dem kriegszerstörten Europa nach Palästina,
       gemanagt vom Mossad la-Alija Bet (Institution für Einwanderung B). Meist
       ging es auf überfüllten Schiffen von Italien oder Frankreich in Richtung
       Gelobtes Land.
       
       Frankenstein war in Berlin in Kontakt mit den Fluchthelfern gekommen. Die
       schickten ihn ins Allgäu in eine Art Ausbildungs-Kibbuz und von dort nach
       Marseille. Im Hafen baute Frankenstein das Innere von Frachtschiffen so um,
       dass dort Hunderte Menschen auf engstem Raum Platz finden konnten. „Jeder
       hatte eine Pritsche. 1,80 lang, 75 breit und 50 Zentimeter hoch, das war
       wie bei gepackten Sardinen“, erinnert sich Frankenstein. Mit dem letzten
       Schiff, das er umzubauen half, durfte er selbst mitfahren. „Ich hatte
       verlangt, endlich zu meiner Familie zu kommen“, sagt er. Die „San
       Dimitrio“, ein Küstendampfer, war eigentlich für rund 75 Passagiere
       zugelassen. Als das Schiff am 19. Oktober 1946 ablegte, waren 1.252 Frauen,
       Kinder und Männer an Bord. Ein weiteres Kind wurde unterwegs geboren.
       
       Frankenstein war an Bord der „Latrun“, wie der umgebaute Dampfer nun hieß,
       für den Proviant zuständig. Er freundete sich mit Walter Braun an, einem
       Juden aus Köln, der die NS-Zeit in England überlebt hatte und nun die
       Ventilatoren bedienen musste, damit unten im Schiffsbauch genügend Luft
       zirkulierte.
       
       Großbritannien sorgte dafür, dass sie Palästina nur einen kurzen Augenblick
       lang nahekamen. Vor Haifa enterten Soldaten zweier Kriegsschiffe die
       „Latrun“. Das Gelobte Land erreichten die Passagiere nur zum Umsteigen. Ein
       Truppentransporter brachte die Flüchtlinge vom Haifaer Hafen nach Famagusta
       auf Zypern, damals eine britische Kronkolonie.
       
       Die Internierungslager für Jüdinnen und Juden waren dort im Sommer 1946
       errichtet worden. Damit sollten Einwanderer von einer Reise nach Palästina
       abgeschreckt werden. Tatsächlich geriet die britische Regierung in
       Erklärungsnöte. Holocaust-Überlebende hinter Stacheldraht zu sperren, war
       der Öffentlichkeit nur schwer zu vermitteln.
       
       Nichts erinnert in Famagusta an das Lager von vor fast 80 Jahren. Das
       Gelände, wo sich die Karaolos-Camps Nummer 55, 60, 61, 62 und 63 befanden,
       in die Frankenstein im November 1946 eingesperrt wurde, ist heute
       türkisches Militärgebiet. Famagusta befindet sich im Norden [1][der seit
       1974 geteilten Mittelmeerinsel], dort also, wo die türkische Bevölkerung
       lebt. Xilotimbou dagegen liegt im zyperngriechisch besiedelten Süden. Beide
       Lagerkomplexe zusammen hatten eine Kapazität von jeweils mehr als 10.000
       Gefangenen. In Karaolos mussten die Menschen in indischen Armeezelten
       leben, in den Xilotimbou-Lagern 64 bis 70 gab es für sie Hütten aus
       Wellblech. Erbaut wurde dieses Camp ausgerechnet von deutschen
       Kriegsgefangenen.
       
       Frankenstein hat nicht vergessen, wie es in Karaolos aussah. „Wir wurden
       auf Lastwagen aufgeladen und in die Lager gebracht. Die Engländer wiesen
       unserer Gruppe drei oder vier Zelte an. Die lagen in der Nähe der
       Umzäunung. Da war Stacheldraht, über zwei Meter hoch, nachts beleuchtet. Es
       gab Wachtürme, aber ob die besetzt waren, weiß ich nicht.“
       
       Die meisten Mitglieder seiner Gruppe kannten sich noch aus dem Kibbuz in
       Oberbayern. „Das waren jüngere Überlebende aus den KZ, dazu Partisanen und
       Menschen, die versteckt überlebt hatten. Nur drei waren Deutsche. Der Rest
       war polnisch, russisch und rumänisch. Wir haben miteinander Jiddisch
       gesprochen. Das habe ich dort gelernt.“ THM, so nannten sich die Freunde.
       Es war keine politische Abkürzung. Die drei Buchstaben standen für „Tod,
       Hungrig und Meschugge“.
       
