# taz.de -- Medienforscher zu Nazis auf Social Media: „Faschismus ist heute Lifestyle“
       
       > Simon Strick erklärt, warum Rechte im Netz längst kultureller Mainstream
       > sind – und chronische Opposition auf Social Media immer gewinnt.
       
 (IMG) Bild: Das Narrativ „Volk gegen Elite“ findet sich nicht mehr nur bei Menschen in Nazi-Klamotten. Hier eine Querdenken-Demo in Berlin
       
       taz: Herr Strick, [1][schlittern wir in einen neuen Faschismus]? 
       
       Simon Strick: Nein, wir wachsen in einen hinein. Die Neue Rechte ist seit
       Langem keine Subkultur mit Glatze und Spingerstiefeln mehr. Sie ist eine
       leicht erreichbare Mediensphäre, die den klassischen Öffentlichkeiten
       Konkurrenz macht. Neofaschismus ist heute Lifestyle, Gegenkultur und
       Parallelöffentlichkeit. Er greift nicht als totalitäre Struktur von oben,
       im Gegenteil: Er wird in sozialen Netzwerken von Influencern,
       Alternativmedien und NutzerInnen von unten gebildet.
       
       taz: Das herkömmliche Faschismusverständnis ist also überholt? 
       
       Strick: Aus meiner Sicht ja, völlig überholt. Faschismus beschreibt für
       mich heute eher eine Atmosphäre als eine Ideologie. [2][Die Neue Rechte]
       benutzt die Sprache der Identitätspolitik, des Marktes und der alltäglichen
       Bedrohungsgefühle. Im Netz sind ihre Akteure stark und professionell. Die
       AfD ist nur ein Beispiel dafür: Sie war als erste Partei auf allen
       Plattformen präsent, das wiederholt sich auf TikTok. Dort erzielt sie mit
       Masse und Provokation die höchsten Reichweiten, alle anderen laufen
       hinterher. Im Netz sind Rechte der kulturelle Mainstream. Faschismus ist
       keine subkulturelle Nische mehr. Rassismus, Antisemitismus und Sexismus
       sind längst Breitenphänomene.
       
       taz: Es geht nicht mehr um Ideologie? 
       
       Strick: Natürlich geht es bei der Neuen Rechten auch um Ideologie. Seit
       Jahren sprechen Rechtsextreme wie Björn Höcke und Martin Sellner offen über
       den sogenannten großen Austausch, den „Volkstod“ und die „Remigration“.
       Nichts davon ist geheim. Neue Rechte kommunizieren unverhüllt und finden im
       Netz riesige Resonanz. Seit den 1980ern stellen Studien fest, dass etwa 40
       Prozent der Deutschen Angst vor „Überfremdung“ haben. Da knüpfen die
       Rechtsextremen an, das drücken sie aus. [3][Die Recherchen der
       Correctiv-Redaktion im Januar] haben also nur enthüllt, was eigentlich
       allen bekannt sein muss.
       
       taz: Die Ideologien wabern im Netz und die gesellschaftliche Mitte begreift
       es nicht? 
       
       Strick: Genau, man möchte immer noch überrascht sein, dass es große
       rassistische und rechtsextreme Potenziale in Deutschland gibt. Im Netz
       zeigen sich diese alltäglich, mal strategisch provoziert von
       Rechtsextremen, mal spontan von NutzerInnen artikuliert, die sich über
       irgendwas aufregen. Im Netz arbeiten sie zusammen, um ein rechtsgerichtetes
       autoritäres Programm in Alltagsdiskurse und Feindbilder zu übersetzen.
       Rechte Ideologie wird heute nicht mehr vom Führer persönlich verkündet, es
       ist Schwarmtätigkeit.
       
       taz: Das heißt konkret? 
       
       Strick: Es sind teilweise völlig banale Sachen: der Aldi-Katalog hat jetzt
       schwarze Models? Das muss der große Austausch sein! Ein anderes Szenario:
       Auf Meldungen in Zeitungen oder Rundfunk wird mit [4][„Lügenpresse“] oder
       „Staatsfunk“ reagiert, die wieder neue Unwahrheiten in die Welt setzen
       würden. Social Media sind der Ort, wo jeder genau das sagen kann. Dieser
       Mechanismus passt zum Grundkonstrukt des Faschismus: Das unterdrückte und
       entmündigte Volk begehrt gegen die Elite auf, um die Nation vor dem
       Untergang zu retten. Hier entsteht weniger eine ideologische
       Gleichschaltung als ein geteilter Gefühlsraum der Bedrohung. Eher ein
       Flächeneffekt als Führerbefehl.
       
       taz: Werden soziale Medien für den Aufstieg der Rechten noch immer
       unterschätzt? 
       
       Strick: Was heißt unterschätzt: Social Media dominiert längst die
       Berichterstattung und damit die Wahrnehmung der politischen und
       gesellschaftlichen Realität. Konventionelle Medien – also Zeitungen oder
       der öffentliche Rundfunk – referieren ständig auf soziale Netzwerke wie X.
       Dort verbreiten politische Akteure ihre Inhalte, vermischt mit NutzerInnen,
       gesteuert von Algorithmen. Das Ganze hat Folgen, deren umwälzende Wirkung
       wir gar nicht überschätzen können. Große Teile der gesellschaftlichen und
       politischen Kommunikation haben sich auf Social Media verlagert. Mit allen
       Nebenerscheinungen wie Informationsflut, Emotionalisierung, Verkürzung,
       Filterblasen, Dekontextualisierung und so weiter. Diese Unübersichtlichkeit
       treibt unter anderem den Rechtsextremismus, denn schnelle, polarisierende
       Botschaften haben in dieser Situation taktische Vorteile.
       
       taz: Wie können wir Information von Emotion trennen? 
       
