# taz.de -- Housing First-Bilanz in Bremen: Auch wer spuckt, darf wohnen
       
       > Bei Housing First bekommen Wohnungslose, die aus allen Hilfesystemen
       > herausfallen, eine Wohnung gestellt. Ein Pilot-Projekt in Bremen zieht
       > Bilanz.
       
 (IMG) Bild: Obdachlos in Bremen: Wenn nichts mehr geht, hilft vielleicht Housing First
       
       Bremen taz | Nein, allein mit einer Wohnung wird nicht alles gut für
       Obdachlose. Die Sucht zum Beispiel, die bleibt oft. Der Mangel an Geld, die
       psychischen Probleme, die Einsamkeit: Es ist ganz gut, sich das bewusst zu
       machen, bevor man sich [1][mit dem Konzept von Housing First]
       auseinandersetzt, das die Obdachlosenhilfe auf neue Füße stellen soll.
       
       Housing First ist ein großes Versprechen. Der Grundgedanke des aus New York
       stammenden Konzeptes lässt sich umschreiben mit „zuerst eine Wohnung“:
       Bevor man alle anderen Probleme von Obdachlosen angeht, löst man die
       zentrale Frage des Obdachs. Das Wohnen gilt als Menschenrecht, der Wohnraum
       wird bedingungslos gewährt, niemand muss vorher bestimmte Ziele erreichen.
       
       „Obdachlos, neun Jahre unter der Brücke geschlafen. Ich bin froh, dass dann
       dieses Housing First da war! Ich hatte immer in Heimen gewohnt oder bei
       Pflegeeltern und so, aber noch nie eine richtig alleine Wohnung.“
       (Teilnehmer*in von Housing First in Bremen).
       
       Im „[2][Nationalen Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit]“ der
       Bundesregierung aus diesem Frühjahr, der das ehrgeizige Ziel verfolgt,
       Obdachlosigkeit bis 2030 abzuschaffen, nimmt Housing First einen wichtigen
       Platz ein. Dabei kam die Idee erst vor wenigen Jahren vorsichtig in
       Deutschland an: Klein zunächst wurde sie hierzulande umgesetzt, in
       einzelnen Städten, für jeweils wenige Obdachlose. Fünf Projekte gab es bis
       2019 – mittlerweile sind es um die 50.
       
       [3][Seit 2022 gibt es in Bremen ein Housing-First-Modellprojekt]. 2025, so
       der Plan, soll das Konzept verstetigt werden. Der [4][ausführliche
       Evaluationsbericht] eines Bremer Forschungsinstituts liegt seit Ende
       September vor, die Zitate in diesem Text sind diesem Bericht entnommen.
       
       Wie muss Housing First ausgestattet werden, damit es funktioniert? Was darf
       man erwarten, wo liegen Grenzen? Am Bremer Beispiel kann man sehen, was
       geht und was nicht.
       
       ## Einfach geht anders
       
       Mit Housing First wird vieles besser, aber: Einfach geht anders. Denn es
       liegt ganz wesentlich an der Zielgruppe: Langzeitobdachlose mit „komplexen
       Problemlagen“, wie es im Konzept heißt. Menschen also mit psychischen
       Problemen oder mit einer Sucht, die aus anderen Hilfesystemen
       herausgefallen sind.
       
       Wer Termine nicht einhält, der ist genau der Richtige. Wer Hausverbot hat
       in der Notunterkunft, an den wendet sich Housing First. Und wer im Hausflur
       seine Nachbar*innen anspuckt, auch der oder die hat sich damit noch
       einmal nachträglich für die Teilnahme an Housing First qualifiziert.
       
       „Die Kollegen von Housing First sind oft zu den Platten der Leute gekommen
       und haben da das Erstgespräch, Zweitgespräch gemacht. Ich fands ’ne totale
       Bereicherung […], weil einfach viele Menschen, die Notunterkünfte nicht
       wahrnehmen oder nicht wahrnehmen können, ihre Nische bei Housing First
       finden. (Straßensozialarbeit der Inneren Mission Bremen)
       
       Es ist nicht ganz leicht, diese Menschen zu treffen, die eine Wohnung
       beziehen sollen: Ja, viele haben Handys – aber vielen Handys fehlt der
       Strom zum Aufladen. Ja, man kann sich vorab verabreden – aber Sucht und
       psychische Erkrankungen machen es schwierig, Termine einzuhalten.
       
