# taz.de -- 7. Oktober – ein Jahr danach: Hoffen auf die nächste Generation
       
       > Leid und Hass dominieren seit Jahrzehnten den Konflikt im Nahen Osten.
       > Gibt es einen Weg raus? Wünsche, Appelle und Erwartungen an junge
       > Menschen.
       
 (IMG) Bild: Aus der Serie: leere Schlafzimmer. Einschusslöcher im Zimmer des von der Hamas gekidnappten Ariel Bibas aus dem Kibbuz Niz Oz
       
       Meine Hoffnung für euch Kinder ist, dass ihr es wagt, den Anderen mit eurem
       Herzen zu sehen, ihren Schmerz zu fühlen. Dass ihr den Mut habt, den
       reichen Schatz an Kulturen zu genießen, den dieses Land zu bieten hat, die
       Sprache der Anderen zu lernen, ihre Tänze zu tanzen, ihre Speisen zu
       teilen, ihren Geschichten zuzuhören und ihre Traditionen zu feiern. Im
       Heiligen Land sind es die Menschen, die diesen Ort heilig machen, nicht das
       Land. Deshalb hoffe ich, dass ihr nie vergessen werdet, dass es die
       Menschen sind, die wir um jeden Preis schützen müssen – und nicht das Land.
       
       Stellt euch mutig gegen Ungerechtigkeit, erhebt eure Stimme für den Frieden
       – vor allem dann, wenn es heißt, dies sei ein verbotenes Wort und eine
       unerreichbare Realität im Nahen Osten. Lernt, den Hass und die Wut zu
       verlernen, und lernt zu vergeben – dieses Land hat ein schmerzhaftes Echo
       aus der Vergangenheit. Wahrer [1][Frieden] ist nicht nur die Abwesenheit
       von Konflikten, sondern die Gegenwart von Gerechtigkeit und Freiheit für
       alle.
       
       Jeder Mensch wird anders erzogen und vielleicht wird jemand versuchen, euch
       davon zu überzeugen, dass die Dinge, die ihr gelernt habt, falsch sind. Ich
       hoffe, dass ihr die Weisheit haben werdet, zuzuhören und verschiedene
       Erzählungen anzuerkennen, während ihr gleichzeitig eure Wahrheit wählt.
       Lernt, den Hass und die Wut zu verlernen, und lernt zu vergeben. Euch, den
       zukünftigen Kindern des Landes, wünsche ich, dass ihr den Anderen so
       kennenlernt, wie ihr eure Augen, eure Nase, euren Mund und euer Lächeln
       kennenlernt. Möget ihr es immer wagen, andere als ein Spiegelbild eurer
       selbst zu sehen.
       
       Angela Mattar, 24, ist palästinensisch-israelische Bürgerin und lebt in
       Jerusalem. Sie ist Autorin und Friedensaktivistin. 
       
       Nur noch ein Krieg, und es wird Frieden sein. Nur noch eine Operation, und
       du bist in Sicherheit. Das wurde mir im Alter von sechs Jahren gesagt, als
       ich ein Selbstmordattentat überlebte. Das wurde uns 2014 gesagt, als mehr
       als 2.000 Menschen im Gazastreifen getötet wurden. Und das ist es, was die
       Regierung uns heute sagt, da wir [2][365 Tage Krieg in Israel-Palästina]
       erleben.
       
       [3][Seit Jahrzehnten] leiden wir alle unter dem Krieg. Doch die einzigen
       Lösungen, die uns in meinem Leben angeboten wurden, sind mehr Gewalt und
       Zerstörung. Um ihre Unfähigkeit, Lösungen zu finden, zu verschleiern,
       behaupten sie, der einzige Weg sei der ewige Krieg. Aber für mich ist
       dieser Krieg anders als alle anderen, weil ich während dieses Krieges
       Mutter unseres kleinen Babys Sade wurde. Um ihretwillen und der jüngeren
       Generation willen werde ich alles tun, um zu verhindern, dass der Plan
       meiner Regierung, einen ewigen Krieg zu führen, das Erbe wird, das wir
       unseren Kindern hinterlassen.
       
       Obwohl unsere Politiker hart daran gearbeitet haben, Hoffnung auf eine
       Zukunft in Frieden und Gerechtigkeit auszulöschen, habe ich Hoffnung. Das
       liegt daran, dass ich Teil der „Standing Together“-Bewegung bin. Wir sind
       Juden und Palästinenser, die verstehen, dass Gewalt oder Unterdrückung uns
       nie eine bessere Zukunft bringen werden. Wir denken nicht nur über das Erbe
       nach, das wir der nächsten Generation hinterlassen wollen – wir bauen es
       hier und jetzt auf und zeigen unseren Völkern, dass es eine Zukunft geben
       kann, um unser Leben in diesem gemeinsamen Land zu verbessern.
       
       Heli Mishael, 34, ist jüdische Israelin und Mutter eines Babys, das im
       Krieg geboren wurde. Sie ist aktiv bei Standing Together, einer Bewegung,
       die arabisch-israelische und jüdische israelische Gemeinschaften
       zusammenbringen will. 
       
