# taz.de -- Gesundheitsversorgung in armen Gebieten: Muss man sich leisten wollen
       
       > Vorbild Hamburg: Mit 1.000 Gesundheitskiosken wollte Karl Lauterbach 2022
       > noch die Gesundheitsversorgung stärken. Daraus ist nichts geworden.
       
 (IMG) Bild: Foto aus glücklicheren Tagen: Von Lauterbachs Ankündigung beim Besuch des Billstedter Gesundheitskiosks ist nichts mehr übrig
       
       Hamburg taz | Monatelanges Warten auf Termine, gestresste Ärzt*innen und
       Pflegekräfte. Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) wollte die
       Gesundheitsversorgung verbessern. Helfen sollten dabei
       [1][Gesundheitskioske], auf Drängen der FDP hat Lauterbach sie jedoch
       gänzlich aus dem Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz (GVSG) gestrichen.
       Zu teuer und zu ineffizient seien sie. In Hamburg wollen die fünf Kioske
       trotzdem weitermachen. Denn: Die Versorgungslage hat sich verbessert,
       Patient*innen waren zufriedener und auch finanziell stellen sie nicht
       unbedingt zusätzliche Belastungen dar.
       
       2017 eröffnete der Gesundheitskiosk in Hamburg-Billstedt als
       deutschlandweit erstes Pilotprojekt. Ziel ist ein niedrigschwelliger Zugang
       zu medizinischer Versorgung und eine verbesserte Prävention, besonders für
       vulnerable Gruppen in sozial benachteiligten Regionen. Die Kioske bewegen
       sich an einer Schnittstelle zwischen medizinischer Versorgung und sozialer
       Arbeit, arbeiten mit lokalen, sozialen Einrichtungen zusammen.
       
       Soziale Ungleichheit spiegelt sich auch in einer gesundheitlichen
       Ungleichheit wider. Härtere Arbeits- und Lebensbedingungen erhöhen das
       Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes oder psychischen
       Erkrankungen wie Depressionen. Die Lebenserwartung von Männern der
       niedrigsten Einkommensgruppe ist in Deutschland 8,6 Jahre geringer als die
       von Männern der höchsten Einkommensgruppe. Bei Frauen beträgt die Differenz
       4,4 Jahre. Wer arm ist, stirbt auch früher.
       
       Im Gesundheitskiosk Billstedt können sich Patient*innen kostenlos und
       ohne Termin in sieben Sprachen beraten lassen. Medizinisch ausgebildete
       Pflegekräfte vermitteln in ausführlichen Gesprächen an Fachärzt*innen, es
       gibt Suchtberatungen und Sprechstunden für die seelische Gesundheit. Auch
       grundlegende medizinische Behandlungen wie Blutdruckmessen oder
       Wundversorgungen werden durchgeführt. In Hamburg gibt es mittlerweile fünf
       Kioske, in den vergangenen Jahren eröffneten weitere in Aachen, Essen und
       in ländlichen Regionen Thüringens.
       
       ## Gestrichen aus dem Gesetzentwurf
       
       Auch im [2][Koalitionsvertrag der Bundesregierung] ist die Errichtung
       niedrigschwelliger Gesundheitsangebote, etwa durch Gesundheitskioske,
       festgeschrieben. 2022 besuchte Lauterbach den Billstedter Kiosk und
       kündigte an, deutschlandweit 1.000 Kioske in sozial benachteiligten
       Regionen einrichten zu wollen. Die Kioske waren lange Bestandteil des
       Entwurfs des GVSG durch das Gesundheitsministerium.
       
       Der Entwurf sah für die Errichtung der Gesundheitskioske ein
       Initiativrecht für die Kommunen vor, die sich auch an 20 Prozent der Kosten
       beteiligen sollten. 74,5 Prozent sollten die gesetzlichen
       Krankenversicherungen zahlen, 5,5 Prozent die privaten
       Krankenversicherungen. Auch Menschen ohne Krankenversicherung sollten die
       Gesundheitskioske aufsuchen können.
       
       Die GKV, der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen, begrüßt zwar
       die generelle Zielsetzung, die gesundheitliche Chancengleichheit zu
       stärken, lehnt die Gesundheitskioske in dieser Form jedoch aufgrund der
       Finanzierung ab. „Die bisher geplante Ausgestaltung der Gesundheitskioske
       wäre im Kern kommunale Sozialarbeit und müsste deshalb auch primär von den
       Kommunen getragen werden“, sagt Sprecher Florian Lanz.
       