       Die Wohnungen, in die sie einziehen, sind über die ganze Stadt verteilt,
       mit Quadratmeter-Preisen zwischen knapp sieben und stolzen 23 Euro – die
       hochpreisigen allerdings sind selten. Durchschnittlich zweieinhalb Monate
       mussten Teilnehmende bis zum Einzug warten. Dabei nahmen mehrere nicht die
       erste Wohnung an. Ein Teilnehmer lehnte fünf Angebote ab, bis etwas
       Passendes gefunden werden konnte. Wohnraum gab es von Anfang an genug:
       Vonovia und die kommunale Brebau boten ausreichend Wohnungen an und zeigten
       sich insgesamt überaus zufrieden mit dem Projektverlauf.
       
       ## Rundum-Sorglos-Programm für Vermieter
       
       Kein Wunder: Housing First in Bremen bietet für Vermieter ein
       Rundum-Sorglos-Programm an. Drei Jahre lang bekommen sie die Garantie, dass
       für Schäden in der Wohnung zu 100 Prozent der Staat aufkommt. Das gibt es
       für andere Mieter*innen nicht.
       
       Und dass sie schwierige Menschen sein können, diese Mieter*innen, nun ja:
       Auch das kann bei anderen Mieter*innen nicht von vornherein
       ausgeschlossen werden. Andere werden aber nicht sozialarbeiterisch
       begleitet.
       
       Und die Begleitung ist intensiv. Denn: Eine Wohnung beziehen, das ist das
       eine. Doch dann kommt das Wohnen.
       
       „So im Moment ist es manchmal nachts auch manchmal so, dass ich manchmal
       ein bisschen Angst habe, wenn so alles komplett leise ist […] Das war am
       Anfang immer so ein Problem. Die ersten Monate oder nur Wochen. Da hab ich
       mich [in der Wohnung] wirklich nur fertig gemacht, hab n paar Stunden
       geschlafen und war dann wieder draußen.“
       
       „Nicht wohnfähig“ ist so ein Urteil über Menschen, das Housing First
       abschaffen möchte. Dass man Wohnen erst lernen muss in betreuten
       Unterkünften, dass man sich „hocharbeiten“ muss von Notunterkunft über
       Mehrbettzimmer und Wohngruppen, das ist das alte Denken.
       
       ## Den Blick öffnen
       
       Und dennoch, auch das gehört zum ganzen Bild: Eine deutliche Verbesserung
       fühlen die Teilnehmer laut Befragung nur in einem Punkt ganz schnell: Fast
       alle bewerten ihr Sicherheitsgefühl besser und ihre Schlafsituation. In
       anderen Bereichen sehen sie ihr Leben schlechter als zuvor: Ihre
       Ausbildungssituation zum Beispiel oder ihren Umgang mit Alkohol. Die eigene
       Wohnung ermöglicht es, den Blick überhaupt zu öffnen für diese Themen,
       erklären die Autoren der Studie. Die Erwartungen an sich selbst steigen.
       
       Bei manchen, auch das gehört zur Realität, verschärfen sich Probleme. So
       kann es sein, dass psychische Probleme auf der Straße unterdrückt wurden –
       und plötzlich Platz bekommen. Andere fallen in Einsamkeit. Vor allem, wenn
       sie sich bewusst von alten Szenebindungen gelöst haben.
       
       „Ende November habe ich sie im Bahnhof beim Betteln [gesehen] und
       angesprochen. Sie sah enorm kaputt und krank aus. Auf Ansprache hat sie
       nicht reagiert, der Druck nach Geldeinnahme war stärker.“ (Teammitglied in
       der Verlaufsdokumentation)
       
       Alte Probleme sind nicht verschwunden, nur weil es eine eigene Wohnung
       gibt. Für viele Menschen mit Suchtproblematik reicht auch in der eigenen
       Wohnung das Geld vom Amt nicht aus. Manche Teilnehmer*innen, heißt es in
       der Projektevaluation, „finanzierten ihren Lebensunterhalt vor
       Projektaufnahme auch von Betteln, Flaschensammeln, Prostitution oder
       Diebstahl und setzten dies auch nach Bezug der Wohnung fort“.
       
