# taz.de -- Demokratie unter Beschuss: Dialektik des Widerstandes
       
       > Die Errungenschaften der Gegenwart sind von rechts bedroht. Diese
       > Barbarei zu bekämpfen ist nötig und unumgänglich, zugleich aber auch zu
       > wenig.
       
 (IMG) Bild: Verloren: Kamala Harris bei ihrer letzten Wahlkampfveranstaltung am 4.11.2024
       
       „Fühlt Euch nicht in die Ecke gedrängt, eingeengt. Bewegt Euch, so gut ihr
       könnt, durch diese Welt um Euch herum“, schrieb Patti Smith am Tag nach der
       Trump-Wahl. Und endete: „Zurück an die Arbeit.“ Es war ein erster,
       schneller Versuch, mit dem Schock zurande zu kommen. Dieser depressiven
       Erstarrung. Erst heilen, erst Self Care, aber dann: „Zurück an die Arbeit.“
       Ist das trotzig, kämpferisch? Oder vor allem „zurück an die Arbeit“, was ja
       auch heißt: zurück zum Eigenen, sich nicht beirren lassen von Umständen,
       die womöglich so lähmen, dass einem die Fähigkeit abhandenkommt, diese
       Umstände zu ändern.
       
       Die Welt geht gerade ein bisschen den Bach herunter. Krieg, Krise,
       Verrücktheit, das Regressive, die Angst, negative Nachrichten schlagen in
       unsere Hirne ein. Von der „Nachrichtenerschöpfung“ sprechen schon die
       Zeitdiagnostiker. Die Abfolge an schlechten Nachrichten trägt selbst zur
       Atmosphäre der Dauergereiztheit bei, sie produziert auch einen Groll, der
       Ursache der nächsten schlechten Nachrichten wird.
       
       Diese Rasanz, mit der kippt, was man an Status quo erreicht zu haben
       glaubte, an eh nur halbwegs progressiven, pluralistischen Demokratien.
       Rechtsextreme werden zur Nummer eins, wie in Österreich, in Italien, der
       ethnonationalistische Autoritarismus [1][bringt selbst Trump zurück]. Und
       jetzt auch noch Neuwahlen in Deutschland, deren Ausgang ungewiss ist, aber
       dass die Dinge einen fulminant erfreulichen Lauf nehmen werden, ist dann
       doch eher unwahrscheinlich. „Zurück an die Arbeit“, das heißt auch: nicht
       „trotz alledem“, sondern gerade deswegen.
       
       ## Die dauernde Defensive ist eine Falle
       
       Bloß, was ist das für eine Arbeit, an die wir zurück sollen? Die
       Verteidigung der demokratischen Institutionen, um das Schlimmste zu
       verhindern? Eine ehrenwerte und nötige Sache, gewiss. Man soll die
       Verhinderung des Schlimmsten nicht verächtlich machen. Wir kennen diese
       falsche, höhnische Frage, was es denn zu verteidigen gebe in dieser Welt,
       die [2][viel mehr unperfekt als perfekt ist].
       
       Andererseits: Die dauernde Defensive ist auch eine Falle. Man steht leicht
       ohne nennenswerte sonstige Ziele da, wenn man nur mehr das Schlimmste
       verhindern will und nur mehr auf die Gefahr starrt, die es abzuwenden gilt.
       Mehr noch: Man wird mit dem Institutionengefüge identifiziert, mit dem
       Status quo, dem, was sie „das System“ nennen. Wer in diese Falle tappt,
       steht schon fast auf verlorenem Posten. Man scheitert dann selbst an der
       Verteidigung dieser Institutionen, gerade weil man nur mehr als deren
       Verteidiger wahrgenommen wird – eine Art trauriger Dialektik.
       
       Wer nur verteidigt, verteidigt schlecht. Jeder spürt das. Widerstand ist
       notwendig – und zugleich viel zu wenig.
       
