# taz.de -- Autoren über Antiimperialismus: „Hang zu binären Weltbildern“
       
       > „Kritisch“ statt „bedingungslos“ müsse Solidarität sein – dafür plädierte
       > die Gruppe Demontage. Wie sieht sie den Hamas-Support einiger Linker von
       > heute?
       
 (IMG) Bild: Auch sie nimmt Israel womöglich ausschließlich als Kolonialist wahr: Greta Thunberg bei Pro-Palästina-Demo am 7.10.2024 in Berlin
       
       Ihr 1999 erschienenes Buch „Postfordistische Guerrilla. Vom Mythos
       nationaler Befreiung“ markierte eine Zäsur in der radikalen Linken. Der
       [1][traditionelle Antiimperialismus] hatte sich oft bruchlos an die Seite
       von militanten Bewegungen im Globalen Süden gestellt – auch wenn deren
       Agenda mit den eigenen Zielen kaum vereinbar war. Die Hamburger Gruppe
       Demontage wies auf diese Widersprüche hin, ihre Kritik wurde breit
       diskutiert. 
       
       taz: Den [2][7. Oktober] hat ein Teil der Linken als „revolutionärer Tag,
       auf den wir stolz sein können“, gefeiert. Ist so die bedingungslose
       Solidarität des [3][alten Antiimperialismus] unter postkolonialen Prämissen
       zurückgekommen? 
       
       Olaf Berg: Das ergibt sich weder aus dem Antiimperialismus noch aus
       [4][postkolonialen Theorien] zwangsweise. Uns wurde damals vorgeworfen, wir
       würden mit dem Buch Schulnoten verteilen, würden uns anmaßen, über
       Befreiungsbewegungen zu urteilen. Der Impuls zu sagen, „Die kämpfen und wir
       können nur irgendwie folgen“, ist sehr alt. Natürlich müssen wir mitdenken,
       welche privilegierte Situation wir haben. Aber das entbindet uns ja nicht
       davon, für uns zu entscheiden, womit wir eigentlich solidarisch sein
       wollen.
       
       taz: Heute wird die Verpflichtung zur Solidarität oft moralisch begründet –
       mit Verweis auf Kolonialismus, Hautfarbe und Privilegien. Ist das auch alt? 
       
       Gaston Kirsche: Die ideologische Ummantelung hat sich sicher geändert. Der
       moralische Impetus – ich lebe in einem Land, dessen Reichtum auf der
       Ausbeutung anderer Teile der Welt basiert – ist derselbe. Die postkoloniale
       Theorie scheint nur neu, weil sie mit einem anderen Vokabular daherkommt.
       
       Christian Reichert: Eine Kritik am Kolonialismus bedeutet nicht, dass ich
       mich solidarisch auf antiemanzipative Bewegungen beziehe oder gar
       reaktionäre Bewegungen glorifiziere. In unserem Buch haben wir ein
       traditionelles Verständnis des Antiimperialismus kritisiert, in dem
       Solidaritätsbewegungen auch Sichtweisen und politische Forderungen von
       Befreiungsbewegungen oder Menschen vor Ort übernommen haben, die wenig
       Anknüpfungspunkte an emanzipative Positionen hierzulande boten. Das
       Kriterium für die solidarische Unterstützung war häufig allein das
       wahrgenommene Unterdrückungsverhältnis.
       
       Dem haben wir den Begriff der kritischen Solidarität entgegengesetzt. Die
       fehlende Unterscheidung zwischen Kritik an Unterdrückungsverhältnissen,
       Kritik an der Politik der israelischen Regierung, der Forderungen nach
       einer Verbesserung der Lebenssituation der Menschen etwa in Gaza und einer
       positiven Bezugnahme auf eine reaktionäre und menschenverachtende Bewegung
       wie die Hamas ist auch heute wieder das Problem.
       
