# taz.de -- Granny-Restaurant in New York: Spinatlasagne gegen den Trumpweltschmerz
       
       > Im Restaurant „Enoteca Maria“ in New York kochen Großmütter aus aller
       > Welt Gerichte ihrer Heimat. Ein Besuch.
       
 (IMG) Bild: Schichtwechsel in der Enoteca: Die Köchinnen essen und reden, in einer wilden Mischung aus Italienisch und Spanisch
       
       An einem Mittag in diesem viel zu warmen Herbst erzittert der
       Aluminiumrumpf meiner Fähre im Hafen von Manhattan und schießt hinaus auf
       den Hudson River. Versonnen starre ich aus dem Fenster und lächle die
       Freiheitsstatue an. Sie winkt mir aus der Ferne zu.
       
       Nur wenige hundert Meter von hier gingen vor fast genau einem Jahrhundert
       die sizilianischen Großeltern von Joe Scaravella an Land. Ein junges Paar,
       sie Näherin, er Barbier. Wie Millionen Immigranten vor und nach ihnen
       trugen sie [1][den American Dream im Herzen].
       
       Wegen Scaravella sitze ich heute auf dieser Fähre. Ihm gehört die „Enoteca
       Maria“, ein kleines und nach außen hin unscheinbares Lokal im Stadtteil
       Staten Island, 25 Bootsminuten von Manhattan entfernt. Dreißig Großmütter
       – Nonnas, wie sie hier nur heißen – aus der ganzen Welt kochen in der
       Enoteca ihre Familiengerichte im Wechsel, jeweils einmal im Monat. Sie
       stammen aus Usbekistan, Palästina und Trinidad, sind in der Ukraine, Japan,
       Pakistan und Italien geboren.
       
       Die Enoteca ist der fleischgewordene Melting Pot und eine Erinnerung daran,
       dass Großartigkeiten selbst in den USA von 2024 noch einen Platz haben. Ich
       habe mir vorgenommen, hier [2][die Wiederwahl von Donald Trump] und den
       sich immer lauter ankündigenden Untergang der Demokratie für ein paar
       Augenblicke zu vergessen. Das Weltbangen aussperren und mir einen Bissen
       großmütterlichen Focaccia-Trost abholen.
       
       Joe Scaravella, 69 Jahre alt, ist ein freundlich dreinschauender Mann mit
       weißen Locken und winzigen halbmondförmigen Brillengläsern. Er steht hinter
       dem Tresen und kritzelt ununterbrochen neue Reservierungen in sein
       Notizbuch. Hinter ihm kleben an der Wand Geldscheine aus den
       Herkunftsländern der Nonnas, und überall verteilt stehen
       Superhelden-Actionfiguren herum; Iron Man, Hulk, der Joker, Superwoman mit
       roten Stiefeln und blonden Haaren, es sieht fast so aus wie in einem
       Kinderzimmer. Unweit von Spiderman hängt an der Wand auch ein gerahmtes
       Foto von Joe Scaravellas Nonna Domenica, seiner Mutter Maria und seiner
       Schwester.
       
       Als Scaravella innerhalb kürzester Zeit seine Großeltern, seine Eltern und
       seine Schwester verlor, fiel er in eine Depression. 2007 eröffnete er die
       Enoteca. Sie ist das Resultat dieser Trauerphase. Er sehnte sich nach den
       Gerichten aus seiner Kindheit, die er sein Leben lang als
       selbstverständlich empfunden hatte. Scaravella erinnerte sich an die
       frischen Zutaten, die er mit seiner Nonna auf dem italienischen Markt in
       Manhattan auswählte, für Hühnersuppe, die cappuzelle, den Lammkopf und den
       Ochsenschwanz – früher Armenküche, für die man sich nicht selten schämte.
       Heute gilt Ochsenschwanz als Delikatesse und kostet genau so viel wie ein
       Steak, neun Dollar das Pfund, sagt er.
       