       Strick: Ich halte die Trennung gar nicht für sinnvoll. Social Media ist
       genau für deren Vermischung da. Man teilt nicht nur eine Information mit,
       sondern auch seine Reaktion darauf. Das erleben Sie nach jeder „Markus
       Lanz“-Sendung, wenn Ausschnitte verschickt und skandalisiert werden und
       sich viele über „die da oben“ aufregen. Eine Partei der
       Fundamentalopposition wie die AfD hat in diesen Dynamiken quasi
       Heimvorteil. Das ist wie eine endlose Kommentarspalte oder
       Kneipendiskussion, die oft nur die größtmögliche Übersicht zulässt, und das
       ist „Volk gegen Elite“, also das rechtspopulistische Grundkonzept.
       
       taz: Welche Rolle spielt X? 
       
       Strick: Wie andere Netzwerke ist X ein Medium der Verkürzung und der
       Zuspitzung. Regierungsmeldungen und Journalismus funktionieren hier nur als
       Trigger. Was funktioniert, ist das laute Infragestellen, die Polemik, der
       Shitstorm. Rechte Parteien als chronische Opposition gewinnen dieses Spiel
       immer. Das machen sie glaubhaft und damit hören sie auch nicht mehr auf.
       Donald Trump hat selbst als regierender Präsident der USA noch behauptet,
       er sei Opposition. [5][Mit Elon Musk ist Twitter zu einer Plattform
       geworden, die rechtsextreme Accounts protegiert] und als Ganzes in
       Fundamentalopposition zu Leitmedien und System gegangen ist. Das muss allen
       JournalistInnen und PolitikerInnen klar sein. Sind sie dort aktiv, agieren
       sie auf einer Plattform, wo Rechte hegemonial sind. Rechte bestimmen, was
       Sie in Ihrer Timeline überhaupt zu sehen bekommen. Ein unglaubliches
       Experiment aus meiner Sicht.
       
       taz: Es posten aber ja nicht nur Rechtsextreme dort. 
       
       Strick: Nein. Das ist das Witzige an Social Media, das machen quasi alle.
       Und es gibt ja auch viel an offiziellen Nachrichten zu kritisieren, im
       Nahostkonflikt zum Beispiel bietet das Netz derzeit eine wichtige Vielfalt
       an Berichterstattung; an Propaganda natürlich auch. Nur: Wenn die
       Grunderzählung einer politischen Bewegung ist, dass Medien und System gegen
       die eigene Gruppe – oder Volksgruppe – arbeiten, dann hat sie einen Vorteil
       in den sozialen Medien. Wenn zum Beispiel über die Straftat einer
       migrantischen Person nichts in der „Tagesschau“ läuft, wird dies als
       Verschwörung gedeutet, über kriminelle Migranten werde nicht berichtet.
       Diese Verschwörungstheorien sind eine partizipative Veranstaltung, das ist
       Mitmach-Propaganda. Setzen die Rechten eine effektive Provokation,
       schließen sich viele Leute an.
       
       taz: Lässt sich nichts dagegen tun? 
       
       Strick: Man kann sehr viel dagegen tun, das Netz ist ein partizipativer
       Laden mit vielen verschiedenen Stimmen. Höchste Aufmerksamkeit erhalten
       aber oft strategische Provokationen über den „Untergang des Abendlandes“.
       Gute Sozialpolitik, gelungene Integration oder die faktische
       multikulturelle Realität schaffen es selten zur Nachricht. Migration als
       Problem dagegen erreicht immer höchste Aufmerksamkeit in allen Medien, sie
       ist [6][laut fast allen Parteien angeblich „die Mutter aller Probleme“].
       Ich denke, das ist ein neurechter Erfolg der letzten zehn Jahre, diese
       breite Durchsetzung von „Migration als Hauptproblem“.
       
       taz: Machen sich die Medien mitschuldig am Aufschwung der Rechten? 
       
       Strick: Seit Jahren wird empfohlen, rechten Provokationen nicht
       hinterherzulaufen, ihre Akteure nicht hochzuschreiben. Selbst ein
       Faktencheck lenkt die Aufmerksamkeit auf rechte Welterklärungen und
       Feindbilder. Rechte Themen und Provokationen – „Remigration“, „Volkstod“,
       oder derzeit der AfD-Vorschlag, Migranten von Volksfesten auszuschließen –
       so was wird rauf und runter diskutiert. So gelingt Themensetzung. Medien
       haben eine große Verantwortung, da gegenzusteuern. Natürlich braucht es
       Analyse der derzeitigen rechten Hegemonie, aber die besteht nicht darin,
       über deren explizite Programme immer wieder neu schockiert zu sein. Seit
       den 1990ern ist klar, was rechte Positionen sind und [7][wie viel
       Zustimmung man für „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“ bekommen
       kann] – in der breiten Bevölkerung wie bei einigen Eliten. Wer da noch
       überrascht ist, simuliert. Es ist auch klar, was man dagegen tun kann:
       Menschen und Strukturen schützen, andere Weltbilder und Problemlösungen
       öffentlich vertreten.
       
       2 Oct 2024
       
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