# taz.de -- Drama „Sie kam aus Mariupol“ in München: Geschichte einer Ostarbeiterin
       
       > Der ukrainische Regisseur Stas Zhyrkov inszeniert an den Kammerspielen
       > München das Stück „Sie kam aus Mariupol“. Es geht um Trauma.
       
 (IMG) Bild: Das Bühnensetting von „Sie kam aus Mariupol“ ist markant-reduziert
       
       „Wenn du gesehen hättest, was ich gesehen habe“, lautet ein stetig
       wiederkehrender Satz aus dem Mund der Mutter, der sich im Stück „Sie kam
       aus Mariupol“ des [1][ukrainischen Regisseurs Stas Zhyrkov], unerbittlich
       ins kindliche Bewusstsein der Protagonistin und Ich-Erzählerin frisst. Er
       frisst sich im Laufe des Premierenabends des Stücks an den Münchner
       Kammerspielen gleichwohl ins Publikumsbewusstsein, mitsamt ein paar anderen
       in Erinnerung bleibenden Sätzen aus der literarischen Vorlage von
       [2][Natascha Wodin, die mit ihrem autofiktionalen „Lebensbuch“ wie es die
       Autorin selbst bezeichnet, im Jahr 2017 mit dem Preis der Leipziger
       Buchmesse ausgezeichnet wurde].
       
       Das Buch der Schriftstellerin handelte vom Suizid der Mutter, der sich
       ereignete, als Wodin 10 Jahre alte war, und von den Recherchen der Autorin,
       die sich spät im Leben auf die Spur der ukrainischen Familie ihrer Mutter
       macht, die während des Zweiten Weltkrieges als Zwangsarbeiterin in
       Nazideutschland eingesetzt wurde. Das Werk ist sowohl eine persönliche
       Spurensuche als auch eine historische Aufarbeitung der Schicksale von
       Millionen osteuropäischen Zwangsarbeitern.
       
       Für Regisseur Stas Zhyrkov, der nach einer Fassung von [3][Pavlo Arie] für
       die Bühnenadaption des Stoffs sorgt, erzählt „Sie kam aus Mariupol“ mit
       seinem Schwerpunkt der Erzählung in der Ukraine somit mehr über Deutschland
       als über das Herkunftsland der Mutter der Erzählerin. Die Kälte, die
       verdammte Lieblosigkeit, die Gleichgültigkeit der deutschen
       Nachkriegsgesellschaft mit ihrer anhaltenden Verweigerung, das Leid der
       ukrainischen Zwangsarbeiter:innen in seinem vollen Ausmaß
       anzuerkennen, all das ist Inhalt seines Erzähltheaterabends.
       
       ## Zwangsarbeit, Entwurzelung und Migration
       
       Die Innerlichkeit der Romanvorlage, die neben den Themen Zwangsarbeit und
       Kriegstrauma die Komplexe Familiengeschichte und Identität, Entwurzelung
       und Migration, sowjetische Diktatur und politische Verfolgung sowie Trauma
       und Schweigen verhandelt, übersetzt Stas Zhyrkov in ein markant-reduziertes
       Bühnensetting. Lediglich ein mit Gaze überzogenes Gerüsthaus und der
       Autorinnenschreibtisch dominieren die Szenerie. Ein visuell schlüssiges
       Konzept, wie sich zeigen wird.
       
       Auf den halbtransparenten Wänden des Hauses finden sich Projektionen –
       Familienfotos und Kritzeleien, Anmerkungen des Ahnenforschungsprojekts der
       Erzählerin. Aus dem Inneren des Hauses, das die Besetzung des Abends – die
       Schauspieler:innen Johanna Eiworth, Annika Neugart, Konstantin Schumann
       und Michaela Steiger – fortlaufend betritt und verlässt, klingen
       Bruchstücke einer zerhackten Sprache, Personen im Haus erstarren mitunter.
       
       Das Gespenstische der Erinnerung überlagert in der Bühnenadaption von „Sie
       kam aus Mariupol“ das Geschehen der Gegenwart, die zerstückelten Laute
       übertönen das Sprechen draußen.
       
       ## Es bräuchte einen zweiten Kopf
       
       Die Unfähigkeit, individuellen Sinn aus der zermalmenden Kraft der
       Geschichte zu gewinnen, dominiert in Zhyrkovs atmosphärisch dichter
       Bearbeitung, die mitunter penibel nah an der literarischen Vorlage
       inszeniert ist. Darstellungen des detektivischen Unterfangens, den
       verzweigten Stammbaum der Ich-Erzählerin zu fassen zu kriegen, sind schon
       im Roman auch bei genauer Konzentration nur schwer zu überblicken.
       
       Treffend notiert die Autorin, dass sie im Grunde einen zweiten Kopf
       bräuchte, um all das zu verstehen. In dichten, runtergeratterten
       Wortwechseln auf der Bühne verlieren Zuschauer:innen hier leider
       vollends den Überblick.
       
       Die eine oder andere dramaturgische Freiheit in dieser Hinsicht hätte dem
       Stück gutgetan. Johanna Eiworth und Annika Neugart verkörpern das
       gegenwärtige wie kindliche Ich der Erzählerin Wodin. „Die Angst um sie“ wie
       die „Angst vor ihr“ prägen Bewusstsein und Verhalten der Protagonistin
       nachhaltig und für Zuschauer:innen in beklemmender Weise – in diesen
       Momenten ist Zhyrkovs Stück erzählerisch und darstellerisch bei sich.
       
       ## Schrecklich konkrete Details
       
       Die Mutter hat ihren Suizid mehrfach angekündigt, gar die Methode, „Ich
       werde ins Wasser gehen“, ließ sie die Tochter immer wieder wissen, was
       nicht die emotionale Wucht mindert, mit der die schrecklich konkreten
       Details – der zusammengefaltete Mantel der Selbstmörderin, das schwarze
       Wasser des Flusses Pegnitz – von denen Annika Neugart im bewegenden
       Schlussmonolog berichtet, auch das Publikum treffen.
       
       Trotz der schwermütigen, dramatischen Handlung findet Stas Zhyrkov mit
       seinem Stück auch zu einem Ton der Hoffnung. Natascha Wodins lebenskluges
       wie empathisches Buch liefert hierzu die Vorlage. „Sie kam aus Mariupol“
       ist auch in der Bühnenadaption zu keinem Zeitpunkt eine Abrechnung mit der
       Mutter, sondern offenbart einen liebevollen Blick auf das nicht verstehbare
       Handeln einer, die im Leben nur Lieblosigkeit erfuhr.
       
       Es ist die Geschichte einer jener „Ostarbeiterinnen“ unter so vielen, deren
       Leid zwar als historischer Gegenstand erforscht sein mag, emotional
       verstanden wurde das Ausmaß des Leides dieser Menschen in Deutschland
       jedoch bisher nicht. Stas Zhyrkov Inszenierung bietet für dieses Verstehen
       einen Schlüssel.
       
       23 Sep 2024
       
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