# taz.de -- Biografie über Lenin: Goodbye, Lenin
       
       > Vor 100 Jahren starb Lenin und noch immer spukt er in den Köpfen vieler
       > Linker herum. Nun ist eine neue, intellektuelle Biografie erschienen.
       
 (IMG) Bild: Folklore auf einem Weihnachtsmarkt in St. Petersburg
       
       Ohne Lenin hätte es die Oktoberrevolution nicht gegeben. Es hätte die
       russische Revolutionspartei nicht gegeben, und [1][1917 nicht den
       voluntaristischen Griff nach der Staatsmacht], der zum Prototyp jeder Art
       von „Revolution“ werden sollte. Man kann sagen: Auch der Kommunismus wird
       sich von Lenin so schnell nicht mehr erholen.
       
       Dennoch gilt Lenin auch über die engsten Kreise sektiererischer
       Aufstandsromantiker hinaus noch bis heute als attraktive Figur. Als
       Verkörperung eines Traums, der dann nur Stalins wegen im bösen Albtraum
       endete. Exakt 100 Jahre ist es nun her, dass Wladimir Iljitsch Uljanow –
       „Lenin“ – in Moskau gestorben ist. Da war er nach mehreren Schlaganfällen
       schon hinfällig und siech.
       
       Lenin-Bewertung und -Rezeption folgten stets leicht berechenbaren
       Konjunkturen. Die moskautreuen Parteikommunisten haben ihn als Genie
       monumentalisiert. Reformer und antistalinistische Kommunisten wiederum
       bogen ihn zum Kontrast gegenüber den Entartungen der Tyrannei hin. Nach dem
       Sowjetkollaps in den 1990er Jahren wurde der Lichtkegel auf den
       „sadistischen Gewaltherrscher“ Lenin gerichtet.
       
       Verena Moritz und Hannes Leidinger, zwei österreichische Historikerinnen
       und Russlandkenner, haben nun zum 100. Todestag eine neue Biografie
       vorgelegt. Mit noch mehr Dokumentenzugang, mit Abstand und Gelassenheit.
       Vor allem ist es eine intellektuelle, theoretische Biografie. Soll heißen:
       Man erfährt viel von Schrifttum und Gedankenwelt Lenins und wenig von Leben
       und Alltag. Bemerkenswert – heute werden Biografien üblicherweise in ganz
       anderem Sound geschrieben.
       
       ## Sein Erweckungsereignis
       
       Wladimir Iljitsch Uljanow war der Sohn eines reformorientierten
       Schulinspektors in der Provinz. Sein Erweckungsereignis war gleich eine
       persönliche Tragödie. Uljanows geliebter großer Bruder, Sascha, ist Teil
       einer Konspiration zur Ermordung des Zaren, fliegt noch vor dem Attentat
       auf, wird zum Tode verurteilt und gehenkt. Damit ist der Hass auf den
       Zarismus im Herzen des kleinen Bruders.
       
       Wladimir Iljitsch selbst fliegt beinahe vom Gymnasium und wird, ein
       Treppenwitz der Weltgeschichte, vom Schuldirektor Fjodor Kerenski gerettet
       – ausgerechnet dem Vater jenes späteren Ministerpräsidenten, den Lenins
       Oktoberrevolution stürzen wird. An der Universität ist Wladimir in
       regimekritischen aufrührerischen Zirkeln, wendet sich 1889 dem Marxismus
       zu, wird nach Sibirien verbannt.
       
       Die geistigen Prägungen sind: der westliche Marxismus und die
       Sozialdemokratie sowie die russische Tradition des terroristischen
       Untergrundkampfes.
       
       Angesichts des Gewaltstaates mit seiner allmächtigen Geheimpolizei
       entwickelt Lenin innerhalb der losen russischen Sozialdemokratie zunächst
       sein Parteikonzept der „Avantgardepartei“, einer verschworenen Kadertruppe
       im Untergrund. Zu den russischen Realitäten hat er bald nur lose
       Verbindung. Zwischen 1895 und 1917 war er die meiste Zeit in Verbannung,
       auf der Flucht oder im Exil, vornehmlich in München, Genf, Paris, Zürich
       und Galizien.
       
       ## Revolutionär ohne Moral
       
       [2][Vera Sassulitsch, die Aufrührerlegende,] identifizierte Lenin schon bei
       ersten Begegnungen als den „Netschajew-Typ“, in Analogie zu Dostojewskis
       Figur aus den „Dämonen“, den Revolutionär, der ohne Moral sein Ziel
       verfolgt, kompromisslos in seiner Methodenwahl.
       
       Lenin schreibt „Was tun?“, sein Handbuch der Kampfpartei. Die „Partei“
       spaltet sich in „Bolschewiki“ und „Menschewiki“ und ist über die ganzen
       Jahre hindurch primär mit inneren Schlammschlachten beschäftigt. Westliche
       Sozialisten wollen gelegentlich vermitteln, Victor Adler spricht vom
       „übergeschnappten Lenin“.
       