       Die Mauern und Grenzen, die Wut und der Hass haben unsere Sicht und unseren
       Blick für die Menschen auf der anderen Seite verstellt. Alles, was wir
       sehen, ist ein Feind. Nicht Männer, Frauen und Kinder mit Hoffnung in den
       Augen, einem Lächeln auf den Gesichtern und Träumen in ihren Herzen.
       Jahrelang habe ich Gruppen aus Israel und dem Gazastreifen über Theater,
       Musik und Tanz zusammengebracht, um gemeinsam zu arbeiten. Ich habe Mittel
       und Wege gefunden, damit wir uns sehen, miteinander reden und hoffnungsvoll
       in die Zukunft blicken können.
       
       Am 7. Oktober 2023 und danach haben wir zugelassen, dass Radikale unser
       Leben übernehmen, Radikale, die an die Liebe zur Macht glauben anstatt an
       die Macht der Liebe. Radikale, die an Hass und Rache glauben statt an
       Versöhnung und Mitgefühl. Sowohl Israelis als auch Palästinenser haben im
       Laufe der Jahre so viel gelitten, über Hunderte von Jahren. Ist es nicht
       längst an der Zeit, innezuhalten und zu sagen: „Schluss damit!“?
       
       Es hat keinen Sinn, zurückzublicken und weiterhin unsere Wunden und
       Verluste zu zählen. Wer kann schon sagen, wer mehr gelitten hat? Das Leiden
       [4][auf beiden Seiten] muss ein Ende haben. Ich erinnere mich an ein von
       den Hamas geführtes Sommerlager, in dem junge Kinder mit Hass in den Augen
       zum Kämpfen ausgebildet wurden. Der Anblick dieser Kinder trieb mir die
       Tränen in die Augen.
       
       Ich glaube, dass es in der Welt so viel mehr Gutes als Schlechtes gibt,
       aber das Schlechte ist lauter und hässlich. Das Gute ist zart und sanft.
       Lassen Sie uns die Schönheit im anderen sehen, lassen Sie uns unsere Kräfte
       bündeln, um Hoffnung zu schaffen und uns allen ein Leben ohne Angst in
       einer sicheren, wohlhabenden und friedlichen Welt zu ermöglichen.
       
       Roni Keidar ist jüdisch-israelische Friedensaktivistin. Sie lebt seit über
       40 Jahren in einem Dorf an der Grenze zum Gazastreifen und hat viele
       Freunde auf der anderen Seite. 
       
       Alle hier, vom Fluss bis zum Meer, sollten frei sein. Wir müssen aus der
       Geschichte lernen. Wir können uns gegenseitig umbringen, aber wir müssen
       verstehen, dass es keine Gewinner gibt, keinen Sieg. Die einzigen Gewinner
       sind die Gräber. Wir können Seite an Seite existieren, ohne einander
       umzubringen. Die neue Generation sollte auf die Geschichte zurückblicken
       und für die Zukunft lernen.
       
       Der Konflikt begann nicht am 7. Oktober und er endete nicht am 8. Oktober.
       1.200 Menschen wurden getötet. Unter ihnen viele Soldaten, aber dies ist
       kein Argument. Es sind Menschen. Auf palästinensischer Seite wurden mehr
       als 40.000 getötet. Zwei Millionen Menschen wurden zu Vertriebenen in Gaza.
       Die Wurzeln des Konflikts sind da. Die einzige Lösung ist die: sich
       gegenseitig zu respektieren. Und zu sehen, dass auch der Andere ein Mensch
       ist.
       
       Die Palästinenser haben nicht sechs Millionen Israelis getötet. Die
       Israelis haben nicht sechs Millionen Palästinenser getötet. Aber heute gibt
       es einen deutschen Botschafter in Tel Aviv und einen israelischen
       Botschafter in Berlin. Mit anderen Worten: Wir können es auch.
       
       Bassam Aramims Tochter wurde 2017 von einem israelischen Grenzpolizisten
       erschossen. Er ist Mitglied im Parents Circle, in dem israelische und
       palästinensische Familien zusammenkommen, die Angehörige verloren haben. 
       
       Als Pädagogin spreche ich viel mit Schulkindern und Familienorganisationen.
       Meine Botschaft an Schüler*innen in der Oberstufe ist seit einem Jahr
       diese: „Geht zur Armee und dient. Wir haben im Moment keine Wahl. Aber geht
       nicht aus Hass und Rache, sondern bewahrt eure Werte. Bleibt menschlich,
       bleibt tolerant und sucht den Frieden, wohin ihr auch geht, wann immer ihr
       könnt. Erzählt der Welt die Geschichte meiner Familie und die meiner
       Gemeinschaft in Kfar Aza.
       
       Es ist wichtig für uns, dass unsere Geschichte gehört wird. Es ist eine
       sehr tragische Geschichte, aber sie sollte gehört werden, damit sich die
       Welt verändert. Mein Sohn wurde ermordet, mein Haus zerstört. Aber ich
       lasse nicht zu, dass die Welt mich verändert. Ich behalte meine Werte und
       meine Menschlichkeit, selbst nach allem, was ich durchgemacht habe. Lasst
       ihr nicht zu, dass ihr eure Werte verliert, wenn ihr in der Armee dient.“
       
       Liora Eilon ist Friedensaktivistin. Ihren Sohn verlor sie beim
       Hamas-Angriff auf den Kibbuz Kfar Aza. Auch sie ist Mitglied im Parents
       Circle. 
       
