# taz.de -- 500 Jahre Bauernkrieg: Mistgabeln unterm Regenbogen
       
       > Vor 500 Jahren zogen die Bauern in einen Freiheitskampf. Ein Besuch im
       > thüringischen Mühlhausen, wo sich ihr Anführer Thomas Müntzer
       > radikalisierte.
       
 (IMG) Bild: Thomas Münzer spricht vor aufständischen Bauern
       
       Ein redegewandter, schwarz gekleideter Mann mit schwarzem Barett feuert
       eine kleine Menschengruppe unermüdlich an. Es sind mittelalterlich
       anmutende Marktfrauen und Bäuerinnen, Viehzüchter mit Ochsenkarren,
       Handwerker, Tagelöhner, die über die kopfsteingepflasterten Altstadtgassen
       im thüringischen Mühlhausen ziehen. An den katholischen Geistlichen und
       Amtsträgern lässt der sprudelnde Redner, der selbst wie solche gekleidet
       ist, kein gutes Haar. Er nennt sie: „Herren, die nur fressen und saufen“,
       „hochverdammte Bösewichte“, „eine Plage des armen Volkes“, „wuchersüchtige
       und zinsaufrichtende, hodensäckige Doktoren“, „Hurenhengste und
       Labscheißer“, „des Teufels Pfaffen“.
       
       Im Städtchen Mühlhausen in Thüringen findet an diesem Sommertag gerade die
       Generalprobe für eine Aufführung statt, in der anlässlich von 500 Jahren
       Bauernkrieg die Revolte der Landbevölkerung gegen die Ausbeutung durch ihre
       Feudalherren, angeführt von Thomas Müntzer – Theologe, Reformator,
       Revolutionär in Personalunion – buchstäblich auf die Straße gebracht werden
       soll. Geplant ist ein Jubiläumszug von Mühlhausen ins 70 Kilometer
       entfernte Bad Frankenhausen, auf den Spuren des Bauernheers um Müntzer.
       2025, im Jubiläumsjahr der Aufstände, soll hier groß gedacht werden: mit
       dem historischem Umzug, mit einer Landesausstellung zum Bauernkrieg mit dem
       Titel „[1][Gerechtigkeyt 1525“] und [2][weiteren Veranstaltungen rund ums
       Thema].
       
       Mühlhausen ist eine Überraschung: eine begehbare, fast gänzlich erhaltene
       Stadtmauer, mittelalterliches Fachwerk, elf Kirchen. In der sanierten und
       umgebauten Jakobikirche ist nun eine repräsentative Stadtbibliothek. Die
       thüringische Kleinstadt mit einem intakten, mittelalterlichen Zentrum und
       dem üblichen, deprimierenden Leerstand ostdeutscher Kleinstädte liegt
       abseits der Autobahn A 4 und ist damit nicht im Blickfeld der
       Durchreisenden, die das aufgehübschte Fachwerk von Rothenburg ob der Tauber
       zwar massenhaft bewundern, aber mittelalterliche Kleinode jenseits der
       Hauptrouten nur selten aufsuchen. Das soll sich 2025 ändern.
       
       ## Der radikale Prediger
       
       Thüringen gilt als Bauernkriegsnest, neben vielen anderen Schauplätzen in
       Südwestdeutschland, Oberschwaben, den Alpenregionen, Württemberg, Franken
       bis nach Mitteldeutschland. Die damalige Freie Reichsstadt Mühlhausen mit
       ihrem radikalen Prediger Thomas Müntzer ist ein Zentrum des Bauernkriegs,
       der zumindest das kollektive Gedächtnis des südlichen Deutschlands geprägt
       hat. Viele Begrifflichkeiten sind noch präsent. Etwa die
       Bundschuh-Bewegung: So wurden die aufständischen Bauern in den Jahren 1493
       bis 1517 in Südwestdeutschland genannt. Sie trugen als Fahne einen
       Bundschuh, den mittelalterlichen Schnürschuh.
       
       Die Bewegung war eine der Wurzeln des deutschen Bauernkriegs, der Name
       Bundschuh wurde von der Anti-AKW-Bewegung wieder aufgegriffen. Oder Florian
       Geyer: Der Reichsritter war bei Ausbruch des Bauernkriegs 1525 als
       Verhandlungsführer der Tauberbauern tätig. In der DDR trugen bäuerliche
       Großbetriebe seinen Namen.
       