       Das Verlassen der Lager war streng verboten. Frankenstein hielt sich daran.
       „Ich wollte nicht mehr flüchten. Wäre ich zu meiner Familie geflüchtet,
       hätten sie mich gleich am Kragen gehabt.“ Die Briten rechneten 750 der
       Lagerinsassen auf die Gesamtquote von monatlich 1.500 Einwanderern für
       Palästina an. So viele durften nach Israel ausreisen. Frankenstein konnte
       sich ausrechnen, wie lange er auf Zypern bleiben sollte – bis weit ins Jahr
       1947.
       
       Sein Freund Walter Braun durfte das Camp ab und zu verlassen. Dank seiner
       Englischkenntnisse wurde er als Übersetzer eingesetzt. „Ich musste jeden
       Tag zu den englischen Behörden gehen und mit ihnen verhandeln, was wir
       brauchten. Man musste ein bisschen Diplomat sein“, sagte der inzwischen
       verstorbene Braun in einem Gespräch mit dem Autor im Jahr 2007. Zwei- oder
       dreimal durfte er in die Inselhauptstadt Nikosia fahren, als Begleiter für
       schwangere Frauen, die dort im Krankenhaus behandelt wurden.
       
       Die Entbindungen fanden, anders als es die Gedenktafel in Xilotimbou
       suggeriert, in dem dortigen britischen Militärhospital statt, wohl der
       besseren hygienischen Bedingungen wegen. Dort führt heute eine Sackgasse zu
       einem Checkpoint der griechisch-zypriotischen Armee. Ein Offizier holt den
       angemeldeten Besucher ab und führt ihn etwa dreißig Meter auf das jetzige
       Militärgelände. Dort steht ein glatter Stein, darauf eine Plakette mit den
       Flaggen Israels und Zyperns und der Inschrift: „In Erinnerung an die 2.200
       Kinder, die auf Zypern von jüdischen Holocaust-Überlebenden geboren
       wurden.“ Schwarz-Weiß-Bilder in einem Schaukasten daneben zeigen Szenen aus
       dem Lageralltag, von dicht gedrängt stehenden Baracken, einem hölzernen
       Wachturm, Stacheldraht. Und Menschen, vielen Menschen, die sich in den
       Lagern drängen.
       
       Walter Frankenstein erfährt erst mit 75-jähriger Verspätung von der
       Geburtsklinik in Nikosia. Er habe sich damals gewundert, dass es in seinem
       Lager gar keine Kleinkinder gegeben habe, sagt er. In den Camps bestand
       eine jüdische Selbstverwaltung durch ein Zentralkomitee, dem auch Walter
       Braun angehörte. Unterstützung erhielten die Überlebenden von jüdischen
       Hilfsorganisationen wie dem American JOINT. Es gab Hebräisch-Kurse.
       Parteien warben um Anhänger. An entscheidender Stelle arbeiteten so
       genannte Schlichim, Emissäre aus Palästina, die durch unterirdische Tunnel
       in die Lager hinein- und herausgeschleust wurden. Dabei halfen wiederum
       Zyprioten. Dazu unterhielt man Kontakte zur linken Akel-Partei, die das
       britische Kolonialsystem loswerden wollte.
       
       ## Streiks und brennende Zelte
       
       Es kam zu Protesten im Lager, wohl auch von den Schlichim initiiert.
       Frankenstein: „Die Engländer standen um das Lager herum mit ihren kleinen
       Panzern mit aufmontierten Maschinengewehren. Es gibt Fotos von brennenden
       Zelten. Die haben wir angesteckt.“ Ein Lagerinsasse wurde von Soldaten
       erschossen. Streiks wurden organisiert. „Streiken, das hieß, man hat Dinge
       verweigert, zum Beispiel das Essen oder den Abfall wegzuräumen. Solche
       Kindereien. Aber wir haben doch gezeigt, dass wir eine Kraft waren.“
       Schließlich rissen die Camp-Insassen den Stacheldraht weg, der das Lager
       vom Meer trennte. Doch die Freiheit zum Meer währte nur kurz. Soldaten
       stellten den Stacheldraht wieder auf.
       