       Berg: Der Großteil derer, die jetzt solidarisch mit Gaza sind, sehen nur:
       Da gibt es das starke Israel und das schwache Gaza. Da ist man dann für die
       Schwachen. Dazu kommt, dass Israel immer als Kolonialist wahrgenommen wird.
       Die postkoloniale Theorie würde ich aber gegen diesen Vorwurf in Schutz
       nehmen wollen. Deren Kern lautet: Der Kolonialismus hat die Welt so
       geprägt, dass er nicht aufhört mit dem Ende des formalen Kolonialismus. Das
       finde ich absolut richtig. Den moralischen Impetus …
       
       taz: … also als Privilegierter bedingungslos solidarisch zu sein? 
       
       Berg: Genau. Diese Bedingungslosigkeit lehne ich ab, und sie folgt nicht
       zwingend aus postkolonialer Kritik. Ich finde es aber gut, dass Menschen,
       die in Deutschland als nichtdeutsch gelesen werden, sich stärker
       organisieren, Selbstbewusstsein entwickeln, auf die deutsche koloniale
       Geschichte hinweisen und, wie an einigen Unis, diskursive Räume und
       Machtposition einnehmen. So wie sich früher Frauen Räume erschlossen und
       gesagt haben, da dürfen Männer nicht rein. Das hat alles seinen Sinn. Und
       in Diskussionen ist es richtig, erst mal zuzuhören, die andere Perspektive
       wahrzunehmen. Trotzdem sind wir alle Individuen, die ein Recht auf eine
       eigene Meinung haben. Das verwirke ich nicht dadurch, dass ich in eine
       privilegierte Position geboren bin.
       
       taz: Warum haben Sie sich damals mit dem Thema befasst? 
       
       Berg: Es gab eine antirassistische Bewegung gegen die Nazi-Umtriebe
       hierzulande, etwa in Rostock-Lichtenhagen. Für die war klar: Der
       Nationalismus ist in Deutschland eine starke Wurzel rechter Gewalt.
       Gleichzeitig war man solidarisch mit nationalen Befreiungsbewegungen in
       anderen Ländern. Unsere Frage war: Ist dieses Nationale so flexibel, dass
       es in einem Fall ganz toll ist und im anderen ganz doof?
       
       Und? 
       
       Reichert: Die ökonomische Globalisierung hatte damals den
       nationalstaatlichen Rahmen hinter sich gelassen. In Europa und den USA
       waren fordistische Produktions- und Gesellschaftsverhältnisse seit den
       1980er Jahren großen Veränderungen unterworfen. Dazu im Widerspruch stand,
       dass sich auch in den neunziger Jahren noch viele Befreiungsbewegungen auf
       Ethnie, Volk und eine eigene Nation bezogen. Aber zur kritischen
       Solidarität gehörte für uns Kritik an Klassen- und
       Geschlechterverhältnissen, an Volk und Nation. Uns interessierte deshalb,
       bei welchen Bewegungen wir Anknüpfungspunkte für eine emanzipative Politik
       sahen.
       
       taz: Haben Sie welche gefunden? 
       
       Kirsche: In den nominell sozialistischen Bewegungen steckte für uns
       emanzipatorische Hoffnung. Bei islamistischen oder nur
       völkisch-nationalistischen Bewegungen nicht.
       
       taz: Ihre Kritik fand in der Linken damals Resonanz. Ist diese heute
       vergessen? 
       
       Kirsche: Es wird heute über Diskriminierung gesprochen, aber nicht über die
       materielle Geschichte, die dahintersteht. Es geht eher um moralische
       Fragen. Eine Gemeinsamkeit zum klassischen Antiimperialismus ist dabei der
       Hang zu einfachen, binären und dadurch falschen Weltbildern: Der Norden ist
       reich und alles, was aus dem Süden kommt, ist automatisch gut. Dann wird
       nicht begriffen, dass sowohl der Norden als auch der Süden von
       Klassenstrukturen, Ausbeutungsverhältnissen und Gewaltverhältnissen
       durchzogen sind.
       
       taz: Was heißt das für die Frage, auf wen sich eine Linke positiv beziehen
       sollte? 
       