       Friedrich Engels schreibt in seinem Essay „Der deutsche Bauernkrieg“: „Nur
       in Thüringen unter dem direkten Einfluss Müntzers … wurde die plebejische
       Fraktion der Städte von dem allgemeinen Sturm so weit fortgerissen, dass
       das embryonische proletarische Element in ihr momentan die Oberhand über
       alle andern Fraktionen der Bewegung bekam.“
       
       Thomas Müntzer war anfangs Martin Luthers begeisterter Mitstreiter. Ebenso
       wie Luther will auch Müntzer die Kirche reformieren. Auch er wettert gegen
       den Verkauf von Sündenerlässen und religiösen Ämtern, gegen das Predigen
       der Heiligkeit des Zehnten und die Vermarktung sämtlicher Sakramente. Eine
       gängige Praxis damals, vom Papst bis zum Dorfpriester.
       
       Wie Luther heiratet Müntzer, entgegen den Regeln des Zölibats, eine Nonne.
       Aber er predigt auch von seinen Visionen und spirituellen Erfahrungen.
       Bauernaufstände führen zum Bauernkrieg, und Thomas Müntzer kämpft auf
       Seiten der Bauern. Ihre Wege trennen sich. Es kommt zu Beschimpfungen.
       Luther nennt Müntzer einen „Satan“, „Weltfresser“, „lügenhaften Teufel“.
       Müntzer beschimpft den Reformator als „geistloses, sanftlebendes Fleisch zu
       Wittenberg“.
       
       ## Privilegien aufheben, Klöster auflösen
       
       Müntzer hatte in der Mühlhäuser Marienkirche, nach Stationen unter anderem
       in Halberstadt, Leipzig, Prag und Erfurt, seinen Wirkungskreis. Die
       Marienkirche ist das zweitgrößte Kirchengebäude Thüringens nach dem
       Erfurter Dom. In Mühlhausen versucht er seine Vorstellungen einer gerechten
       Gesellschaftsordnung umzusetzen: Privilegien wurden aufgehoben, Klöster
       aufgelöst, Räume für Obdachlose geschaffen, eine Armenspeisung
       eingerichtet. Er gründet mit Gleichgesinnten den „Ewigen Bund Gottes“, der
       sich gegen Fürsten und Klerus auflehnte.
       
       Die Regenbogenfahne, die das Bauernheer um Müntzer mit sich trug, wurde auf
       Kosten des Rats der Stadt gefertigt. 35 Meter groß und aus Seide, zeigte
       sie auf weißem Grund einen Regenbogen als Zeichen des ewigen Bundes Gottes.
       Die Regenbogenfahne ließ Thomas Müntzer in der Marienkirche von Mühlhausen
       aufstellen: „Symbol für seinen militant-missionarischen Anspruch, den
       Aufstand im Namen Gottes weiter zu verbreiten. Der Regenbogen stand
       zeichenhaft für den Bund, den Gott nach Wortlaut des AltenTestaments
       (Genesis 9,9–17) mit seinem Volk geschlossen hatte“, schreibt Gerd
       Schwerhoff in seinem aktuell erschienenen Buch „Der Bauernkrieg. Geschichte
       einer wilden Handlung“.
       
       Von der Kanzel feuert Müntzer die Bauern an: Die Obrigkeit müsse die
       Gottlosen bestrafen und die Frommen beschützen – das sei ihr göttlicher
       Auftrag. „Wenn dies aber nun auf redliche Weise und füglich geschehe, so
       sollen es unsere teuren Väter, die Fürsten, tun, die Christum mit uns
       bekennen. Wo sie aber das nicht tun, so wird ihnen das Schwert genommen
       werden.“
       
       Mit diesen Worten begründet Thomas Müntzer ein Widerstandsrecht gegenüber
       den weltlichen Machthabern. Ganz im Gegensatz zu Martin Luther, der die
       gottgegebene Autorität der Obrigkeiten nie in Frage stellt. In dem „Brief
       an die Fürsten zu Sachsen von dem aufrührerischen Geist“ nennt er Müntzers
       Theologie eine „furia“ – eine „Raserei des Satans“. Müntzer ist nun Luthers
       Feind.
       
       Über 100.000 Exemplare werden von der Lutherbibel gedruckt. Luther hat
       Erfolg. Aber Müntzer hält als Erster den Gottesdienst auf Deutsch. Selbst
       die lateinischen Gesänge übersetzt er. Seine Gottesdienste sind gut
       besucht. Seine Botschaft: Gott ist gerecht. Er dulde keine Tyrannei. Er
       verheiße allen Menschen Freiheit und Gerechtigkeit nicht erst im Himmel,
       sondern auf Erden. Müntzer will im Gegensatz zu Luther nicht nur die
       Religion reformieren, sondern die Gesellschaft.
       
