# taz.de -- Die Wahrheit: Dampferfahrt mit Kohl
       
       > Manchmal provoziert eine Explosion von Assoziationen eine konkrete
       > Reaktion in der Realität – wie auf einem am Reichstag vorbeituckernden
       > Schiff.
       
 (IMG) Bild: Das weiße Kaninchen ist zur Rettung des Gemeinwesens bereit
       
       Es gibt diesen Moment, wenn Wirklichkeit und Gedankenwelt eins werden.
       Einmal fuhr ich mit dem Bus die Berliner Hauptstraße in Schöneberg hinunter
       und dachte über Quentin Tarantino nach, den ich in eine Satire einbauen
       wollte, wobei mir die Melodie von „Bang Bang“ aus „Kill Bill“ durch den
       Kopf ging. Wenig später kamen wir an einem Asia-Imbiss vorbei, der „Bang
       Bang“ hieß.
       
       In Marcel Prousts Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“
       wird durch den Biss in einen Keks eine Explosion an Erinnerungen ausgelöst.
       Eine reale Sinneserfahrung verursacht literarische Fiktion – der sogenannte
       Madeleine-Effekt. Umgekehrt kann eine Explosion von Assoziationen aber auch
       eine konkrete Reaktion in der Realität provozieren. Alles Zufall, ließe
       sich dieses schier übersinnliche Phänomen leicht erklären, doch dafür
       geschieht es zu oft.
       
       Neulich lief ich durch meine Straße und dachte über den italienischen
       Schmalzbarden Eros Ramazzotti nach, den ich in einer Sentenz über
       Liebesgötter unterbringen wollte. Von da an hatte ich einen leidigen
       Ohrwurm: „Se bastasse una bella canzone / a far piovere amore.“
       
       Wissenschaftler behaupten, Ohrwürmer lassen sich durch Kaugummikauen
       beseitigen – kein Witz! Ich versuchte es durch ermüdende Wiederholung. Dass
       ich den Liedtext auswendig kann, liegt an einer privaten Peinlichkeit aus
       einem vorigen Leben, denn als Student arbeitete ich während der
       Semesterferien in einem italienischen Restaurant – als Urlaubsvertretung
       der Besitzerin. Dort gruben sich Eros und sein Pizzapop tief in mein Ohr,
       sodass ich noch heute sofort losschmettern kann: „Se bastasse …“
       
       Beim Wort „amore“ bog plötzlich ein Mann um die Ecke, der in seinen
       Flipflops und der kurzen Beach-Hose aussah, als ob er diretto vom Strand in
       Rimini kam. Auf seinem Shirt prangte in leuchtenden Buchstaben das Wort
       „Amore“.
       
       Am Sonntag war ich auf eine „historische Dampferfahrt“ eingeladen. Die
       „Geschichtswerkstatt Schöneberg“ feierte das 40-jährige Jubiläum ihrer
       kundigen Schifffahrten durch die Kanäle und Geschichte Berlins. Vor fast
       einem Vierteljahrhundert war ich einmal gebeten worden, während einer Tour
       vor Publikum an Deck eine Glosse vorzulesen, die im Reichstag spielte. Auch
       jetzt tuckerten wir auf der Spree am Reichstagufer vorbei, und ich trug
       erneut den kleinen Text über den auf seinem Bundeskanzlerstuhl
       festgefrorenen Helmut Kohl vor.
       
       Kurz darauf sah ich ihn am Ufer. Oder zumindest einen Mann, der ihm spooky
       ähnlich sah – wie sein Enkel, die CDU-Nachwuchskraft Johannes Volkmann.
       Allerdings las ich gerade erst, dass Kohls Grab in Speyer nach sieben
       Jahren noch immer ohne Grabstein ist. Vielleicht ist der unruhige
       Schwerkanzler ja auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Oder einem Teller
       mit seinem Lieblingsgericht Spaghetti Carbonara, das er früher einmal in
       der Woche im „Sale e Tabacchi“ verzehrte. Und Eros schmachtet dabei nach
       amore.
       
       6 Aug 2024
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Michael Ringel
       
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