# taz.de -- Was 2024 passieren muss: Machen statt Meckern
       
       > 2023 war kein gutes Jahr. Politik und Gesellschaft stecken in einer
       > Sackgasse. Wie kommen wir da wieder raus? Ein Plädoyer.
       
 (IMG) Bild: Stimmungsbarometer: Übermalte Flohmarkt-Fotos haben Max Kersting, Jahrgang 1983, bekannt gemacht
       
       Wie kann man über die Zukunft schreiben, ohne dass es in eine geile
       Apokalypse, eine sinnlose Moralpredigt oder eine gutgemeinte, aber
       unrealistische Alles-wird-gut-Fantasie abgleitet?
       
       Und wie kann man glasklar sagen, was Sache ist?
       
       Gar nicht. Alles ist kompliziert und ambivalent, leider. Es bringt gar
       nichts, zu entdifferenzieren und wieder das alte (Wir sind gut, die anderen
       böse) Spiel zu spielen. Schlimmer: Es ist sogar kontraproduktiv.
       Andererseits bringt es aber auch nichts, die Augen zuzumachen, sagen wir,
       [1][vor den imperialen Interessen Russlands], wie es die SPD jahrelang
       praktizierte, und zu denken, man könne mit Wandelhandel best friends mit
       allen werden – oder gar religiös-totalitäre Staaten mit feministischer
       Außenpolitik bekehren wie manche Grüne.
       
       Auf der einen Seite gibt es zunehmend Leute, die Zukunft für ein
       Schimpfwort und eine Zumutung halten, nichts damit zu tun haben wollen und
       vor allem nicht, dass jemand aktiv Zukunftspolitik macht. Sie denken, wenn
       wir nichts aktiv ändern, dann ändert sich auch nichts, bisschen mehr
       umverteilen halt. Eigentlich wissen sie, dass es so nicht läuft, aber wie
       Menschen halt sind, machen wir lieber die Augen zu als auf. Dahinter steht
       die stärker werdende Erzählung des „nostalgischen Nationalismus“. Was
       zählt, ist der eigene Schrebergarten. Es gibt sie in unterschiedlichen
       Ausprägungen, milder und heftiger, linker und rechter, staatsnäher und
       staatsferner. Ironischerweise sind gerade Turboliberale überzeugt, dass
       alles den Bach runtergeht, wenn sich was ändert.
       
       Vor allem die Bewahrung der planetarischen Grundlagen ist schlecht
       angesehen und wird von populistischer Politik diffamiert: Ha’m wa doch noch
       nie gemacht! Nicht nur AfD, sondern auch CDU, CSU, SPD, FDP und Wagenknecht
       stellen einen weitgehend bewohnbaren Planeten gern als ideologiegetriebenen
       Elitismus von akademischen Schnöselinnen und Schnöseln hin, die damit nicht
       den Wohlstand durch postfossile Produkte und Produktion erhalten, sondern
       den tollen Verbrennungsmotor und im Grunde die ganze Industrie zerstören
       wollen. Die Bratwurst nicht zu vergessen.
       
       ## Schöner wär’s, wenn’s schöner wär’
       
       Auf der anderen Seite gibt es Leute, die einfach immer weiter daherreden,
       dass Frieden doch besser sei als Krieg, keine Waffen besser als Waffen, und
       dass wir das 1,5-Grad-Ziel schaffen, wo wir faktisch eine globale Politik
       machen, die auf das 3-Grad-Ziel hinwirtschaftet. Schöner wär’s, wenn’s
       schöner wär’, klaro.
       
       Es reicht aber nicht, einfach immer ambitioniertere Zahlen auf Papiere zu
       schreiben, solange wir das Gesagte und Geschriebene nicht ausreichend
       machen, also zügig und komplett von fossiler auf erneuerbare Energie
       umsteigen. Beispiel aus dem zu Ende gehenden Jahr: Wenn die Emissionen im
       Gebäudebereich sinken sollen, was sie laut Pariser Abkommen müssen, dann
       muss man anders heizen, nämlich fossilfrei, und darf nicht neue Öl- und
       Gasheizungen einbauen.
       