       Nicht immer waren die Beziehungen zu den Briten im Camp-Alltag so
       angespannt. Walter Frankenstein weiß von einem Fußballturnier zwischen
       Soldaten und Lagerinsassen zu berichten. „Davor wurden lange Verhandlungen
       darüber geführt, was erlaubt und was verboten war. Wir versprachen, dass
       wir uns auf keine Schlägereien einlassen. Wir haben friedlich Fußball
       gespielt. Ich war Rechtsaußen. Ich habe vergessen, ob ich ein Tor
       geschossen habe.“
       
       Die meiste Zeit verbrachte Frankenstein über Töpfen und Pfannen. Er
       avancierte zum Koch für seine Gruppe. Eigentlich sollte das Essen zentral
       ausgegeben werden, doch die Gefangenen setzten eine dezentrale Versorgung
       durch. „Ich habe gerne gekocht. Das war eine ganz freiwillige Sache, hat
       mir Spaß gemacht. Wir bekamen die Lebensmittel von den Engländern. Ich habe
       viele Suppen zubereitet, Gemüsesuppen. Aber auch Fleisch und Kartoffeln.“
       Das Essen sei ausreichend gewesen, sagt er. Die Engländer hätten ihm sogar
       erlaubt, aus Ziegelsteinen im Freien einen Backofen zu bauen. So konnte er
       auch Brot backen.
       
       Nach etwa einem halben Jahr, im Mai 1947, wurden Frankenstein und Braun
       nach Palästina entlassen. Nur frei waren sie deshalb immer noch nicht.
       Frankenstein kam in das Internierungslager Atlith südlich von Haifa. Dort
       traf er seine Familie wieder, zum ersten Mal seit anderthalb Jahren. „Wir
       standen am Stacheldrahtzaun, ich auf der einen, Leonie und die Kinder auf
       der anderen Seite.“ Der große Sohn Uri erkannte seinen Vater nicht wieder.
       Erst nach einer weiteren Haftzeit in einem anderen Lager kam Frankenstein
       endgültig frei.
       
       Im Mai 1948 lief das britische Mandat über Palästina aus. Die Vereinten
       Nationen stimmten der Teilung des Landes in ein arabisches und ein
       jüdisches Gebiet zu. Der Staat Israel entstand. Dies war zugleich das Ende
       der Internierungslager auf Zypern. Die Insassen durften nach Israel
       ausreisen. Anfang 1949 verließ mit Pinchas Reichman der letzte Jude eines
       der Lager. Mehr als 52.000 Menschen, fast ausschließlich Überlebende des
       Holocaust, waren dort eingesperrt gewesen.
       
       Eine Straße in der zypriotischen Hafenstadt Larnaka. Eine unscheinbare Tür
       in einer Mauer führt auf eine kleine Freifläche. Dort steht eine der
       britischen Wellblechhütten, wie sie zu Hunderten das Lager Xilotimbou
       prägten. Die Hütte sei die letzte gewesen, die noch auf dem früheren
       Camp-Gelände gestanden hätte, sagt stolz Arieh Cohen von der Jüdischen
       Gemeinde und führt hinein. Das Innere ähnelt mit seiner Rundung entfernt an
       einen Flugzeugrumpf, nur dass durch Dutzende kleine Rostlöcher die Sonne
       durchdringt. Am Boden stehen ein paar Feldbetten, dazu hängen Fotos und
       Dokumente aus der Zeit der Internierungslager aus. Eine kleine Erinnerung
       an eine furchtbare Zeit.
       
       Cohen berichtet von der erst seit 2005 bestehenden jüdischen Gemeinde in
       Larnaka, der einzigen auf Zypern. Es sind Lubawitscher Juden, also streng
       Orthodoxe, die sich hier angesiedelt haben. Vor 75 Jahren waren Juden
       zwangsweise auf Zypern, eingesperrt hinter Stacheldraht. Jetzt kommen sie
       freiwillig.
       
       In den Medien auf Zypern ist bisweilen von Konzentrationslagern die Rede,
       wenn es um die Camps geht. Das findet Walter Frankenstein ganz falsch. „Das
       war kein KZ. Es war ein Lager, das von Stacheldraht verschlossen war. Ich
       will den Engländern nicht etwas anhängen, was sie nicht getan haben.“
       
       27 Jan 2025
       
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