# taz.de -- Ezîdinnen über den Völkermord: „Wir haben keinen sicheren Ort“
       
       > Vor den Augen der Weltöffentlichkeit überfielen IS-Kämpfer 2014 Dörfer
       > und Städte im Nordirak. Çiçek Yildiz und Ayfer Özdogan erinnern daran.
       
 (IMG) Bild: Çiçek Yildiz und Ayfer Özdogan kämpfen gegen Vergessen. An Yildiz’ Küchenwand hängt ein Gemälde ihres Geburtsorts in Nordkurdistan
       
       taz: Frau Yildiz und Frau Özdogan, zehn Jahre sind seit dem [1][Genozid an
       ihrer êzîdischen Religionsgemeinschaft] durch den Islamischen Staat (IS) im
       Nordirak vergangen. Wie geht es Ihnen?
       
       Çiçek Yildiz: Wir haben alle die Bilder noch sehr lebendig vor Augen. Der
       IS war gut vorbereitet, um das medial so zu präsentieren und um diese
       Gewalt nach außen zu tragen.
       
       Ayfer Özdogan: Ich glaube, das war einer der ersten Genozide, den die Täter
       komplett selbst gefilmt haben. Wie sie Frauen vor laufender Kamera
       folterten und vergewaltigten.
       
       taz: Was bedeutet es für Sie, an die Gräueltaten zu erinnern? 
       
       Yildiz: Ganz konkret veranstalten wir am Samstag und deutschlandweit
       Gedenkkundgebungen, um an den Jahrestag des 74. Genozids zu erinnern. Wir
       wollen zeigen, dass es Wege der Aufarbeitung und Versöhnung gibt.
       
       taz: Wieso 74. Genozid? 
       
       Özdogan: Unsere Glaubensgemeinschaft hat so viele Genozide erlebt, dass wir
       irgendwann angefangen haben, diese zu zählen.
       
       Yildiz: Mit dem Angriff auf Şengal am 3. August 2014 gab es eine ganz
       andere Situation für uns junge Menschen und in Deutschland aufgewachsene
       Êzîd*innen. Mir wurde noch mal bewusst, warum wir damals unsere Heimat
       verlassen mussten. Und dass wir dieser Gewalt seit Jahrhunderten immer
       wieder ausgesetzt sind.
       
       taz: Die [2][Bundesregierung hat den Genozid an den Êzîd*innen im Jahr
       2023 auch offiziell anerkannt]. Hat das etwas verändert? 
       
       Yildiz: Wir begrüßen das natürlich. Unter welchen Bedingungen das erfolgt
       ist, ist wiederum diskutabel.
       
       Was meinen Sie? 
       
       Yildiz: Eine der Voraussetzungen für die offizielle Anerkennung des
       Völkermordes ist die Rückkehr zum Status vor dem Jahr 2014 gewesen. Das
       bedeutet, dass die Wiege der Êzîden, das Şengal-Gebirge, administrativ
       wieder zum Staat Irak, militärisch zur Autonomen Region Kurdistans gehört
       und wieder unter der Kontrolle der Peschmerga steht.
       
       taz: Die Peschmerga sind die Streitkräfte der Autonomen Region Kurdistan im
       Irak. 
       
       Yildiz: Ja, und als der IS kam, ließen sie die Êzîdinnen im Stich.
       
       Özdogan: Einerseits erkennt die Bundesregierung den Genozid an,
       andererseits schiebt sie Êzîd*innen ab.
       
       taz: Ist es in der [3][Şengal-Region im Irak nach wie vor nicht sicher]? 
       
       Yildiz: Nein, um etwas zu verändern, wäre es wichtig, mit den Betroffenen
       in Şengal zu sprechen. Über die Errungenschaften seit 2014 wird aber kaum
       gesprochen: Dass viele zurückgekehrt oder geblieben sind, um ihre Heimat zu
       verteidigen. Dass Êzîdi*innen angefangen haben, autonome administrative
       und militärische Strukturen aufzubauen, Bildung zu ermöglichen. Und dass
       diese Strukturen immer wieder Angriffen durch türkische Drohnen ausgesetzt
       sind. Krankenhäuser, Schulen, politische Vertreter und Bürgerzentren werden
       bombardiert. Das findet kaum Platz – als gäbe es das nicht.
       
       taz: Niedersachsen geht derzeit einen eigenen Weg und hat einen
       Abschiebestopp verhängt. 
       
       Özdogan: Wir begrüßen, dass [4][Niedersachsen die Abschiebungen gestoppt]
       hat. Hier lebt eine der größten êzîdischen Gemeinschaften. Wir sind ein
       wichtiger Bestandteil der Gesellschaft. Es darf eben nicht bei
       Lippenbekenntnissen bleiben.
       
       taz: Was fordern Sie? 
       
       Yildiz: Die Bundesregierung muss ganz klar festhalten, welche politischen
       und juristischen Folgen diese Anerkennung hat. Darunter fällt auch die
       Verfolgung der Täter. Es werden zwar einzelne IS-Kämpfer angeklagt und auch
       mal verurteilt, weil sie eine Frau versklavt oder ein Kind getötet haben.
       Im Großen und Ganzen scheitert die Verfolgung aber immer wieder wegen
       Mangel an Beweisen. Dabei sind es auch deutsche Staatsbürger, die in den
       Irak und nach Syrien reisten, um Gräueltaten zu verüben.
       
       taz: An dem Ort, an dem Sie am Samstag in Hannover eine Kundgebung
       veranstalten, haben vor wenigen Wochen rund 1.200 mit Islamisten
       demonstriert und einige von ihnen forderten ein Kalifat. Ist das ein
       Problem? 
       
       Özdogan: Es ist skandalös, dass all dies passieren kann, dass man davon
       träumen und das verbalisieren kann, ein Kalifat auszurufen. Es ist ja nicht
       so, dass wir nicht wüssten, was das bedeutet. Ich gehe dann durch die
       Straßen und sehe das als ein Bedrohungsszenario. Retraumatisierung ist das
       richtige Wort. Ich halte es für sehr gefährlich und habe realisiert: Für
       uns Êzîdinnen gibt es keinen sicheren Ort.
       
       taz: Haben Sie auch Hoffnung? 
       
       Yildiz: Wir sprechen von vererbten Wunden. Aber das heißt nicht, diese
       weiter bestehen zu lassen oder anzunehmen, dass alles als Schicksal gegeben
       sei. Wir müssen den Jahrestag auch als zehn Jahre Widerstand und Kampf für
       Gerechtigkeit sehen. Weil Êzîd*innen weltweit fordern, ihre Religion und
       Identität frei auszuleben. 
       
       Gedenkveranstaltungen in Norddeutschland zum zehnten Jahrestag des Genozids
       an Ezîdinnen und Ezîden, alle am Samstag, 3.8.24: 
       
       Hannover: 12 Uhr, Steintorplatz; Göttingen: 12 Uhr, Gänseliesel; Kiel:
       Infozelt, 15–17 Uhr, Europaplatz; Hamburg: 16 Uhr, Hamburg-Baum am
       Millerntor (Eingang Wallanlagen)
       
       2 Aug 2024
       
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       „Vierundsiebzig“.