       Kirsche: Ich kann mich zum Beispiel nicht positiv darauf beziehen, wenn
       Putin die USA kritisiert, weil die den Jemen bombardieren. Ich muss zur
       Kenntnis nehmen, dass es heutzutage mehrere imperialistische Zentren in der
       Welt gibt, dass Russland sich imperialistisch verhält und China auch. Ich
       kann nicht mit einer moralischen Sicht Nordamerika und Westeuropa als
       Zentren des Kolonialismus immer für alles die Schuld geben und alles, was
       sie bekämpft, ist gut. Das führt zu keinem fortschrittlichen Gedanken,
       sondern dazu, reaktionären Bewegungen wie der Hamas oder dem iranischen
       Regime etwas Positives abzugewinnen.
       
       taz: In Südeuropa oder in Afrika sieht man das teils sehr anders. 
       
       Kirsche: In Südeuropa ist gerade die radikalere Linke in einem
       erschreckenden Ausmaß antiisraelisch, in Italien oder Spanien etwa finde
       ich das kaum zum Aushalten. In Deutschland gab es nach 1989 eine
       antideutsche Kritik, die sagte, dass dem deutschen Nationalismus und
       Kapitalverhältnis nach der Shoah besonders der Antisemitismus
       eingeschrieben ist. Daraus entstand auch eine antikapitalistisch begründete
       Israelsolidarität als notwendige Konsequenz der Abwehr zukünftiger
       antisemitischer Attacken. Hätte es diese Debatte nicht gegeben, wären nur
       rechte und reaktionäre Kräfte mit Israel solidarisch.
       
       taz: Aber auch für viele Linke, in- und außerhalb Deutschlands, ist Israels
       Vorgehen in Gaza völlig inakzeptabel. 
       
       Kirsche: Aber es ist wichtig, klarzustellen, dass eine Linke, die auf
       humanistischer Grundlage argumentiert, mit der Hamas nie solidarisch sein
       kann. Die sind Gegner von Emanzipation, von Befreiung, von einem
       friedlichen Zusammenleben. Ich bin fassungslos, dass so viele Linke diese
       Sachen, die sie sonst hochhalten, vergessen, sobald es um Israel geht. Dann
       frage ich mich, was da eigentlich vorher schiefgelaufen ist.
       
       taz: Was glauben Sie denn, was schiefgelaufen ist? 
       
       Kirsche: Dass Mindeststandards nicht mehr ernst genommen werden: die
       universalistische Geltung der Menschenrechte, die Anerkennung, dass alle
       Menschen die gleichen Rechte haben, dass es keine Diskriminierung gibt,
       dass es keine Ausbeutung geben darf, freie Entfaltung. Misogyne Gewalt,
       Antisemitismus und Terrorisierung von Zivilbevölkerung stehen allem
       entgegen, was ich als Linker richtig finde. Deswegen bin ich entsetzt, wenn
       jemand im Angriff der Hamas ein positives Potenzial sieht. Ich weiß nicht,
       wie ich mit jemandem diskutieren soll, der so was verteidigt.
       
       taz: Wie sollte man damit umgehen? 
       
       Berg: Solidarität kann zwei Ebenen haben: Die Frage nach Gemeinsamkeiten
       oder auch Menschenrechte für jene einzufordern, mit denen ich nicht
       übereinstimme. Auch sie haben ein Recht etwa zu leben und zu fliehen, das
       ich zu verteidigen versuchen kann. Ich finde es aber auch auffällig, dass
       Forderungen immer nur in Richtung Israel erhoben werden. All den
       Palästinafreunden der Region sagt kaum jemand: „Öffnet mal eure Grenzen,
       macht mal Kontingente auf, um die Zivilbevölkerung da rauszuholen und ihr
       Perspektiven zu geben.“ Die Palästinenser sind für all die umliegenden
       Staaten Verhandlungsmasse, um Druck auf Israel auszuüben, nie aber
       Menschen, denen man Perspektiven im eigenen Land eröffnen könnte.
       
       11 Oct 2024
       
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