# taz.de -- Jüdisches Leben in Deutschland: Traumatisches Klima
       
       > Der Massenmord an der israelischen Zivilbevölkerung hat enorme
       > psychosoziale Folgen für Shoa-Überlebende. Für sie wird der Schaden
       > irreparabel sein.
       
 (IMG) Bild: In der Düsseldorfer Synagoge: Fotos mit den von der Hamas entführten Israelis
       
       Israel hat seit dem Massaker der Hamas-Terroristen am 7. Oktober, dem wohl
       verheerendsten Tag in der 75-jährigen Geschichte des Landes und dem
       mörderischsten Tag für Jüdinnen und Juden seit der Shoa, ein psychisches
       Trauma erlitten. Die Bilder und Zeugnisse über den Mord an israelischen
       Zivilist:innen sowie die weltweiten [1][antisemitischen
       Demonstrationen] und [2][Angriffe] wirken auch außerhalb Israels auf die
       jüdische Community. Die [3][Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in
       Deutschland (ZWST)] sieht darin eine nie zuvor erlebte Zäsur für das
       jüdische Leben in Deutschland nach 1945. So haben sich für die ZWST nach
       dem 7. Oktober zwei Aufgabenbereiche ergeben, sagt Direktor Aron Schuster
       der taz: Zum einen werde die Zivilbevölkerung in Israel unterstützt. „Zum
       anderen konzentrieren wir uns darauf, die eigene jüdische Community
       psychosozial zu unterstützen“, so Schuster.
       
       Wie enorm die psychologische Belastung ausfällt, lässt sich bereits an der
       erhöhten Nachfrage bei der [4][Beratungsstelle Ofek für Betroffene
       antisemitischer Gewalt und Diskriminierung] erkennen. Seit dem 7. Oktober
       hat sich der Bedarf laut Leiterin Marina Chernivsky im Vergleich zu den
       vergangenen Monaten verdreizehnfacht. Um dies aufzufangen, hat Ofek seine
       Beratungszeiten verlängert, regelmäßige sogenannte Safer Spaces zum
       Austausch sowie Supervision und Beratung für den Schulkontext eingerichtet.
       Psychologische Unterstützung wird zudem in Deutsch, Hebräisch, Russisch und
       Englisch angeboten.
       
       Für die jüdische Community komme der psychologische Druck aus zwei
       Richtungen, erklärt ZWST-Direktor Schuster: „Jüdinnen und Juden müssen die
       Situation von Krieg und Terror verarbeiten und gleichzeitig mit einer
       realen Gefährdung und Bedrohung in Deutschland umgehen.“ Veranstaltungen
       werden abgesagt, die Synagoge gemieden, jüdische Symbole versteckt. Eltern
       fürchten, ihre Kinder in die jüdische Schule zu schicken. „Angst haben auch
       Eltern, deren Kinder nicht-jüdische Schulen besuchen. Hier fürchten sie,
       dass ihre Kinder unmittelbar mit Antisemitismus konfrontiert werden“, sagt
       Schuster.
       
       Jüdinnen und Juden ziehen sich in eigene Räume zurück, isolieren sich.
       Schuster skizziert ein düsteres und beunruhigendes Bild für das derzeitige
       jüdische Leben, wenn er sagt, dass dieses „aktuell ausschließlich hinter
       Polizisten mit Maschinenpistolen, hinter eigenen Sicherheitskräften und
       zentimeterdickem Panzerglas“ stattfinde. Das in den letzten Jahren oft
       zitierte sichtbare, vielfältige jüdische Leben gebe es in dieser Form
       aktuell nicht mehr.
       
       ## Nonverbal über Traumata sprechen
       
       Wer verstehen möchte, auf welche Erinnerungen die Bilder des
       Hamas-Massakers bei Überlebenden und ihren Nachkommen hier in Deutschland
       prallen, muss [5][Kurt Grünberg] fragen. Grünberg ist Psychoanalytiker und
       wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt. Er
       forschte zur transgenerationalen Weitergabe extremen Traumas von
       Überlebenden der Shoa an deren Kinder, die zweite Generation, und
       entwickelte in diesem Zusammenhang das Konzept des szenischen Erinnerns der
       Shoa. Demnach lassen sich die Verfolgungserfahrungen der Überlebenden
       weniger in ihrem Erzählten als im Umgang miteinander, in Beziehungen, in
       Begegnungen zwischen Menschen erfassen. Die Traumatisierung wird „szenisch“
       erinnert und weitergegeben.
       