       Kritik kam auch von der FDP. „Jeder der ehemals angedachten 1.000
       Gesundheitskioske würde mindestens 400.000 Euro pro Jahr kosten“, sagt
       Andrew Ullmann, gesundheitspolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion.
       „Das wären jährlich 400 Millionen Euro für ein System, das schon jetzt vor
       weiteren Kostenexplosionen durch den demographischen Wandel steht.“ Zudem
       würden so Parallelstrukturen aufgebaut und Personal aus anderen notwendigen
       Bereichen der Gesundheitsversorgung abgezogen.
       
       ## FDP hat sich gesträubt
       
       Lauterbach korrigierte die Anzahl der geplanten Gesundheitskioske
       zwischenzeitlich auf 220 nach unten, wohl um die FDP noch von dem Vorhaben
       zu überzeugen. Im Kabinettsentwurf, den die Bundesregierung im Mai
       beschlossen hat, fehlen sie jedoch komplett – genau wie etwa auch die
       Förderung von Primärversorgungszentren und Gesundheitsregionen sowie die
       Finanzierung neuer Medizinstudienplätze. Auch die zuvor angekündigte
       Streichung homöopathischer Kassenleistungen fehlt. Lediglich
       Finanzierungszusagen für die hausärztliche Versorgung sind erhalten
       geblieben.
       
       Der Kiosk in Billstedt entstand auf Initiative von Ärzt*innen, die im
       Stadtteil ein Versorgungsdefizit sowie eine höhere chronische
       Krankheitslast und Armut festgestellt hatten. 95 niedergelassene
       Ärzt*innen gibt es in dem Stadtteil mit 72.000 Einwohner*innen. Zum
       Vergleich: Im wohlhabenden Eimsbüttel kommen auf 58.000 Einwohner*innen
       332 Ärzt*innen. Die medizinische Versorgung ist in sozioökonomisch
       schwächeren Stadtteilen und Regionen besonders eklatant.
       
       Finanziert wurde der Kiosk die ersten drei Jahre durch einen
       Innovationsfonds des Bundes. Der verantwortliche Innovationsausschuss hat
       zum Ende der Förderphase 2020 einen positiven Beschluss gefasst und
       empfohlen, das Modell in die Regelversorgung zu übertragen. Im Anschluss an
       die Förderphase waren fünf Versicherer an der Finanzierung beteiligt. Drei
       davon zogen sich jedoch zurück, nachdem Lauterbach angekündigt hatte, 1.000
       Kioske aufbauen zu wollen. Aktuell sind nur noch die AOK Rheinland/Hamburg
       und die Mobil-Krankenkasse beteiligt.
       
       Die dreijährige Testphase wurde auch von Wissenschaftler*innen der
       Universität Hamburg begleitet. In ihrer Evaluation kommen sie zu dem
       Ergebnis, dass die Anzahl ambulanter Arztbesuche gestiegen ist, bei
       gleichzeitigem Rückgang der Krankenhausaufenthalte. „Die Einrichtung des
       Gesundheitskiosks hat zu einem verbesserten Zugang beigetragen und wurde
       von den niedergelassenen Ärzt*innen und (sozialen
       Stadtteil-)Einrichtungen in die Versorgung integriert“, heißt es in dem
       Bericht.
       
       ## Unverständnis in Hamburg
       
       Zudem habe sich die Zufriedenheit der Patient*innen und der
       Ärzt*innen mit der medizinischen Versorgung erhöht. In Bezug auf die
       Wirtschaftlichkeit konnten innerhalb des Beobachtungszeitraums keine
       belastbaren Aussagen getroffen werden, hierzu wäre eine längere Beobachtung
       nötig.
       
       Alexander Fischer, Geschäftsführer der Trägergesellschaft der Hamburger
       Gesundheitskioske, kritisiert die Streichung aus dem Gesetz. „In den
       Gebieten, wo wir sind, sind die Hausärzt*innen von oben bis unten
       dicht.“ Die Gesundheitskioske seien eine wichtige Ergänzung im
       Versorgungssystem, da viele der Patient*innen von den Strukturen des
       Gesundheitswesen gar nicht erfasst werden.
       
