# taz.de -- Trauern im Exil: Verfluchtes digitales Beileid
       
       > Das Exil ist am schwersten, wenn ein geliebter Mensch im Heimatland
       > stirbt. Wir erfahren nur über Facebook davon und müssen die Trauer allein
       > tragen.
       
 (IMG) Bild: Hilft schlecht gegen Einsamkeit und noch schlechter im Trauerfall: Facebook als Verbindung zur Heimat
       
       An einem Sonntagmorgen rief mich mein Bruder an, der auch in Hamburg lebt.
       Er erzählte mir, dass unser Onkel in Syrien gestorben sei. Er hatte es auf
       Facebook gesehen, nicht persönlich gehört. Ich habe schon oft gesagt, dass
       Facebook einer der letzten Orte ist, an dem viele Syrer*innen noch
       miteinander in Kontakt treten. Syrer*innen im Exil und im Heimatland;
       die im Norden, wo islamische Milizen und die Syrische Freie Armee unter
       türkischer Herrschaft stehen; im Westen, wo die Kurden und amerikanischen
       Truppen sind, und jene in Mittel- und Südsyrien, das Assad kontrolliert,
       mit Unterstützung russischer und iranischer Truppen und Milizen.
       
       Ich erfahre fast nur durch [1][Facebook], was in meinem Heimatort nahe
       Damaskus passiert. In den ersten paar Jahren nach meiner Flucht war ich
       sehr verärgert darüber, dass wir nur über Facebook informiert wurden, wenn
       ein Verwandter gestorben ist. Oder wenn jemand geheiratet hat. Es hat so
       etwas Oberflächliches, das ich für die traurigsten, aber auch für die
       schönen Neuigkeiten unwürdig finde.
       
       Heute kann ich besser verstehen, dass viele Syrer*innen digitales
       Beileid suchen, weil sie im Exil kein persönliches Beileid erhalten. Oder
       weil viele Menschen einfach alles auf Facebook veröffentlichen; weil sie
       nicht mehr in der Wirklichkeit, sondern nur in den sozialen Medien leben.
       Vielleicht, weil sie alle früheren Kontakte durch Krieg und [2][Flucht]
       verloren haben und keine neuen Familien, Nachbar*innen oder Freunde im
       Exil finden. Sicherlich haben die Pandemiejahre das noch verschlimmert.
       
       Die Trauer über meinen verstorbenen Onkel war für mich schwer zu ertragen,
       auch weil ich das mir bekannte Umfeld nicht erleben konnte. Es war sehr
       komisch, als ich am nächsten Tag zur Arbeit ging und sah, wie die
       Hamburger*innen die Sonne genossen. Und wie glücklich sie waren und wie
       schön die Stadt mit der Sonne wird. Ich hatte wie immer Termine und meine
       Kolleg*innen fragten: „Na, wie geht’s?“ Und ich habe ihnen nicht die
       Wahrheit gesagt. Ich sagte: „Mir geht es gut, danke, und dir?“ Ich hatte
       das Gefühl, dass ich nicht sagen konnte, dass mein Onkel gestorben war.
       Warum? Vielleicht weil ich keine Nebenbei-Beileidsbekundung hören wollte,
       während ich bei der Arbeit war.
       
       Ich habe darüber nachgedacht, wie der Tod in der deutschen Gesellschaft
       behandelt wird. Wenn ich jetzt in meinem Ort in Syrien wäre, wären die
       ganze Straße und der Stadtteil auch traurig. Es gäbe eine dreitägige
       Bestattung, bei der Familie, Freund*innen und Bekannte zusammenkommen.
       Die Trauer wird mit vielen Menschen geteilt und man hat wirklich das
       Gefühl, sie nicht allein zu tragen.
       
       Aber hier in Deutschland sehe ich, dass die Hinterbliebenen die Traurigkeit
       allein tragen. Oder vielleicht innerhalb der kleinen Familie. Eine deutsche
       Freundin hat mir 2018 erzählt, dass die Deutschen [3][Angst vor dem Tod]
       haben. Zwei Jahre später sagte ein syrischer Freund zu mir, er habe Angst,
       in Deutschland zu sterben. Diese Sätze haben mich lange beschäftigt. Und
       ich frage mich, ob absichtlich kein Platz für den Tod in der deutschen
       Gesellschaft gemacht wird. Kein Platz für die geteilte Traurigkeit.
       
       Natürlich kann ich nur von meiner Erfahrung bis jetzt sprechen und nur über
       das Lebens in einer Großstadt. Aber auch wie die Medien mit diesem Thema
       umgehen, finde ich interessant. Besonders wenn sie über prominente Personen
       sprechen. Es wird einfach der Fakt präsentiert, keine emotionale
       Anteilnahme. Die Person ist tot.
       
       Wenn ich dagegen die arabischen Medien lese, wird es emotionaler: „Er hat
       unsere Welt verlassen“ und „möge Allah seine Seele schützen“. Für uns
       Syrer*innen im Exil ist es sehr schwer zu erleben, wie die uns
       vertrauten Menschen die Welt verlassen, und wie hilflos wir danebenstehen
       müssen. Umso mehr, wenn uns nur Likes und Kommentare auf Facebook bleiben.
       In solchen Momenten wiegt das Exil am schwersten, wenn wir die
       [4][Traurigkeit allein tragen müssen.]
       
       21 May 2024
       
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