       Jetzt wird man sagen: Genau, aber dass das nicht passiert, liegt ja nicht
       an unsereins, sondern an den anderen. [2][Oder an einem angeblich
       vermurksten Gesetz.] Das muss man halt richtig machen und sozial und
       richtig kommunizieren, dann klappt das auch. Ja, kann sein. Aber im Moment
       kann niemand, nicht mal Robert Habeck, so sprechen, dass die
       Zukunftserzählung den nostalgischen Nationalismus schlagen könnte. Und die
       „soziale Frage“ ist selbstverständlich zentral für
       demokratiestabilisierende Veränderung. Aber sie ist eben gleichzeitig auch
       eine perfide Chiffre, die jeder Lobby-Hanswurst verwendet, wenn es etwas zu
       verhindern gibt, aber leider nicht zum Wohl der alleinerziehenden
       Supermarktverkäuferin, sondern im Sinne der fossilen Besitzstandswahrer.
       
       ## Menschen mit konservativen Bedürfnissen
       
       Kulturlinke und Linksemanzipatorische rufen gern, die Gesellschaft drifte
       nach rechts, und nazifizieren fleißig alle, die nicht wie sie sprechen und
       denken. Liberalkonservative wähnen sich in einem linksautoritären Staat
       (sic!) und halten alles für „links“, was ihnen nicht passt, vom Gendern bis
       zum postfossilen Wirtschaften. Ich dagegen denke, dass wir in einer recht
       stabilen Demokratie leben. Aber es fehlt das Commitment auf ein gemeinsames
       Ziel, durch dessen Erreichen jeder in einer liberal-emanzipatorischen
       Gesellschaft seine Idiosynkrasien auch in Zukunft pflegen kann.
       
       Die überwiegende Mehrheit der Leute hat konservative Bedürfnisse, um im
       Alltag klarzukommen und Halt zu spüren. Das gilt für Union, SPD und
       Rest-Linkspartei sowieso, aber eben auch für die, die mittlerweile
       entschlossen die postfossile Republik voranbringen wollen. Diese Leute
       entsprechen überwiegend nicht den Ressentiment-Schablonen der Gegner oder
       den Träumen der Alt- und Neolinken. Sie sind weder antikapitalistisch noch
       superwoke, sie schätzen und stützen die gesellschaftliche Liberalisierung
       der letzten Jahrzehnte, sie brauchen Sicherheit und Perspektive,
       ordentliche Kitas für ihre Kinder, eines Tages Pflege für ihre Eltern und
       sich selbst. Auf dem Land ein E-Auto und – je nachdem – auch mal eine
       Bratwurst. Sie finden Deutschland okay, im Vergleich mit anderen Staaten
       und Zeiten sowieso. Und sie wissen, dass sie mit anderen auskommen müssen,
       die manches anders sehen.
       
       Das sind die normalen Leute, mit denen Staat zu machen ist.
       
       Nun wird es für sie – für uns – darum gehen, dagegenzuhalten, wenn die
       Aufregungszuständigen im kommenden Jahr hyperventilieren (was sie auf jeden
       Fall tun werden). Für uns Medien wird das eine echte Herausforderung, denn
       wir leben ja von der Verbreitung des Negativen und der negativen Emotionen.
       Für die Protagonisten der oppositionellen Union wird es ein Balanceakt,
       denn irgendwo ist der Punkt, wo populistisch überzogenes Schlechtreden
       antidemokratische Wirkungen hat, etwa wenn man umstrittene, aber
       handelsübliche Gesetzesreformen zur Staatskrise und Ökodiktatur hochjazzt.
       