       Den Kritikpunkt der Parallelstrukturen versteht er daher nicht. Wo sowieso
       kaum eine Versorgungsstruktur bestünde, könne es auch keine Doppelstruktur
       geben. „30 Prozent der Menschen, die zu uns kommen und erkrankt sind, haben
       gar keine*n Hausärzt*in“, sagt er.
       
       So hätten die Gesundheitskioske eine präventive Wirkung. „Wenn diese
       Menschen im Gesundheitssystem aufschlagen, dann erst in der Notaufnahme,
       wenn es eigentlich schon zu spät ist“, sagt Fischer. In der täglichen
       Arbeit gehe es stark um Prävention, Verständnis der Diagnostik,
       Medikationsmanagement, Vor- und Nachbereitung von Arztbesuchen. Dinge, die
       von Ärzt*innen häufig nicht erledigt werden können. „Bei vulnerablen
       Gruppen ist es ganz wichtig, dass man Zeit hat, sich um die Person zu
       kümmern. Die fehlt aber in den Hausarztpraxen“, sagt er.
       
       ## Bundestag könnte noch für Änderung sorgen
       
       Auch wenn die Gesundheitskioske kein Teil des Gesetzesentwurfs mehr sind,
       wird die Arbeit vorerst weitergehen. Die AOK Rheinland/Hamburg zieht eine
       positive Bilanz über die bisherige Arbeit, es seien seltener kritische
       Verläufe bei Erkrankungen aufgetreten, wodurch weniger stationäre
       Aufenthalte nötig gewesen sein. Daher möchte die Krankenkasse die sieben
       Gesundheitskioske, an denen sie insgesamt beteiligt ist, weiter
       finanzieren.
       
       „Nach unserer Erfahrung braucht es in Deutschland nicht 1.000
       Gesundheitskioske, sondern vielleicht 100 oder auch nur 50“, sagt Sprecher
       Heiko Schmitz. Sie sollten sich auf Regionen beschränken, in denen der
       größte Bedarf besteht. Eine ernsthafte finanzielle Belastung sind die
       Kioske laut Schmitz dann nicht. „Das Argument, der Aufbau und der Betrieb
       von Gesundheitskiosken seien zu teuer, trägt nicht“, sagt er.
       
       Bei 100 Kiosken beliefen sich die [3][jährlichen Ausgaben] auf etwa 40
       Millionen Euro. Laut Schmitz wären es höchstens 0,02 Prozent der gesamten
       Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherungen. „Die Gesundheitskioske
       kann man sich als gesetzliche Krankenkasse leisten, auch über einen
       längeren Zeitraum“, sagt er.
       
       Schmitz kritisiert daher, dass die Kioske aus dem Gesetz gestrichen wurden
       und nicht alle Krankenkassen gesetzlich verpflichtet werden, sich an der
       Finanzierung zu beteiligen. „Das wirklich Ärgerliche an der Sache ist, dass
       nicht alle gesetzlich Versicherten von diesem Versorgungsmodell profitieren
       können“, sagt er. Die Stärke einer solchen Struktur würde erst dann richtig
       zum Ausdruck kommen, wenn auch alle Bewohner*innen eines Stadtteils von
       den Gesundheitskiosken Gebrauch machen könnten.
       
       Noch ist das GVSG keine beschlossene Sache, am Freitag wird es erstmals im
       Bundestag verhandelt. Dort könnten die Gesundheitskioske theoretisch wieder
       Teil des Gesetzes werden. „Wir sind überzeugt vom Wert der
       Gesundheitskioske und erwarten, dass sie im parlamentarischen Verfahren
       wieder Teil des Gesetzes werden – das hofft Gesundheitsminister Karl
       Lauterbach gemäß seiner jüngsten Aussagen ja auch“, sagt Schmitz.
       
       In der vergangenen Woche sprachen sich bereits die Länder im
       Gesundheitsausschuss des Bundesrates für eine Wiederaufnahme der
       Gesundheitskioske ins GVSG aus. Die Bedingung ist, dass sich die Kommunen
       zu einem größerem Teil an der Finanzierung beteiligen.
       
       28 Jun 2024
       
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