       Die meisten Palästinenser und Israelis glauben an den Frieden, streben ihn
       an und wollen sich für ihn einsetzen. Diese schweigende Mehrheit sagt:
       „Genug. Genug der Feindseligkeit, der Feindschaft und des Hasses. Genug der
       Kämpfe, des Blutvergießens und des Tötens. Das ist nicht das Erbe, das wir
       unseren Kindern und Enkelkindern hinterlassen wollen.
       
       Unsere Religionen und heiligen Bücher rufen zu Frieden, Toleranz und
       Vergebung auf. Extremisten haben die Tragödie vom 7. Oktober begangen, um
       die Kluft zwischen dem muslimischen und dem jüdischen Volk zu vertiefen.
       Sollten wir dafür sorgen, dass sie Erfolg haben und ihr Ziel erreichen?
       Nein, denn das ist nicht die Zukunft, die wir anstreben. Lasst die Tauben
       des Friedens frei fliegen.
       
       Unser Ziel ist es, gemeinsam zu leben und das Land friedlich und sicher zu
       teilen. Möge Gott uns auf den richtigen Weg führen.
       
       Mohammed Dajani Daoudi ist palästinensischer Historiker aus dem
       Westjordanland und setzt sich mit seiner Organisation Wasatia für
       interreligiöse Verständigung ein. 2014 sorgte er für Aufsehen, als er mit
       einer Gruppe der Al-Quds-Universität Auschwitz besuchte. 
       
       Je länger der Gaza-Krieg andauert desto geringer die Hoffnung auf
       Verhandlungen, auf eine nicht-bellizistische Denkweise auf beiden Seiten.
       Das, was seit dem 7. Oktober geschah, hat den Hass und die Wut bei Israelis
       und Palästinensern dermaßen gesteigert, dass die Mehrheit in Israel und
       Palästina von der Idee des friedlichen Nebeneinanders Abschied genommen
       hat.
       
       Aber gerade deswegen bleibt der alte Ausweg immer noch die einzige
       konstruktive Alternative: Eine Lösung auf der Basis der Zweistaaten-Idee.
       Wenn beide Seiten jeweils das Recht der anderen Seite auf nationale
       Selbstbestimmung prinzipiell anerkennen, ist die Basis geschaffen für einen
       Ausstieg aus dem Teufelskreis der Vergeltung und Gegenvergeltung.
       
       Das ist der Anfang, auf den verschiedenartige Fortsetzungsszenarien folgen
       können – zwei Nationalstaaten, in denen nationale Minderheiten leben
       können; Eine Föderation, zu der eventuell auch weitere Staaten hinzukommen
       könnten (mit dem Vorbild EU beispielsweise). Oder zwei Staaten, die eine
       gemeinsame Verfassung anstreben, um statt eine entweder-oder Situation,
       eine sowohl-als-auch Existenz zu kreieren. Der Beobachter fragt sich: Ist
       der Ausstieg aus dem Strudel der Gewalt und (Selbst-)Zerstörung nicht
       attraktiver als der freie Fall in den Abgrund?
       
       Was fehlt und worum sich die internationale Gemeinschaft bemühen sollte,
       ist der Wille zum ersten Schritt, auch die Bereitschaft, die Gegner dieser
       Idee entschlossen zu bekämpfen. Wie aber der religiöse Fundamentalismus auf
       jüdischer wie auf muslimischer Seite zu überwinden wäre, um diesen ersten
       Schritt zu ermöglichen, ist jedoch eine Grundsatzfrage, die bislang die
       Politik nicht beantworten konnte. Eher umgekehrt: Fundamentalisten und
       Populisten arbeiten Hand in Hand in deiden Lager, um den Weg zum erlösenden
       ersten Schritt zu blockieren.
       
       Also doch: Keinen Ausweg?
       
       Moshe Zimmermann ist ein israelischer Historiker und
       Antisemitismusforscher. Er ist Professor emeritus für Neuere Geschichte an
       der Hebräischen Universität Jerusalem und war dort von 1986 bis 2012
       Direktor des Richard-Koebner-Zentrums für Deutsche Geschichte. 
       
       Meine Botschaft an die nächste Generation Israelis und Palästinenser:
       Haltet an der Hoffnung fest. Sucht nach Möglichkeiten Gutes zu tun. Glaubt
       an Gerechtigkeit und arbeitet für Frieden.
       
       Das Leben ist kurz und Frieden ist möglich. Haltet euch fern von Radikalen,
       folgt nicht religiösen Eiferern. Und fragt euch immer, was ihr tun würdet,
       wäret ihr an der Stelle der anderen Person.
       
       Daoud Kuttab ist ein palästinensisch-amerikanischer Journalist.
       
       8 Oct 2024
       
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       je. Unser Autor will an der Idee der Aussöhnung festhalten. Eine Utopie.