# taz.de -- Siemens und elektronische Musik: Tonspuren aus Siemensstadt
       
       > „Studio Stadt“ heißt eine materialreiche Ausstellung im Kunstraum
       > Scharaun. Sie widmet sich den Siemens-Studios für elektronische Musik.
       
 (IMG) Bild: Die Papierarbeiten von Michaela Melián, Installationsansicht im Kunstraum Scharaun
       
       Ein ganzer Stadtteil, der nach einem Industrieunternehmen benannt worden
       ist – das ist [1][die Berliner Siemensstadt]. Am Stadtrand im Nordosten
       gelegen, ist der Ortsteil von Charlottenburg ein Baudenkmal, das als
       Beispiel des Neuen Bauens mit Gebäuden von Hans Scharoun, Walter Gropius,
       Otto Bartning und anderen auf der Unesco-Liste des Weltkulturerbes steht.
       Heute ist Siemensstadt einerseits ein Zeugnis vom einstigen sozialen
       Engagement deutscher Industrieller, andererseits ein Relikt der
       Deindustrialisierung: Siemens wanderte während des Kalten Krieges nach
       München ab und hinterließ leere Werkshallen und nutzlos gewordene
       Infrastruktur wie die Siemensbahn.
       
       [2][Die Ausstellung „Studio Stadt“ im Kunstraum Scharaun], der sich in
       einer Wohnung in einem Apartmentgebäude von Hans Scharoun von 1930
       befindet, bringt nun die beiden Siemens-Standorte im Zeichen der Musik
       zusammen: Aufhänger ist das Siemens-Studio für elektronische Musik, welches
       das Unternehmen von 1960 bis 1966 in München betrieb. Leiter war der
       Komponist Josef Anton Riedl, der für Siemens einen Imagefilm mit dem Titel
       „Impuls der Zeit“ (1959) mit elektronischen Klängen vertonte, für die
       Siemens-Ingenieure die Instrumente gebaut hatten, mit denen wiederum das
       Studio bestückt wurde.
       
       Der Film ist als Ausgangspunkt der Ausstellung, die von Florian Wüst, Jaro
       Straub, Tim Tetzner und Ralf Homann kuratiert wurde, in der Küche der
       Galeriewohnung zu sehen. Das Studio, das mit Lochkarten gesteuert werden
       konnte, wurde einerseits für kommerzielle Auftragsproduktion für Fernsehen
       und Theater genutzt, andererseits arbeiteten hier Avantgarde-Komponisten
       wie John Cage, David Tudor, Karlheinz Stockhausen, György Ligeti und Dieter
       Schnebel, unter anderem mit dem ersten Vocoder, der für die musikalische
       Verwendung zur Verfügung stand.
       
       Antiquiertes Equipment 
       
       Heute steht das Studio, weitgehend einsatzbereit, im Deutschen Museum in
       München, wo unter anderem [3][die Künstlerin und Musikerin Michaela Melián]
       mit dem antiquierten, analogen Equipment gearbeitet hat. Zu sehen sind in
       der Ausstellung zwei Papierarbeiten, die für die Videoinstallation
       „Speicher“ entstanden sind, für die Melián das Studio wieder zum Leben
       erweckt hatte.
       
       Im drastischen Gegensatz zu den filigranen Arbeiten stehen die großen
       Fotografien der klobigen elektronischen Instrumente im Physiksaal-Look von
       [4][Johanna Diehl] an der gegenüberliegenden Wand, mit denen in den 1950er
       und 60er Jahre die erste Generation elektronischer KomponistInnen
       arbeitete. Eine Art moderne Fortführung solcher Produktionstechniken und
       der mit ihnen produzierten Klänge ist die Soundinstallation „Flächenfinder
       spektral01“ von Boris Hegenbart, bei der ein Kontaktmikrophon am Fenster
       Geräusche aus dem Umfeld der Galerie aufzeichnet und mit Verzögerung
       verfremdet im Innenraum wiedergibt, während sich das Fensterglas verdunkelt
       und die Vegetation vor dem Fenster plötzlich irreal und künstlich
       erscheint.
       
       Mit der Geschichte eines anderen Siemens-Standortes in Berlin beschäftigt
       sich der Studienraum „Helle Fabrik, Dunkelkammer Produktion“ im
       Schlafzimmer der Wohnung, für die Jochen Becker Material zum
       Siemens-Plania-Werk in Lichtenberg zusammengetragen hat, auf dessen Gelände
       sich heute das [5][Dong Xuan Center] befindet.
       
       Die Industrie mag zu profitableren und besser vernetzten Orten
       weitergezogen und Industriebrachen, Fabrikruinen und Werkswohnungen ohne
       Arbeiter als Mieter hinterlassen haben, aber so entstehen in den
       deindustrialisierten Zonen auch neue Freiräume, die von vietnamesischen
       HändlerInnen oder von KünstlerInnen auf der Suche nach günstigen
       Ausstellungsräumen, die es in der Innenstadt nicht mehr gibt, genutzt
       werden können. Wer die materialreiche Ausstellung, für die man etwas Zeit
       mitbringen sollte, gesehen hat, der wird danach auch die heute etwas
       angegammelte Großsiedlung Siemensstadt mit anderen Augen sehen.
       
       10 Jul 2023
       
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