       Das Stadtarchiv von Mühlhausen hat seinen Sitz im Rathaus, einem
       Gebäudeensemble im Zentrum der Altstadt und nicht weit vom Kornmarkt, wo
       nun auf Initiative Mühlhäuser Bürger Dürers Bauernkriegsdenkmal nachgebaut
       wird. Der älteste Teile des Rathauses stammt aus dem 13. Jahrhundert. Im
       untersten Gewölbe befindet sich noch heute das Reichsstädtische Archiv.
       
       Stadtarchivar Helge Wittmann führt in die Räume im Kellergeschoss. Die
       Deckengewölbe sind niedrig, es gibt bemalte Schränke und Truhen aus dem 17.
       Jahrhundert. „Für die deutsche Geschichtswissenschaft hat das Archiv mit
       seinen wertvollen Quellen eine ungewöhnlich große Bedeutung“, sagt
       Wittmann. Hier lagern Briefe und Schriften von Thomas Müntzer. 1949 erlitt
       es allerdings einen herben Verlust: „Die DDR schenkte damals Josef Stalin
       zu seinem 70. Geburtstag einen Aktenband mit einem großen Teil des
       schriftlichen Nachlasses von Thomas Müntzer“, erzählt der Stadtarchivar.
       
       Dieses Vorgehen passt zur gezielten Mythologisierung des radikalen
       Reformators in der DDR als prototypische kommunistische Heldengestalt ohne
       Fehl und Tadel, dessen Konterfei auf die Fünfmarkscheine der DDR gedruckt
       war.
       
       „Müntzer ist ja als Wanderprediger der Reformation und, wenn Sie so wollen,
       der Revolution unterwegs. Überall gab es Gemeinschaftsbildung derjenigen,
       die sowohl in religiösen als auch in politischen Dingen ihren Weg suchten.“
       Müntzer ist mit den Bewegungen, die von der Kirche als Häretiker verdammt
       wurden, in Berührung gekommen: mit den Lehren eines Jan Hus zum Beispiel,
       der die Autorität des Papstes in Frage stellte und am 6. Juli 1415 auf
       einem Scheiterhaufen in Konstanz endete. Oder mit den Waldensern, einer
       Gemeinschaft religiöser Laien, die Armut predigten, dafür von der
       Inquisition verfolgt wurden und heute noch in Italien ihre Gemeinden haben.
       
       „Eine entscheidende Radikalisierung Müntzers, eine Hinwendung zur Gewalt,
       die gibt es dann wirklich in Mühlhausen“, sagt Wittmann über Müntzers Zeit
       dort. Im Glauben Müntzers entsteht nach der Apokalypse eine neue
       gesellschaftliche Ordnung in der nur der Glaube zählt, nicht der Stand.
       „Mir fällt es allerdings schwer, Müntzer als Heldengestalt zu sehen, als
       Vorkämpfer für eine gerechte Welt. Er dachte apokalyptisch. Er denkt, das
       Ende der Welt kommt und nur die Gerechten werden Gott schauen“, sagt
       Wittmann. Mit weißen Schutzhandschuhen zieht er einen noch erhaltenen,
       handgeschriebenen Brief Müntzers aus der Schublade.
       
       Nicht nur in der Geschichtsschreibung der DDR sieht man Müntzer indes
       anders, nämlich sehr viel idealisierter. Im Sinne Friedrich Engels’ in „Der
       deutsche Bauernkrieg“ wird Müntzer als ein Anführer der „frühbürgerlichen
       Revolution“, so die DDR-Einordnung des Bauernkriegs, verehrt. Auch der
       Philosoph Ernst Bloch sieht Müntzer als einen revolutionären Denker, als
       einen Theologen der Revolution. Der Franzose Éric Vuillard beschreibt in
       „Der Krieg der Armen“ glühend Müntzers Kampf für Gerechtigkeit.
       
       Denn um Gerechtigkeit und Befreiung ging es den Bauern, Handwerkern und
       Tagelöhnern. 95 Prozent der Bevölkerung Europas gehörten damals diesem
       Stand an. Sie wurden ausgebeutet von Klerus und Adel. Vor allem in
       Süddeutschland lebte ein Großteil der Bauern am Existenzminimum, die Hälfte
       von ihnen in Leibeigenschaft. Und die katholische Kirche rechtfertigte das
       System und verdiente fleißig mit: Sie bereicherte sich, über die Abgaben
       der Leibeigenen hinaus, noch mittels des Ablasshandels, mit dem sie unter
       anderem prächtige Kirchen finanzierte.
       