       Ein Mann der Kompromisse war Lenin nicht. Alles, was heute noch in der
       Sprache der Linksradikalen oft so unerträglich ist, geht auf Lenin zurück:
       Injurien wie „Renegat“, „Opportunist“, „Versöhnlertum“, „Abweichlerei“,
       „Schwätzer“, Vokabeln wie „Entschlossenheit“ oder „Erbarmungslosigkeit“.
       
       Lenin hatte einen Hang zu jovialer Leutseligkeit, noch mehr zum Querulanten
       und Erbsenzähler, war fleißig bis zur Nerdhaftigkeit, und die persönliche
       Ausstrahlung hatte nichts Imposantes. Er wirke wie ein
       „Gemischtwarenhändler aus der Provinz“, wunderte sich später ein britischer
       Diplomat.
       
       ## Das welthistorische Ereignis schaffen
       
       Dennoch geht von Lenin bis heute für nicht wenige eine Faszination aus.
       Während andere an Verbesserung in kleinsten Schritten tüftelten, schuf
       Lenin das eminente welthistorische Ereignis.
       
       Ein Lenin ist eben kein zögerlicher Hamlet, der potenziell negative Folgen
       des eigenen Tuns bis zur Handlungsunfähigkeit abwägt, sondern einer, der
       sich sagt: Was soll’s, wo gehobelt wird, da fallen Späne. Lenin, das steht
       für den, der „den Augenblick erkannte“, [3][wie das Slavoj Žižek einmal
       formulierte]. Lenins Lösung, so Žižek, ist „fürchterlich gescheitert“, und
       dennoch sollte man akzeptieren, dass in ihr „ein utopischer Funke war, der
       es wert ist, bewahrt zu werden.“
       
       1917 kehrt Lenin nach Russland zurück und drängt seine zaudernden Genossen
       zum Griff nach der Macht. Kurz vor dem Oktoberumsturz beschreibt Lenin in
       „Staat und Revolution“ jede Staatlichkeit als Gewaltorganisation zur
       Unterdrückung einer Klasse durch eine Klasse der Herrschenden, die
       „bürgerliche Diktatur“ im Kapitalismus entsprechend als Gewaltherrschaft
       einer Minderheit über die Mehrheit.
       
       Die „Diktatur des Proletariats“, die als erster Schritt in eine
       Übergangsperiode zu Sozialismus und Kommunismus zu etablieren sei, als
       Diktatur der Mehrheit über eine Minderheit, weshalb diese schon weniger
       Gewalt benötigen werden. Lenin theoretisiert über das Absterben der
       Staatsgewalt als solcher, die ins „Museum der Altertümer“ gehöre – und
       etabliert einen Gewaltstaat. Auch so ein Scherz der Weltgeschichte.
       
       ## Der „Rote Terror“
       
       Vor der Revolution werden „Massenterror“ und „Exzesse“ gefordert, nach dem
       „Roten Oktober“ wird gegen bisherige Mitstreiter und Koalitionäre der „Rote
       Terror“ ausgerufen. „Erschießen“ zählt zu Lenins Lieblingsvokabeln. Was die
       Stärke des Lenin’schen Typus ist – kühl kalkulierender Demiurg der
       Weltgeschichte ohne alle Sentimentalitäten zu sein –, ist zugleich sein
       Abgrund.
       
       Opfer werden als kollaterale Ergebnisse gerechtfertigt, Gräuel als unschöne
       Randerscheinungen des Geschichtsverlaufs. Lenin verfällt immer mehr in das
       „dehumanisierende Vokabular einer hemmungslosen Gewaltsprache“
       (Moritz/Leidinger).
       
       Das Lenin-Bild zehrt von einer Fantasie, die niemals beweisen, aber auch
       nicht widerlegt werden kann: dass, hätte er länger gelebt, alles ganz
       anders gekommen wäre. Das ist auch die Folge seines berühmten „Testaments“,
       also der Abfolge von Briefen an die Partei, die Lenin, quasi schon halbtot,
       diktierte. Darin heißt es: „Stalin ist zu grob … Deshalb schlage ich den
       Genossen vor, sich zu überlegen, wie man Stalin ablösen könnte.“
       
       Heute kennt man Lenins Telegramme und Anordnungen: „Der gnadenlose
       Massenterror gegen Kulaken, Popen und Weißgardisten ist durchzuführen.“ Bei
       anderer Gelegenheit befahl Lenin „die Verschwörer und Schwankenden zu
       erschießen, ohne um Erlaubnis zu bitten“.
       
       Er war ein Robespierre, dem das Schafott erspart blieb.
       
       21 Jan 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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