       ## Ständig in Sorge
       
       Es wird nichts mehr, wie es war, und es wird – erst mal – immer noch ein
       neues Problem dazukommen. Das ist das neue Normal, und auf dieser Grundlage
       müssen wir etwas hinkriegen. Pandemie, Putin, [3][AfD], Israel/Hamas/Gaza,
       Bundesverfassungsgericht. Man plant was – und dann kommt was dazwischen.
       Man plant um – und dann kommt der nächste Hammer. Die Zerrissenheit der
       Bundesregierung ist selbstredend ein großes Problem, aber sie drückt aus,
       dass die bundesdeutsche Gesellschaft keine gemeinsamen Ziele hat und zu
       viele ständig in Sorge sind, dass sie oder ihr Stamm zu kurz kommen.
       
       Wenn wir auf das deutsche Wahljahr 2024 schauen, dann sollten
       liberaldemokratische Politik und Medien vorher einen Plan entwickeln, wie
       wir mit Wahlsiegen der AfD umgehen. Wir sollten nicht nur schön warnen,
       dann „fassungslos“ sein (das neue Modewort) und die üblichen „Oh Gott,
       Weimar reloaded“-Kommentare absetzen und „antifaschistische“ Demos
       besuchen. Selbstverständlich sind Landesregierungen ohne Demokratiefeinde
       wichtig, aber wichtiger ist die EU-Wahl im Mai, wenn der Green Deal und
       damit die Zukunft Europas auf dem Spiel steht. Es geht darum, ob
       EU-Präsidentin Ursula von der Leyen von europäischen Rechtspopulisten und
       nationalen CDU-Strategie-Erwägungen gelähmt oder ob sie gar geschasst wird
       – oder ob es eine mehrheitliche Grundlage dafür gibt, in der nächsten
       Legislatur ernsthaft eine [4][Antwort auf Präsident Bidens Inflation
       Reduction Act und Chinas breiten Vormarsch] zu finden, der uns Europäer im
       Geschäft hält (im Sinne des Wortes).
       
       Weil wir Bundesdeutsche in aller historisch gebotenen Zurückhaltung schon
       zum selbstbezogenen Superlativ neigen, wird aus einer schwierigen Lage
       flugs eine katastrophale. Na ja. Diverse Fortschritte setzen sich fort,
       technologische, vor allem auch medizinische. Menschen leben besser, länger
       und länger bei ordentlicher Gesundheit. Historisch und global gesehen, ist
       diese Bundesrepublik (Freiheit, Emanzipation, Wohlstand) nach wie vor mit
       die Beste aller bisherigen Welten. Es geht halt nur nicht mehr so weiter
       wie bisher. Deshalb braucht es gemeinsame Ziele und eine neue, durch große
       gesellschaftliche Bündnisse ermöglichte Art des Politikmachens – Betonung
       auf Machen.
       
       ## Yogamatte reicht nicht
       
       Im Moment sind wir noch in einer Phase der Verwirrung. Wir haben einen
       gesamtgesellschaftlich lähmenden Pessimismus, einen teilgesellschaftlichen
       Nihilismus, einen gelähmten und damit nichtsnutzigen Optimismus, der von
       einer schöneren Welt träumt, und wir brauchen Mehrheiten für einen
       knallharten und gleichzeitig empathischen Realismus, der uns handlungsfähig
       macht und unsere Ziele durchsetzungsfähig.
       
       Mit Yogamatten wird unsere Freiheit nicht zu verteidigen sein, um mal einen
       weisen Spruch des Bundesministers Cem Özdemir zu paraphrasieren. Schon gar
       nicht, wenn Trump wieder Präsident wird. Wir brauchen Solarpaneele,
       Solarpaneel-Installateure, funktionierende Pflegesysteme, Pflegekräfte,
       weltweit konkurrenzfähige Elektroautos und im diplomatisch-militärischen
       Bereich eine europäische Verteidigung und Abschreckung. Es tut mir leid,
       aber wir müssen wieder über Atom diskutieren.
       
       30 Dec 2023
       
       ## LINKS
       
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