# taz.de -- Interview zum Film „Afwaah“: „Ich sehe das Feminine in mir“
       
       > Der indische Regisseur Sudhir Mishra über ethnoreligiöse Gewalt in
       > Indien, Filmzensur und das Monster der sozialen Medien in seinem Film
       > „Afwaah“.
       
 (IMG) Bild: Filmstill aus dem Film „Afwaah“
       
       wochentaz: Herr Mishra, [1][Ihr jüngster Film „Afwaah“] zeigt einen
       hindunationalistischen Jungpolitiker, der soziale Medien missbraucht, um
       Muslime für das Ende der Beziehung zu seiner Verlobten verantwortlich zu
       machen, und so Unruhen auslöst. Wie waren die Reaktionen auf den Film? 
       
       Sudhir Mishra: Die meisten haben sich gefragt, wie es der Film durch die
       Zensur geschafft hat, und wundern sich, dass ich nicht verprügelt wurde.
       Nur wenige hätten das Risiko dieses Films auf sich genommen. Doch scheint
       Indien freier zu sein als gedacht.
       
       Der Film beweist das? 
       
       Zweifellos haben manche Filmproduzenten politische Probleme. Aber Indiens
       Kino zeigt doch ein treffenderes Bild des Landes. Wir haben
       Rechtsextremisten, doch auch die Rechten sind nicht homogen. Der Film zeigt
       einen Politiker, der seiner Partei gefallen will, und dabei geraten Dinge
       außer Kontrolle. Ich zeige eine Gefahr, die in allen Parteien besteht und
       die zum Beispiel religiöse oder auch geschlechtsspezifische Gründe haben
       kann. Frauen leiden unter sozialen Medien wie unter ethnoreligiöser Gewalt
       am meisten. Sind Gefühle stärker als der Verstand, wird es gefährlich und
       kann als Bumerang auf die Urheber zurückfallen wie im Film. Auch rechte
       Parteien leiden, wenn das von ihnen losgelassene Monster auf sie
       zurückschlägt.
       
       Ist in Indien ethnoreligiöse Gewalt alltäglich? 
       
       Sie passiert gelegentlich, ausgelöst von gefährlichen Elementen am rechten
       Rand. Für mich zählen Gerechtigkeit und Gleichheit vor dem Gesetz. Mein
       Film ist kein Realismus, sondern mischt Satire, Thriller, Dokumentarfilm
       und Moralgeschichte. Am Ende stirbt derjenige, der das Gerücht verbreitet
       hat, als Folge des Gerüchts. Auch zeige ich, dass wir in Blasen leben und
       nicht mit Menschen aus anderen Blasen reden. Auch die Hauptperson, zufällig
       ein Muslim, lebt in so einer Blase. Er glaubt, dass sie ihn schützt, doch
       sperrt sie ihn aus. Und der Killer denkt, er dient seinem Herren, wird aber
       von ihm verlassen. Soziale Medien agieren dabei als Monster, das außer
       Kontrolle gerät.
       
       Warum hatten Sie keine Zensurprobleme? 
       
       Ich habe den Zensoren Fakten präsentiert und sie aufgefordert, mir Fehler
       nachzuweisen. Das konnten sie nicht.
       
       Und warum lief der Film in Indien nur in wenigen Kinos? 
       
       Das ist normal, wenn man keinen Film für Indiens breite Massen mit viel
       Tanz und Gesang macht. Auch mögen beim Vertrieb Ängste mitgespielt haben.
       Es gab sehr viele Rezensionen.
       
       Wie macht sich der Film finanziell? 
       
       Der Produzent hat die Kosten wieder reinbekommen, und jetzt läuft der Film
       sehr gut auf Netflix. Ich bin froh, dass ich den Film gemacht habe, dass er
       erscheinen konnte und jetzt gestreamt wird. Es geht ja nicht nur um mich,
       sondern darum, dass junge Filmemacher ermuntert werden, dass auch sie in
       Indien so einen Film machen können.
       
       Die Beschränkungen unter der hindunationalistischen Regierung sind nicht so
       schlimm? 
       
       Indien ist sehr kompliziert, es gibt sehr unterschiedliche Kräfte und viele
       Widersprüche. Ich liebe die Idee von Indien. Es ist wie Europa, bevor
       Europa als Europa geschaffen wurde. Wir haben viele gute wie schlechte
       Dinge. Ich habe keine Hemmungen, schlechte Dinge anzusprechen. Aber ich bin
       kein Sensationalist, kein Pessimist und ich will Indien auch nicht
       verlassen. Wir haben brillante Leute und auch Phasen, deren Ende wir
       herbeisehnen. Manchmal ist das Licht am Ende des Tunnels ein
       entgegenkommender Zug, manchmal das Tageslicht. Ich habe 2004 den einzigen
       Politfilm über den Ausnahmezustand in den 1970er Jahren gemacht. Mir wurde
       vorgeworfen, ich sei gegen die Kongresspartei, dabei war ich gegen die
       Diktatur.
       
       Sie sind Enkel eines früheren Ministerpräsidenten von Madhya Pradesh.
       Erklärt das Ihr Interesse an Politik? 
       
       Mein Großvater mütterlicherseits kämpfte für Indiens Unabhängigkeit, war
       später kurz Ministerpräsident und wandte sich beim Ausnahmezustand in den
       1970er Jahren frustriert von der Kongresspartei ab. Ich sah aus der Nähe,
       wie ekelhaft Macht funktioniert. Mein Vater war Mathematikprofessor und
       brachte mir Kinofilme nahe.
       
       Wie wirkt sich Ihr Psychologiestudium auf Ihre Filme aus? 
       