       [3][Es gab mehrere Gründe, warum Kamala Harris verlor] – die Misogynie war
       einer, ihre überstürzte Kür ein weiterer, dass sie „Regierungskandidatin“
       war ein dritter. Aber das gehörte eben auch dazu: Hier stand eine
       erfolgreiche Frau, eine Westküsten-Starjuristin, in Designer-Hosenanzügen,
       der Uniform der zeitgenössischen Erfolgskultur, mit Perlenketten, und
       repräsentierte schon durch Bild- und Bodylanguage die Elitenkultur der
       Upper-Upper-Class. Also ein „System“, das viele Verlierer und Verwundete
       produziert. Und ihre zentrale Botschaft war: [4][Verteidigt den Status quo]
       gegen den Sturmlauf der Barbaren.
       
       ## Die Rechte tritt organisiert auf
       
       Wir stehen – soweit zur „Arbeit“, die wir vor uns haben – beinahe überall
       vor demselben Problem: Der rechtsextreme Autoritarismus hat die Hegemonie,
       bestimmt die Themen, das, worüber diskutiert wird, er setzt den Takt, und
       die anderen reagieren nur mehr darauf, [5][sogar dann, wenn er in der
       Minderheit ist]. Und er beutet jede Schwäche und jede Inkonsequenz
       schonungslos aus. Die rechten Strategen haben das gut erkannt, nämlich,
       dass man keine Wahlen gewinnt, bevor man nicht die Themensetzung bestimmt.
       
       Freilich gibt es natürlich nie einen Kampf um die Hegemonie, der nicht vom
       Gegenüber mitbestimmt wird: Denn es gibt keine Position, die sich nicht
       über die Gegnerschaft zu anderen Positionen definiert. Um das in Carl
       Schmitts Worten zu sagen, des großen Säulenheiligen der zeitgenössischen
       radikalen Rechten: Es gibt keine politischen Begriffe, die keine
       Dissoziation, also Gegnerschaft artikulieren.
       
       Bei den Rechten ist das etwa die Multikulturalität, nicht nur in Hinblick
       auf die Diversität der Einwanderergesellschaft, sondern auch in Hinblick
       auf die Werte- und Lebensstil-Diversity heutiger Gesellschaften, mit ihrem
       „leben und leben lassen“ und ihrem „anything goes“, ihren Genderfragen und
       ihren „Kulturkampf“-Triggerthemen. Auch ihre Thematiken kommen nicht aus
       dem Nichts, sondern aus einem Kontra, aus Gegnerschaft.
       
       ## Das Gegenmittel: inspirierendes Chaos
       
       Die Gegenwart lehrt uns, dass die Abwehr der Barbarei nicht gelingen wird,
       wenn sie rein defensiv bleibt. Gegenwart und Geschichte lehren, dass man
       einerseits das Verstunkene, das Verstockte, das Autoritäre und Repressive
       angreifen, dabei aber auch ein Bild künftiger besserer Lebensweisen
       entstehen lassen muss.
       
       Diese Visionen bilden sich im Brodelnden, Elektrisierenden des Neuen, in
       der Kunst, der Literatur, der Poesie, den Wissenschaften, der Architektur,
       mit Rationalismus, mit Stilrevolutionen; in der Verbesserung von
       Stadtteilen, in den kleinen Utopien hier und da, der Freude an der
       Freiheit. Tausende Impulse, jeder für sich scheinbar unwichtig, die sich in
       Summe aber zu gesellschaftlichen Atmosphären addieren. Das ist die Arbeit
       einer freien Zivilgesellschaft, die vordergründig überhaupt nichts mit
       Wahlkämpfen zu tun hat, bei der aber jede und jeder ihren kleinen Beitrag
       leistet, damit Wahlen anders ausgehen. Eben „Arbeit“ im vorpolitischen
       Raum. Gewissermaßen ein Antifaschismus, der nicht dauernd auf die
       Faschisten starrt.
       
       Vielleicht sollten wir Patti Smiths Aufmunterung so verstehen: Zurück
       jeweils an die Arbeit, die jeder von uns am besten kann.
       
       13 Nov 2024
       
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