       Die [3][Zwölf Artikel], welche die süddeutschen Bauern 1525 in Memmingen
       gegenüber den Fürstentümern des Schwäbischen Bunds erhoben, sind das
       politische Manifest der Bauernaufstände. Sie sind auch eine der ersten
       schriftlichen Forderungen nach Menschen- und Freiheitsrechten in Europa.
       Die Bauern verlangten darin die Aufhebung der Leibeigenschaft, die
       Abschaffung von Frondiensten und Abgaben, die Rückkehr zu alten Freiheiten
       und Rechten (Jagd, Fischfang und Holzschlag) sowie die freie Wahl des
       Pfarrers.
       
       Als die Feudalherrn den Druck erneut verstärken und die Steuern anheben,
       bricht der Aufstand der Bauern zunächst im Süden Deutschlands aus.
       Sogenannte Bauernhaufen ziehen durch das Land. Sie plündern Klöster,
       Schlösser und Kirchen. Sie rächen sich zum Teil auf brutale Weise an ihren
       Gutsherren.
       
       Vuillard schildert in „Der Krieg der Armen“ folgendes Szenario: „Die
       Revolte grollt. In Hessen, in Oberfranken, in Thüringen, in Sachsen,
       allenthalben drängt man vor, prallt aufeinander. Mühlhausen und Erfurt
       bilden das Herzstück dieser Volkserhebung. Burgen werden geschliffen,
       Festungswälle gesprengt: überall wird erzählt, dass die Bauern rebellieren,
       dass sie bis nach Rom ziehen werden.“
       
       Das fürs Jubiläumsjahr 2025 probende Bauernheer ist inzwischen von
       Mühlhausen weiter gezogen in Richtung Kyffhäusergebirge: auf jener Strecke
       also, auf der Müntzer und seine Anhänger in die tödliche Schlacht gezogen
       sind. Es ist eine hügelige, liebliche Mittelgebirgslandschaft, ideal für
       Wanderungen und Ausflüge. Nahe dem Freizeit- und Erholungspark Possen –
       einem beliebten Ausflugziel – hat der kleine Haufen seine Wagenburg
       aufgebaut. Es gibt Kraut, Wurst, Steinbrot, Bier. Von hier sind es noch
       rund 30 Kilometer nach Frankenhausen. Dem Ort der Entscheidungsschlacht.
       
       Am 15. Mai 1525 kommt es bei dem heutigen Bad Frankenhausen zur blutigen
       Schlacht. Anfang Mai 1525, kurz vor dem Kampf, verfasste Luther die Schrift
       „Wider die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern“, mit der er
       sich direkt an die Fürsten wandte. Wörtlich ruft er die Landesherren dazu
       auf, die Revoltierenden zu töten, dies sei eine religiös-verdienstvolle
       Tat: „Man soll sie zerschmeißen, würgen, stechen, heimlich und öffentlich,
       wer da kann, wie man einen tollen Hund erschlagen muss“.
       
       Der Bürgermeister vom heutigen Bad Frankenhausen, Matthias Strjec, ist ein
       engagierter Mitinitiator der Veranstaltungen rund um das
       Bauernkriegsjubiläum. Er steht vor dem Panoramamuseum auf dem Schlachtberg
       oberhalb seiner Stadt. Das runde Monumentalgebäude wirkt wie ein verirrtes
       Ufo. Elefantenklo nennen es die Einheimischen. „Hier auf dem Schlachtberg
       erlitten die Bauern am 15. Mai 1525 ihre blutige Niederlage“, sagt Strejc.
       „Ein Bilderdom der Superlative wurde hier zu DDR-Zeiten zum Gedenken daran
       errichtet. Anfangs war es nicht unumstritten, jetzt ist es hier nicht mehr
       wegzudenken. Und er bringt uns Besucher“, fasst Strejc die Umstände
       zusammen. Für den Umzug und die Schlachtinszenierung, die die Stadt
       gemeinsam mit den Laien-Schaustellern vom Thüringer Ritterbund organisiert,
       schneidern Einwohner der Stadt derzeit Kleidungsstücke, die denen der
       Bauernkriegszeit nachempfunden sind.
       