       Nach dem Tod seiner Liebsten schaltete Joe Scaravella in der Zeitung
       America Oggi eine Art Kontaktanzeige an italienische Nonnas: „Sie würden
       gerne öfter aus dem Haus gehen? Der Welt zeigen, was Sie können? Ihre
       traditionellen Gerichte teilen?“ Für das Casting des kulinarischen
       Matriarchats tauchten wochenlang Nonnas mit ihren Ehemännern, Kindern und
       Enkeln in Scaravellas Haus in Brooklyn auf, um ihn zu bekochen. „Es war ein
       Karneval, wie in einem Fellini-Film!“ Der Grundstein war gelegt.
       
       Später kamen dann Nonnas aus der ganzen Welt hinzu. Mindestalter 50 Jahre,
       Enkelkinder müssen sie keine haben – das wäre diskriminierend, hat
       Scaravella beschlossen. Vor Kurzem kaufte Netflix die Rechte an der
       Verfilmung seines Lebens. Wer in der Enoteca Maria essen will, muss Wochen
       im Voraus reservieren.
       
       Heute steht Nonna Claudia Gutiérrez aus Mexiko in der schmalen Küche. Vom
       Restaurantbereich trennt sie nur eine Glaswand. Zu ihrer rechten Seite
       schnippelt ein fleißiger älterer Küchenhelfer aus Pakistan grüne Tomaten
       für die Salsa. Scaravella beobachtet ihn aus den Augenwinkeln. „Erst heute
       Morgen gab es Stress. Claudia macht bei seinen Launen nicht mit.“ Er stamme
       aus einer Machokultur und weigere sich, die Köchinnen als Autorität zu
       akzeptieren, sagt Scaravella über seinen Angestellten, lobt dann aber
       dessen Loyalität.
       
       Nonna Claudia, 53, ist mit ihren glatten Wangen und Glitzerohrringen eine
       der jüngsten Nonnas des Lokals. Ihre zwei Enkelkinder leben bei den Kindern
       in Mexiko, auf ihrem Handy hält sie stolz das Ultraschallbild des dritten
       entgegen.
       
       Dann legt sie Bananenblätter im Fleischtopf aus, brät parallel Reiskörner
       in Olivenöl an, rührt in ihrer dunkelroten Sopa Azteca. „Tortilla, tomate
       rojo, chile guajillo, chile padilla, cebolla, ajo, caldo“, diktiert sie mit
       konzentriertem Blick die Grundzutaten auf Spanisch.
       
       Claudia Gutiérrez kam vor einem Jahr aus ihrer Heimatstadt Guadalajara nach
       Staten Island und arbeitet erst seit zwei Monaten bei den Nonnas. Wenn sie
       nicht hier kocht, putzt sie in einem anderen Restaurant, jeden Tag zehn
       Stunden. Sie spricht erst ein paar Brocken Englisch, ich nur ein paar
       Brocken Spanisch. Wir unterhalten uns per Übersetzungs-App. „Die Enoteca
       Maria ist das Beste, was mir in diesem Land passiert ist“, sagt sie und
       lacht ein [3][lautes herzliches Kamala-Harris-Lachen].
       
       Zwanzig Jahre lang betrieb Gutiérrez zusammen mit ihrer Mutter in
       Guadalajara ein kleines Lokal. Mit jedem Jahr verschlimmerten sich die
       Bandenkriminalität und der Drogenhandel, ihr Geschäft lief immer
       schlechter. Vor drei Jahren starb die Mutter. Claudia Gutiérrez schloss das
       Restaurant.
       
       Mit ihren Ellenbogen fährt sie durch die Luft, zuerst rechts, dann links,
       sie imitiert Kriechbewegungen: So robbte sie vor einem Jahr unter dem
       Grenzzaun durch, nachdem sie Schmugglern 5.000 Dollar bezahlt hatte. Sie
       alleine und vier Männer, von denen ein oder zwei nachts plötzlich anfingen,
       sie zu begrabschen. Ein anderer kam ihr schließlich zu Hilfe.
       
