# taz.de -- Jenny Erpenbeck und die USA: Ein ganz besonderes Vergnügen
       
       > Unerhörte Geschichten, dies- und jenseits des Atlantiks: Die mit dem
       > Booker Preis bedachte Jenny Erpenbeck ist im englischsprachigen Raum
       > überaus beliebt.
       
 (IMG) Bild: Jenny Erpenbeck bei der Booker-Preis-Verleihung
       
       New York taz | Die literarische Welt der USA ist Jenny Erpenbeck schon seit
       Jahren überaus zugetan. Bereits 2017 ließ der Kritiker des New Yorker
       beiläufig die Bemerkung fallen, dass sie wohl sicher bald den Nobelpreis
       erhalten werde. Andere folgten ihm in dieser Einschätzung, und so gab es
       auch nur wenige Stimmen, die hierzulande missgünstig waren, [1][als sie in
       dieser Woche den Booker Preis erhielt.]
       
       Die Ehrung schien lediglich zu bestätigen, was Dwight Garner in seiner
       Kritik zu „Kairos“ in der New York Times geschrieben hatte, dass Erpenbeck
       nämlich „eine der kraftvollsten und raffiniertesten Erzählerinnen ist, die
       wir haben“.
       
       Die wenigen Unkenrufe klangen angesichts dieser fast einstimmigen
       amerikanischen Bewunderung für Erpenbeck dagegen kleinlich. Der lapidare
       Spruch des Literaturprofessors Samuel Spinner auf der früher Twitter
       genannten Plattform etwa, der lautete:
       
       „Erpenbeck ist das Erbe einer Gattung angetreten, die durch Bernhard
       Schlinks ‚Der Vorleser‘ begründet wurde und die man auch als ‚Die
       Reifeprüfung mit Mrs. Robinson als Nazi‘ bezeichnen könnte. Die Tatsache,
       dass solche Bücher so effektiv die Kritiker anlocken, ist eine große
       bürgerliche Tragödie.“
       
       ## Verlegt von kleinem „Boutique“-Verlag
       
       Das war zweifellos giftig, doch dahinter steckte eine legitime Frage. Jenny
       Erpenbeck taucht noch immer nicht auf Bestsellerlisten in den USA oder in
       England auf. [2][„Kairos“] wurde, anders als in England und den USA, in
       Deutschland für keinen der wichtigen Preise berücksichtigt. Sie wird in den
       USA von keinem der „Big Five“ verlegt, sondern von New Directions, einem
       noch immer privat geführten „Boutique“-Verlag. Doch die literarische Elite
       des Landes überschlägt sich vor Enthusiasmus.
       
       Was also finden die Ost- und die Westküsten-Intellektuellen an der
       Deutschen? Spinners boshafter Ausspruch deutet an, dass hier ein gewisser
       Voyeurismus am Werk sei, der sich an der Schwere der deutschen Erfahrung
       ergötzt, ein leicht perverses Flirten mit den Abgründen all dessen, was
       leicht als „deutsch“ zu erkennen ist:
       
       Sebalds Schreiben über die totale Zerstörung etwa, die Melancholie von Wim
       Wenders oder [3][Anselm Kiefer,] das grüblerische Malen von Gerhard Richter
       oder die mitunter düsteren und verstörenden Fotos von Wolfgang Tillmans,
       die am New Yorker MoMa vor zwei Jahren ein großer Hit waren.
       
       Ist Erpenbeck also in den USA eine hippe literarische Mode, so wie es in
       den 80er Jahren in den New Yorker Clubs schick war, Bundeswehrunterhemden
       zu tragen? Sie selbst meint das natürlich nicht. Auf ihrer jüngsten
       Lesereise durch die USA glaubte sie vielmehr eine strukturelle politische
       Parallele zwischen den USA und Deutschland beobachten zu können, die ein
       Stück weit das Interesse an ihrem Werk erklärt.
       
       ## Ein Vorbild für die Stimmenlosen?
       
       Es gibt hier wie dort die unerhörten Geschichten, die zu Zorn führen, in
       Deutschland das Erleben der DDR und der neuen Länder der Nachwendezeit, in
       den USA die Leben der von der Globalisierung und den Küsteneliten
       Vergessenen und Abgehängten, die sich nun mit irrationalen politischen
       Willensbekundungen sowie mit Gewaltbereitschaft lautstark zu Wort melden.
       Erpenbeck ist eine Stimme des Ostens, die nicht selbstmitleidig ist und
       deshalb für die USA und die Stimmenlosen hier möglicherweise ein Vorbild.
       
       Eine wirkliche Literatur der „deplorables“, wie Hillary Clinton einmal
       unsensiblerweise die potenziellen Trump-Wähler genannt hat, gibt es
       jedenfalls in den USA bislang bestenfalls im Ansatz. Da ist der „Hillbilly
       Noir“ von Daniel Woodrell, da gibt es JD Vance sowie journalistische
       Ansätze wie die von George Packer oder Evan Osnos. Aber es gibt keinen
       Sound, in dem diese Geschichten erzählt werden, so wie etwa die
       Südstaatenliteratur über die Jahrzehnte einen eigenen Sound entwickelt hat.
       
       Natürlich sind die Parallelen zwischen den Unerhörten der USA und denen,
       deren Lebenswelt im Osten Deutschlands nach 1989 als ungültig abgestempelt
       wurde, begrenzt. Aber die Tatsache, dass Erpenbeck einen Ton für unerzählte
       Geschichten gefunden hat, vermag zumindest zum Teil ihre Attraktivität hier
       zu erklären.
       
       Aber vielleicht beruht Erpenbecks Erfolg bei den amerikanischen Literati
       auch nur darauf, dass sie, wie ihre Übersetzerin Susan Bernofsky es
       ausdrückte, einfach eine verdammt gute Erzählerin ist. Sie verwebt das
       Private und das Historische auf eine Art, wie man es von großer
       angelsächsischer Literatur gewohnt ist und erwartet.
       
       David Mendelsohn schwärmte in der New York Review of Books davon, wie sie
       die „gewichtigen Themen von Zeit, Geschichte, Macht, Gewalt und Erinnerung“
       mit „kühler Präzision und beinahe verstörender Kargheit“ behandelt. Es ist
       eine besondere Kunstfertigkeit. Und die bereitet den lesenden Kreisen von
       New York und Los Angeles ein ganz besonderes Vergnügen.
       
       24 May 2024
       
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