       Ich verstehe Frauen wohl besser als andere Filmemacher. Auch sehe ich das
       Feminine in mir. Viele teilen die Welt in Schwarz und Weiß. Ich sehe, dass
       auch ein guter Mensch ein schlechter werden kann und umgekehrt. Niemand ist
       ein Held auf Dauer, sondern nur für begrenzte Zeit.
       
       Sie bezeichnen sich als Außenseiter mit guten Beziehungen zu mächtigen
       Leuten. Verhilft das zu mehr künstlerischer Freiheit? 
       
       Ich bin das Produkt der Gnade einiger Leute. Als ich als 22-Jähriger nach
       Bombay kam, gaben mir verschiedene Leute einschließlich solche mit rechten
       Einstellungen eine Chance, ohne meine Herkunft zu kennen. Ich vertraue
       Menschen und weise sie nicht von vornherein zurück.
       
       Aus Protest gegen die hindunationalistische Kulturpolitik haben manche
       Autoren und Künstler ihre Auszeichnungen zurückgegeben. Sie auch? 
       
       Mich haben Freunde auch dazu aufgefordert, darunter derjenige, der mir den
       ersten Job gab. Aber ich lehne das ab. Es ist mangelnder Respekt gegenüber
       der Jury, die mich ausgezeichnet hat. Regierungen und Parteien mögen sich
       ändern, aber ich habe der Organisation vertraut, die mich auszeichnete.
       Durch die Auszeichnung kam ich mit anderen ins Gespräch. Warum sollte ich
       darauf verzichten?
       
       Ist die Zurückgabe einer Auszeichnung kein wichtiges Symbol? 
       
       Das stoppt nur die Auseinandersetzung mit Andersdenkenden. Als Filmemacher
       hören mir Menschen zu, indem sie meine Filme sehen und hinterher vielleicht
       sagen, ich habe einen Punkt getroffen. Als Vollzeitaktivist hören sie mir
       nicht zu, sondern stecken mich in eine Schublade.
       
       Haben antimuslimische Filme wie „The Kashmir Files“ das politische Klima in
       Bollywood verändert? 
       
       Liberale Linke machen den Fehler, manche Probleme anderen politischen
       Kräften zu überlassen, die diese dann übertrieben darstellen wie im
       [2][Film „The Kashmir Files“. Der zeigt die Vertreibung von Hindus durch
       Muslime in Kaschmir]. Ich mag den Film nicht. Aber die Antwort darauf
       können nur andere Filme dazu sein. Die Linke reagiert manchmal zu arrogant
       wie gegenüber einer niederen Kaste. Jemand mit anderen Ansichten wird
       abgelehnt, Ende der Diskussion. So drückt sich die Linke oft um wichtige
       Debatten.
       
       Pusht die hindunationalistische Regierung in Bollywood ihre Ansichten und
       unterdrückt andere? 
       
       Es gab eine solche Phase, die ist aber vorbei. Denn es hat nicht
       funktioniert. Propaganda wird schnell langweilig. Man braucht eine gute
       Geschichte mit verschiedenen Positionen, sodass es einen interessanten
       Konflikt gibt.
       
       Es gibt auch smarte Propaganda, die nicht gleich zu erkennen ist. 
       
       Manchmal hat Propaganda im Film auch funktioniert, aber in 90 Prozent der
       Fälle nicht. Das liegt auch an Indiens Komplexität.
       
       Werden kritische Filmemacher oder Kinos, die deren Filme zeigen, bedroht? 
       
       Ich habe denen beigestanden, aber es passiert doch eher selten. Ich wurde
       noch nie bedroht und habe auch keine Absagen aus politischen Gründen
       bekommen.
       
       Im Frühjahr gab es Boykottaufrufe gegen den Agententhriller „Pathaan“ von
       Superstar Shah Ruk Khan. 
       
       Der Boykott hat nicht funktioniert. Boykottaufrufe gibt es zu vielen
       Filmen, aber sie funktionieren oft nicht. [3][„Pathaan“ wurde ein Superhit
       und hat alle Rekorde gebrochen]. Vielleicht halfen die Boykottaufrufe sogar
       dabei.
       
       Gibt es rote Linien? 
       
       Sie sind sehr weit weg. Bisher brodelt es am Rand der Gesellschaft. Der
       Rechtsstaat muss gestärkt werden, es ist alles sehr komplex und
       widersprüchlich. Das ist der Preis für Demokratie. Ich kann mir zum
       Beispiel nicht vorstellen, in China zu leben. Bei uns gibt es Diskussionen
       über alles.
       
       Gibt es Selbstzensur? 
       
       Unsere schlimmste Zensur sind der Markt und kommerzielle Interessen. Der
       Staat sollte die Kultur nicht komplett dem Kommerz ausliefern.
       
       Derzeit hofieren westliche Regierungen Indien aus Sorge vor China, sprechen
       aber Menschenrechtsprobleme nicht mehr an. Kann Kritik aus dem Westen
       Indiens demokratische Kräfte stärken, ohne gleich antikoloniale Reflexe
       auszulösen? 
       
       Westliche Regierungen sollten die Demokratie im eigenen Land stärken und so
       ihre eigene Glaubwürdigkeit stärken. Wie kann London Indien wegen
       Menschenrechten kritisieren, wenn Tony Blair beim völkerrechtswidrigen
       Krieg im Irak für den Tod vieler Menschen verantwortlich ist?
       Menschenrechte werden oft nicht angesprochen, wenn es wirtschaftliche
       Interessen gibt. Manche Regierungen sollten die Welt besser in Ruhe lassen,
       weil sie sonst noch mehr Probleme verursachen. So sollten westliche Länder
       keine Waffen mehr exportieren.
       
       21 Aug 2023
       
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