       Gerd Lindner, der Museumsdirektor, führt über eine steile Treppe zum
       Panoramagemälde. „Der Bauernkrieg endete mit keinem historischen Sieg,
       sondern mit einer blutigen Niederlage. Aber die DDR wollte ja ein positives
       Geschichtsbild vermitteln“, sagt er. Der Auftrag zur Ausgestaltung des
       Museums sei daher mit hohen gesellschaftlichen und politischen Erwartungen
       verknüpft gewesen. Es sollte ein kulturpolitisches Prestigeobjekt werden,
       ein geschichtsdidaktischer Weihetempel zum Bauernkrieg.
       
       Der Leipziger Maler und SED-Genosse Werner Tübke übernahm den Auftrag: Auf
       1.800 Quadratmetern gestaltete er ein Monumentalgemälde. Nach elf Jahren
       stellte er sein Werk 1987 fertig. Den politischen und ideologischen
       Erwartungen widersetzte sich der selbstbewusste Professor aus Leipzig aber.
       Er wolle nicht belehren oder Gehirnwäsche betreiben, sondern Kunst
       erstellen, sagte er in einem Interview.
       
       „Statt historisierender Schlachtenmalerei hat er eine ganze Epoche
       abgebildet, den Übergang vom Mittelalter zur frühen Neuzeit“, sagt
       Museumsdirektor Lindner. Nicht im Sinne eines linearen, sozialistischen
       Geschichtsverständnisses – immer dem Fortschritt entgegen –, sondern „als
       zyklisches Welttheater“. „Die Geschichte der Menschheit als
       Leidensgeschichte. Er hat uferlos Fachliteratur studiert, um sich
       einzuarbeiten ins Thema, in den Bildstoff und die Zeit“, sagt Lindner.
       Tübke hat im Stile der alten Maler des 16. Jahrhunderts gemalt, eines
       Hieronymus Bosch oder Pieter Breughel.
       
       Das riesige, bunte Rundgemälde erschlägt mit seiner Detailversessenheit und
       zieht in seinen Bann. Namenlose Bettler, Prostituierte, Priester und Bauern
       bevölkern das Bild, aber auch ein janusköpfiger Reformator Martin Luther,
       die Künstler Riemenschneider und Dürer, die Handelsherren Fugger und
       Welser. Ein Figurenkabinett der Zeit, zwischen bedrohlichen Teufeln,
       drohenden Todesengeln und lasterhafter Verführung. Die Weltgeschichte
       treibt, ganz im Stile Thomas Müntzers, ihrer Apokalypse entgegen.
       
       „Das ist so, wie Umberto Eco in der Literatur – das heißt, er zitiert die
       Werke und setzt quasi voraus, dass der Betrachter das Zitat erkennt und die
       Veränderung, die der Maler am Zitat vorgenommen hat, und den Kontext, den
       er neu entwickelt“, erklärt Lindner. „Etwa der immer wieder im Gemälde
       auftauchende Fuchsschwanz: Er bedeutete im Mittelalter Durchtriebenheit und
       Unehrlichkeit.“
       
       Es gibt unendlich viel zu entdecken in diesem „Welttheater“ mit seinen
       3.000 Figuren, die zu allen vier Jahreszeiten ihrer Bestimmung nachjagen
       und auf dem das Bauernheer unter dem Regenbogen zugleich seiner Vernichtung
       entgegenzieht. Ein 6.000 Mann starkes Söldnerheer der Fürsten mit Reitern
       und Kanonen kämpft gegen ein 7.000 Mann starkes Bauernheer. Ein Fußvolk
       ohne Kampferfahrung mit Dreschflegeln und Forken. Und mittendrin steht –
       noch unbeschadet – Thomas Müntzer. Er wird später in Mühlhausen tagelang
       gefoltert, aufgehängt, sein Kopf vor den Toren der Stadt aufgespießt. Und
       Mühlhausen verliert zur Strafe die Stadtrechte.
       
       Drei Tage vor der mörderischen Schlacht bei Frankenhausen, am 12. Mai 1525,
       wurden die aufständischen Bauern auch bei Böblingen nahe Stuttgart
       innerhalb weniger Stunden vernichtend geschlagen. Die Bilanz des Kriegs war
       schrecklich: 75.000 bis 100.000 Menschen starben für die Idee von
       Gerechtigkeit. Etwas, worum auch 500 Jahre später noch an vielen Orten
       gekämpft wird auf der Welt.
       
       24 Oct 2024
       
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