       Denn anders als viele Jahrzehnte behauptet, schwiegen die Überlebenden der
       Shoa im Land der Täter nur vermeintlich. „Der Schmerz über den Verlust der
       eigenen Eltern, der Geschwister oder gar Kinder war so groß, dass
       Überlebende weder sich noch ihre Kinder damit konfrontieren wollten, sie
       suchten sie davor zu schützen“, sagt Grünberg der taz. „Eigentlich
       ‚sprechen‘ Überlebende ständig über ihre erlittene Verfolgung, jedoch nicht
       vornehmlich im verbalen Sinne, sondern vor allem nonverbal.“
       
       Als eine zentrale psychosoziale Spätfolge der Shoa benennt Grünberg das,
       [6][was Jean Améry den „Verlust von Weltvertrauen“ nannte], ebenso wie dass
       der „Mit-Mensch als Gegen-Mensch“ erfahren wurde. Dies erlebe Grünberg
       nicht nur bei den Überlebenden, sondern auch den nachfolgenden
       Generationen.
       
       Im Kontext der Hamas-Angriffe werden genau diese Erinnerungen, diese Ängste
       geweckt. Es „reaktualisiert das Erinnern von Überlebenden der Shoa und
       ihrer Nachkommen. Ich bin weit davon entfernt, die terroristischen Massaker
       der Hamas vom 7. Oktober mit der Shoa gleichzusetzen. Doch erlebe ich, dass
       sich viele bei den Bildern vom 7. Oktober und von dem, was sich danach in
       der Welt zutrug – die Kälte, der Mangel an Empathie und Solidarität –, an
       die Verbrechen der Nazis und deren Leugnung erinnert fühlen“, so Grünberg.
       
       ## Normalisierung und panische Angst
       
       Wenn dieses Erleben in einem gesellschaftlichen Kontext stattfindet, in dem
       Gewalttaten nach knapp über drei Wochen für die meisten Menschen fast
       vergessen scheinen, wenn es einfach erscheint, antisemitische Propaganda
       wie die der Zerstörung eines Krankenhauses in Gaza durch die israelische
       Armee zu glauben, Jüdinnen und Juden real bedroht werden in ihrem Umfeld,
       dann führe dies zu einem Gefühl, „sich nicht verlassen zu können, nicht
       aufgehoben, sondern bedroht zu sein“. Jüdinnen und Juden fühlten sich dann
       wie „Fremdkörper“ im eigenen Land. Panische Ängste können entstehen.
       Grünberg spricht in diesem Zusammenhang von einem „traumatischen Klima“,
       das er höchst bedenklich finde.
       
       Es stellt sich die Frage, wie Jüdinnen und Juden angesichts des
       abscheulichen Massenmords vom 7. Oktober und der nach Gaza verschleppten
       Geiseln wieder Hoffnung in der Welt finden können.
       
       Für ZWST-Direktor Schuster ist klar: „Wir müssen uns die Illusion nehmen,
       dass nach dem Ende dieses Krieges alles wieder so sein wird wie vorher. Die
       jüdische Community in Deutschland hat realisiert, welches Potenzial
       besteht, Antisemitismus auf die Straße zu bringen. Diese Erfahrungen und
       die Traumatisierung dadurch, die bleiben.“ Und Analytiker Grünberg verweist
       auf die Verantwortung des gesellschaftlichen Umfelds: „Hier ist vor allem
       die Zivilgesellschaft aufgerufen zu handeln. Warum hängen keine
       israelischen Flaggen an jeder zweiten Häuserwand?“
       
       Vertrauen wiederherstellen und die Betroffenen psychisch stabilisieren –
       diese Bemühungen werden aus Sicht der ZWST langfristig bleiben. Ein zum
       Teil irreparabler Schaden, der bleibt.
       
       1 Nov 2023
       
       ## LINKS
       
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