       „Der amerikanische Traum existiert nicht“, sagt sie. Ihr Gehalt vom Putzen
       reiche nicht einmal aus, um ihren Kindern etwas Geld nach Mexiko zu
       schicken. Wie zur Beruhigung rührt sie in ihrer dampfenden Sopa und klagt
       über das Leben in Amerika, die Mietpreise, die Missgunst unter den
       Mexikaner:innen hier. Dann hält sie mir einen Löffel entgegen, ich
       soll probieren. Die Suppe schmeckt köstlich und raffiniert. Die Schärfe der
       Chilis in der heißen Tomatenmasse wird durch Limette und Avocado perfekt
       kontrastiert. Wenn es eine Wahrheit im Leben gibt, dann diese: Ich möchte
       fortan nur noch Sopa Azteca essen.
       
       „Trump?“ Gut sei er für die Wirtschaft, glaubt Claudia Gutiérrez. Sorgen
       um ihren Asylantrag mache sie sich keine, der sei ja schon in Bearbeitung.
       
       Eigentlich wollte ich mich ja von den großen weltpolitischen Themen
       fernhalten heute, das erübrigt sich im Gespräch mit Gutiérrez. Aber so ist
       es mir viel lieber, das verstehe ich jetzt. Die Enoteca Maria ist zwar ein
       Konzept. Aber eben auch ein echter Ort mit echten Menschen und ihren
       Geschichten.
       
       Auf der Speisekarte stehen heute Nonna Claudias Gerichte sowie ein festes
       italienisches Menü. Alle Reservierungen sind auf Punkt halb drei am
       Nachmittag gelegt, allmählich füllen sich die dreißig Sitze im Restaurant,
       die Kellner:innen hetzen schon hin und her. Die Atmosphäre ist
       freundlich und familiär. Da ist der Finanzier aus Manhattan, der an seinem
       Urlaubstag eine kulinarische Tour unternimmt. Die drei Schwestern aus
       Oberösterreich, das indische Paar aus Kalifornien. Alle haben sie die
       Nonnas auf Social Media entdeckt, sagen sie.
       
       Als Vorspeise gibt es für alle Olivenfocaccia mit eingelegtem Gemüse. Ich
       sitze an der Bar und bestelle eine große Portion Sopa Azteca und einen
       Pinot Grigio. Als Hauptgang eine Spinatlasagne, die wahrscheinlich nicht
       den Ernährungsprinzipien von Heidi Klum entspricht. Ich schiebe mir
       Lasagnestückchen in den Mund und bin so glücklich, wie ein Mensch es zwei
       Wochen nach dieser Präsidentschaftswahl nur sein kann.
       
       Vor dem Restaurant hält ein Bus der städtischen Verkehrsgesellschaft. Eine
       kleine Frau steigt aus, tritt mit sicherem Schritt auf den Bürgersteig und
       öffnet die Tür zur Enoteca. Das Personal eilt wie im Gänsemarsch herbei, um
       sie zu umarmen und ihr einen Kuss auf die runzelige Wange zu drücken, auch
       Joe Scaravella ist dabei.
       
       Maria Gialanella, 90 Jahre alt, ist im Städtchen Avellino in der Nähe von
       Neapel geboren und kam wie Scaravellas Großmutter mit Anfang 20 als Näherin
       nach New York. Früher war eine Deutsche die älteste Köchin der Enoteca,
       dann wurde sie zu schwach. Heute ist es Nonna Maria. Sie hat makellos
       lackierte pinke Fingernägel, trägt pinken Lippenstift und spricht auch nach
       all den Jahren noch gebrochenes Englisch.
       
       Maria Gialanella kocht hier seit zwölf Jahren die Gerichte ihrer Region,
       die sie noch von ihrer Großmutter gelernt hat. Eingelegte Zucchini zum
       Beispiel, und auch meine Spinatlasagne hat sie gezaubert. Wie Claudia
       Gutiérrez liebt auch sie ihren Job, „because everyone here loves me and my
       food“.
       
       Das Restaurant ist nun, um kurz nach vier, wieder fast leer. Zum
       Schichtwechsel setzen Nonna Maria und Nonna Claudia sich an den Tisch. Sie
       kichern, gestikulieren, sprechen einen wilden Mischmasch aus Italienisch
       und Spanisch und essen Linguine. Schon sie zu beobachten tröstet über die
       Welt da draußen ein wenig hinweg.
       
       29 Nov 2024
       
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