       Die negativen Töne dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es ein
       großer Teil der Teilnehmenden genießt, eine eigene Wohnung zu haben.
       Mehrere Teilnehmende nahmen Hobbys auf, fingen an zu nähen, kümmerten sich
       um ihre Balkonpflanzen, planten Urlaube; einer, so heißt es in der Studie,
       „schrieb regelmäßig Leserbriefe an lokale und überregionale Medien.“
       
       ## Eindeutige Erfolge
       
       Wenn man Housing First von zu großen Erwartungen entschlackt, dann bleibt
       die vielleicht wichtigste Frage: Können die Menschen ihre Wohnung behalten
       – oder landen sie wieder auf der Straße? Housing First hat hier eindeutige
       Erfolge vorzuweisen – auch in Bremen. 33 Personen sind über das Projekt bis
       Ende 2023 in eigene Wohnungen gezogen.
       
       Schwierigkeiten gab es einige: 13 Beschwerden von Nachbar*innen über
       Geruchsbelästigung, über lautes Schlagzeugspiel, über heftig ausgetragene
       Konflikte, den Verdacht auf Drogenhandel. Schließlich gab es auch
       Handgreiflichkeiten im Hausflur, Nachbar*innen wurden angespuckt.
       
       Die meisten Konflikte konnten gelöst werden. Zwei Personen bekamen zwar
       eine Räumungsklage – doch für sie wurden neue Wohnungen gefunden. Nur eine
       Frau ist völlig aus dem Projekt herausgefallen – aggressiv sei sie gewesen,
       verweigerte eine Therapie. Eigentlich genau die Zielgruppe des Projekts.
       
       „Gut. Manchmal wird mir das sogar ein bisschen zu viel. Oh, denkste, der
       schon wieder. Nein, das war gut. Sehr gut. Ich kann nichts anderes sagen.“
       (Interview mit Teilnehmenden)
       
       Ohne Hilfe geht es nicht. Rund um den Einzug ist sie am intensivsten,
       danach wird es weniger. In Bremen hat sich die Praxis herausgebildet, dass
       zwei Wochen ohne Kontakt ganz akzeptabel sind. Spätestens dann aber
       versucht das Team, doch Kontakt aufzunehmen: Es wird angerufen und an der
       Haustür geklingelt, Freunde und Familienangehörige werden kontaktiert,
       Suppenküchen oder Obdachlosentreffpunkte abgegrast, Nachrichten
       hinterlassen. Viele nutzen die alten Strukturen und Netzwerke noch, sie
       sehen sich als „Obdachlose in Wohnung“.
       
       ## An der Grenze des Konzepts
       
       Das Team in Bremen bewegt sich damit an der Grenze des Konzeptes:
       Schließlich soll es nie einen Zwang geben, Hilfe anzunehmen. Den Leuten
       hinterherzulaufen, die nicht gefunden werden wollen – ist das noch Housing
       First?
       
       In etwa jedem vierten Fall, heißt es in der Studie, kam es zwischenzeitlich
       oder dauerhaft zu Kontaktabbrüchen – und die gingen meist mit „erheblichen
       gesundheitlichen, psychischen und suchtbedingten Verschlechterungen“
       einher.
       
       Ein ungelöster Konflikt liegt in der Verweildauer. Ende 2023 drängte die
       Bremer Sozialbehörde, Teilnehmer*innen grundsätzlich nach zwei Jahren
       aus dem Projekt zu entlassen, damit neue aufgenommen werden können. Das
       Konzept sieht jedoch „Hilfe, so lange wie nötig“ vor. Für viele war nach
       zwei Jahren noch nicht deutlich, ob sie es alleine schaffen würden.
       
       Die feste Entlassungszeit ist mittlerweile vom Tisch. Druck gibt es
       trotzdem: Jedes Jahr sollen 15 neue Menschen mit dem Projekt in die eigene
       Wohnung gebracht werden; die Zahl der Mitarbeiter*innen wächst aber
       nicht weiter.
       
       Zehn Leute hat man mittlerweile aus dem „aktiven Status“ entlassen. „Sie
       können Hilfe bei uns bekommen, wenn es mal einen Brief gibt, den sie nicht
       verstehen – aber wir müssen uns nicht mehr jede Woche sehen“, erklärt
       Housing-First-Geschäftsführerin Svenja Böning.
       
       Mit einer Wohnung wird nicht alles gut. Aber eine Wohnung ist eine Wohnung.
       Und das ist viel besser als keine Wohnung.
       
       13 Dec 2024
       
       ## LINKS
       
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